2016 hätte ein entscheidendes Jahr werden können, um die immer weiter ausufernde Macht und Übergriffigkeit der Europäischen Kommission und der EU-Gesetze zurückzudrängen und zu zeigen, dass eine „immer größere, immer engere EU“ kein Naturgesetz ist.
In jenem Jahr, am 23. Juni, entschieden sich gegen alle Erwartungen und Umfragen, und vor allem gegen den ausdrücklichen Willen der Regierung, der Medien und der Wirtschaftsverbände und vieler anderer einflussreicher Instanzen und Personen, 52 Prozent der britischen Wähler für den Brexit, also Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union (EU), der das Land seit 1973 angehörte, als es noch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) war. Das Ergebnis sendete Schockwellen durch die Machtelite. Der britische Premierminister David Cameron, der sich mit dem Referendum arg verkalkuliert hatte, trat kurz darauf zurück. Seine Nachfolgerin wurde Theresa May, ihrerseits keine Brexit-Anhängerin, aber immerhin gewillt, den Bürgerwillen zu akzeptieren.
In der EU versuchte man das Ergebnis zu ignorieren, schließlich war man gewohnt, den Bürgerwillen nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn er nicht war wie vorgesehen. So wurde es bereits bei anderen Referenden getan, wo Maastricht- oder Lissabon-Vertrag von den Bürgern bestimmter Länder abgelehnt wurden, nur um dann das Ergebnis „rückgängig“ zu machen durch Hinzufügung einiger Klauseln und weiterzumachen wie bisher. Aber Großbritannien machte ernst: May wurde von den „Brexiteers“ in ihren eigenen Reihen, wie Boris Johnson und Michael Gove, gedrückt, nun Farbe zu bekennen: Im März 2017 reichte Großbritannien sein Austrittsgesuch an die EU-Kommission ein, mit einer Verhandlungszeit von zwei Jahren, also bis März 2019, um die ganzen Details des Austritts zu verhandeln.
Allerdings konnten die EU-Unterhändler mit May Katz und Maus spielen, es gab immer wieder neue Forderungen und Hürden und Verzögerungen der Verhandlungen. Verhandlungsführer der EU war übrigens Michel Barnier, der sich zurzeit als französischer Premierminister ohne Mehrheit versucht. May verhedderte sich auch intern in der britischen Politik: Die von ihr ausgerufenen Neuwahlen führten nicht zum Befreiungsschlag, sondern schwächten ihre Partei, die sich nur mit einer regionalen Partei als Koalitionspartner an der Macht halten konnte, und damit auch an Gewicht gegenüber Brüssel verlor. Das Austrittsdatum März 2019 kam und ging und noch immer war man dem Brexit nicht nähergekommen. Es gab weitere, sinnlose Verschiebungen, und Großbritannien musste sogar, da es offiziell immer noch Mitglied der EU war, an den Europawahlen vom Mai 2019 teilnehmen. Der große Gewinner der Wahlen war die Brexitpartei von Nigel Farage, die ins EU-Parlament einzog, nur um diesem ihre Verachtung zu zeigen und es so schnell wie möglich wieder verlassen zu können.
Schließlich gab die glücklose Theresa May im Juli 2019 entnervt auf. Boris Johnson, schon während der „Leave“-Kampagne einer der wenigen prominenten Brexit-Unterstützer, war nun der Mann der Stunde und wurde mit überwältigender Mehrheit von den Delegierten der Konservativen Partei zu Mays Nachfolger als Premierminister und Chef der Konservativen Partei gewählt. Als Johnson im Dezember 2019 die vorgezogenen britischen Parlamentswahlen mit dem Schlagspruch „Get Brexit done“ (Bringt den Brexit zum Abschluss) haushoch gewann, lief alles bestens für ihn und die Brexit-Anhänger. Aber auch jetzt versuchte die EU, wo es ging, Sand ins Getriebe zu streuen und den Brexit zu hintertreiben. Dafür wurde Irland benutzt und die „harte Grenze“ zwischen dem britischen Nord-Irland und der zur EU gehörigen Republik Irland zum Riesenproblem aufgeblasen. Sogar ein neuer irischer Bürgerkrieg wurde als Schreckgespenst heraufbeschworen. Dabei lief an einer anderen „harten Grenze“ zwischen der EU und dem Nicht-EU-Land Schweiz alles reibungslos und konnten die Grenzlandbewohner ungehindert hin- und herreisen. Letztlich konnte mit juristischen Tricks die Nord-Irland-Grenzfrage gelöst werden, und mit Verspätung von fast einem Jahr konnte Johnson Ende Januar 2020 offiziell die EU verlassen.
