Dirk Maxeiner / 25.03.2016 / 06:29 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 1 / Seite ausdrucken

Die Verpflichtung der Zeit für profane Zwecke

„Die Zeit ist relativ“ beschloss Albert Einstein und packte sie in das Gebäude seiner Relativitätstheorie. Dort steckt sie noch heute und bildet mit dem Raum eine untrennbare Einheit - die Raumzeit. Beide, Zeit und Raum, können sich nach Einstein strecken oder stauchen.

Für das Fassungsvermögen eines mittleren Abiturienten, der höllisch aufpassen muss, seine Uhren korrekt auf Sommerzeit umzustellen, ist das ziemlich kompliziert. Doch die Tatsache, dass kaum einer die Zeit so richtig verstanden hat, hindert uns natürlich nicht daran, sie zweimal jährlich neu zu justieren – wie unsere Zeitgenossen in mehreren Dutzend europäischen Ländern. Es ist im Grunde nur der vorläufig letzte Akt der Verpflichtung der Zeit für profane Zwecke.

Die Uhr bildet das instrumentelle Rückrat der Gesellschaft und teilt einem jeden seine Stunden zu. Kein Wunder, dass man diesen Umstand immer mal wieder abschaffen wollte. Die revoltierenden Arbeiter im England des 19. Jahrhunderts zerschlugen erst die Uhren über den Fabriktoren, ehe sie sich auf die Maschinen stürzten. In Frankreich hatte es schon vorher kleine Reibereien gegeben: Während der Revolution machten die Franzosen nicht nur ihre Aristokratie um einen Kopf, sondern auch den Tag um zwei Stunden kürzer. Zwischen 1793 und 1795 lebten sie nach einem befremdlichen Zehnstundentag.

Unsere modernen Zeitsprünge erschienen anfangs ebenfalls befremdlich, erfolgten aber immerhin gewaltfrei: Wenn wir aufwachen, ist schon alles erledigt. Bloß kein Aufsehen. Einige Nachtzüge können zu Beginn der Sommerzeit die verlorene Stunde nicht aufholen; sie kommen an diesem einen Sonntagmorgen entsprechend später an, und anschließend ist alles wieder im Lot. Wenn in der Nacht vom 29. Zum 30. Oktober die verschwundene Stunde wieder auftaucht und die Uhrzeiger 60 Minuten lang angehalten werden, stehen auch die Züge unterwegs so lange stille. Und die Lufthansa tut ebenfalls so, als sei die Zeit verflogen.

Eine ganze Nacht-Arbeiterstunde weg. Wird sie trotzdem bezahlt?

Da blühen auch allerhand Träume. Zum Beispiel bei Nachtschichtlern, Polizisten und Krankenschwestern: Wird zur Zeitumstellung die Stechuhr von Raserei erfasst, ist eine ganze Arbeitsstunde einfach schwupp und weg. Wird sie trotzdem bezahlt? Wenn ja, lacht das Herz des Arbeitnehmers. Bedauerlicherweise bekommt sein Chef die Stunde im Herbst zurück, ohne zu bezahlen. Es handelt sich also lediglich um einen unverzinsten Zeit-Kredit.

Man stelle sich jetzt doch bitte vor, so als Frühausgeschlafener: Statt in der Nacht auf Sonntag würde die Zeit an einem ganz normalen Werktag, sagen wir 15 Uhr umgestellt - das wäre ein fantastischer ökonomischer Fortschritt. Die Volkswirtschaft könnte sich über das freuen, was in dieser Stunde alles nicht passiert: Keine Arbeitsunfälle, keine Krankmeldung, keine Privattelefonate, kein heimliches Internet-Surfen. Selbst die Versicherungen müssten begeistert sein: keine Autounfälle, keine Rohrbrüche, keine Erdbeben. Und das alles am hellichten Tage. Aber was würde im Herbst passieren, wenn die Zeit wieder dazu kommt? Ganz einfach: Dann nehmen alle ein Stündchen frei. Diese Art von Ökonomie ist auf der Höhe einer Zeit, in der die EZB darüber nachdenkt, vom Himmel Helikoptergeld regnen zu lassen.

Doch da könnte ja jeder kommen. Die Zeit ist doch nicht zum Spaß da. Als der Bundestag im Jahr 1978 das sogenannte Zeitgesetz verabschiedete, war er bereits um Jahre im Verzug. Andere europäische Länder hatten nach dem ersten Ölschock schon 1972 auf Sommerzeit umgeschaltet, um an den verlängerten lichten Abenden Energie zu sparen, doch die DDR hielt sich in sozialistischer Solidarität an das von Moskau vorgegebene Zeitmaß, und die Bundesrepublik wollte die Teilung Deutschlands nicht auch noch auf der Uhr.