Eine Gegen-EU als Chance
Nun boten sich die Möglichkeiten, endlich zu zeigen, dass ein souveräner Staat auch ohne das Korsett der EU handeln und prosperieren und sich dabei die ganze Bürokratie, die Kosten und die oft sinnlosen Vorschriften der EU sparen kann. Nun hatte Britannien Beinfreiheit bei Steuern, Gesetzen und Tarifen und konnte das Prinzip des freien Handels wiederbeleben. Der Handel mit der EU nahm erwartungsgemäß ab, aber Johnson bemühte sich um zahlreiche Freihandelsabkommen mit wichtigen Handelspartnern: Als erstes wurde mit Japan ein solches im Oktober 2020 geschlossen. Trotz Brexit blieb die EU der wichtigste Handelspartner Britanniens, und nach zähen Verhandlungen direkt nach dem Ausscheren aus der EU konnte eines geschlossen werden, welches ab Januar 2021 gültig wurde. Auch mit Australien wurde im Juni 2021 ein Abkommen geschlossen und mit Norwegen, Island und Liechtenstein (letzteres eher zu vernachlässigen, aber Teil der Rest-EFTA) im selben Monat eines angekündigt. Viele kleinere Länder folgten, die allerdings wenig zum britischen Handel beitrugen. Mit den USA, damals noch von Johnson-Freund Donald Trump regiert, sollte unbedingt eines geschlossen werden, aber dazu kam es dann nicht wegen des Machtwechsels. Das vorläufig letzte Übereinkommen wurde mit der Schweiz Ende 2023 unterzeichnet, allerdings müssen noch einige Fragen geklärt werden. Die Verhandlungen zum Handelsabkommen mit Kanada wurden im Januar 2024 ergebnislos beendet. Mit Indien wird seit 2022 verhandelt, bisher ohne Durchbruch.
Britannien hätte sogar noch weiter gehen können und eine Alternative zur verkrusteten und zunehmend von den ärmeren und verschuldeten südeuropäischen Ländern nach unten gezogenen EU gründen können. Es hätte beispielsweise die schon fast vergessene EFTA (European Free Trade Association, Europäische Freihandelsassoziation) mit kleinen, aber wirtschaftlich dynamischen und fleißigen Nicht-EU-Ländern wie der Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein wiederbeleben können. Mit dem wirtschaftlich starken Großbritannien als Mittelpunkt hätte dies auch anderen EU-Ländern, die in der EU gegängelt werden, eine Alternative geboten. Es gibt einige EU-Länder, die sich eine losere EU wünschen, die sich im Wesentlichen auf Handel beschränkt, sich aus gesellschaftspolitischen Fragen heraushält und den Ländern ihre Eigenarten lässt. Ein EU-Austritt und EFTA-Eintritt solcher Länder hätte eine Balance hergestellt und es nicht wie jetzt, praktisch unmöglich gemacht, die EU zu verlassen, weil gerade kleine Länder dann ziemlich isoliert wären und wieder da stünden, wo zum Beispiel Serbien oder Albanien heute stehen. Auch eine Reform der EU scheint aussichtslos. Zu stark sind die gefestigten Strukturen und Denkweisen. Nicht mal das Ergebnis der EU-Wahl mit dem Triumph der Souveränisten hat zu einer Kursänderung geführt.
Man muss Johnson zugutehalten, dass er sich redlich bemühte, etwas aus dem Brexit zu machen. Ob es zum Erfolg geführt hätte oder nicht, kann nur spekuliert werden. Tatsache ist, dass Corona kurz nach dem vollzogenen Brexit der große „game changer“ wurde und die ganze Welt nun nur noch auf ein Thema fixiert war und den Handel sowie das politische Handeln jenseits von Corona-Maßnahmen zum Erliegen brachte. Corona brachte schließlich sowohl Trump (Ende 2020) als auch Johnson (im September 2022) zu Fall. Trump, weil er nicht wie Biden zum ständig Maske tragenden Corona-Hardliner wurde, Johnson, weil er durch unsensibles Auftreten und vertuschen einer geheimen Corona-Party während des Lockdowns, auch wenn es in Rückschau eher eine Lapalie war, zurücktreten musste.
Nach Johnsons Fall folgte erst die Kurzzeit-Premierministerin Lizz Truss, die die richtigen Ansätze, aber nicht Johnsons Beliebtheit und Rückhalt in der Partei hatte, und dann der unbeliebte Strippenzieher Rishi Sunak. Beide mussten alle Energie und Zeit auf das eigene politische Überleben und das ihrer zunehmend unbeliebter werdenden Partei aufwenden und konnten sich kaum um die Ausgestaltung des Brexits kümmern. Nun, mit der Arbeiterpartei, die gegen den Brexit war, wieder an der Macht, ist zu sehen, dass man sich Brüssel wieder annähert. Zwar wird man den Brexit nicht rückgängig, aber durch alle möglichen Zusatzverträge, die Britannien wieder stärker an die EU binden, wirtschaftlich sowohl als politisch, wirkungslos machen.
Sebastian Biehl, Jahrgang 1974, arbeitet als Nachrichtenredakteur für die Achse des Guten und lebt, nach vielen Jahren im Ausland, seit 2019 mit seiner Familie in Berlin.