Die Energieeinsparungen konnten nie gefunden werden

So griff erst 1980 der Paragraph drei des Zeitgesetzes: „Federführend wird das Bundesinnenministerium ermächtigt, zur besseren Ausnutzung der Tageshelligkeit und der Angleichung der Zeitzählung an benachbarte Staaten die mitteleuropäische Sommerzeit einführen“. Die anvisierte Energieeinsparung wird bis heute übrigen eifrig gesucht, konnte aber nie gefunden werden. Das Büro für Technologiefolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag hat erst kürzlich wieder mitgeteilt, die Energieeinsparungen seien „allenfalls minimal beziehungsweise zu vernachlässigen.“

Bei Tageslicht betrachtet hinkt die Sommerzeit inzwischen sowieso der Entwicklung hinterher. Die Helligkeit wird inzwischen ganz anders ausgenutzt, als sich das der Bundestag 1978 gedacht hat. In Konstruktionsbüros und Softwarehäusern wird die Arbeit einfach mit der Sonne um den Globus geschickt. Die Nachtschicht manch deutschen Unternehmens arbeitet längst am Tag: In Bangalore, Sydney oder Los Angeles. Tag und Nacht verlieren an Bedeutung, weil entlang der Datenautobahn ständig irgendwo die Sonne aufgeht.

Nur die Transsibirische Eisenbahn und seit Mao die Chinesen („Ein Land, eine Uhrzeit“) legen Wert auf einen einheitlichen Stand der Zeiger. Für die Transsib über sechs Zeitzonen wie für das gesamte Bahnnetz der ehemaligen Sowjetunion ist die Moskauer Zeit amtlich. Und obwohl China sich über vier Zeitzonen streckt, zeigen die Uhren zwischen Shanghai und Sinkiang die gleiche Zeit an – mit bisweilen kuriosen Folgen. Wenn um sieben Uhr morgens die Postbediensteten in Peking hellwach die Schalter öffnen, müssen es ihre Kollegen in Sinkiang, 4000 Kilometer westlich und dort mitten in der Nacht, auch tun, selbst wenn sie mangels Publikumsverkehr nur vor sich hindösen können.

Vier von Fünf Frauen wollen keine Zeitumstellung

Kein Wunder, dass die Deutschen bis vor einigen Jahren noch mehrheitlich an ihrem vertrauten Stundensprung hingen. Doch inzwischen schmilzt der Zuspruch wie die Wählerschaft der Volksparteien. Nach einer Forsa-Befragung, die jedes Jahr im Auftrag der Krankenkasse DAK-Gesundheit durchgeführt wird, halten inzwischen drei Viertel der Bevölkerung - 74 Prozent - die Zeitumstellung für überflüssig. Frauen sind mit 80 Prozent sogar noch ablehnender als Männer.

Traditionell waren Uhr und Stundenschlag Demonstration einer zentral organisierten, unabänderlich funktionierenden, rationalen Ordnung. Doch das Vertrauen in diese Rationalität bröckelt inzwischen auch bei der staatlich verordneten Sommerzeit. Die Franzosen waren da übrigens schon immer anderer Meinung: Schon zur Jahrtausendwende wollten zwei Drittel unserer westlichen Nachbarn die Sommerzeit rückgängig machen: Abends sei es zu lange hell und laut, was den Schlaf der Kinder und Alten beeinträchtige. In Sachen Zeit sind die Gallier ohnehin rebellisch, so konnten sie sich erst 1911 zur Einführung der Mitteleuropäischen Zeit (MEZ) entschließen, die sich auf die Greenwich Meantime bezieht – selbstverständlich ohne die Nennung von Greenwich.

Das Hadern mit der Sommerzeit mag auch daran liegen, dass Frankreich stärker vom bäuerlichen Leben geprägt ist. Dem Menschen möge man eine Stunde stehlen oder schenken sagen viele Franzosen, eine Kuh sei aber nicht so blöd: Gemolken werden wolle sie immer um die gleiche Zeit, sonst gäbe es Rabatz im Stall. Millionen französischer Kühe irren nicht. Tiere haben eine bemerkenswert genaue innere Uhr. Auch der Hahn, dieser krakeelende Biowecker schert sich wenig um die Zeitverschiebung. Lange glaubte man, er vertraue auf die Sonne. Japanische Wissenschaftler haben die Tiere deshalb versuchsweise einem konstanten Dämmerlicht ausgesetzt - so dass sie gar nicht mehr die Tageszeit erkennen konnten. Und trotzdem haben sie zuverlässig frühmorgens gekräht. Sommerzeit hin, Sommerzeit her.

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Erhard Schnürer / 25.03.2016

Ein Hinweis: Nach meiner Kenntnis wurde 1911 in Frankreich die WEZ eingeführt. Die MEZ hat 1940 die Wehrmacht mitgebracht. Ebenso nach Holland und Belgien.  Dabei ist es dann geblieben. Im Übrigen gefällt mir die Umstellung nach wie vor. Mit einem Schlag ist der Sommer da!  Viele Grüße Erhard Schnürer p s Artikel von Ihnen lese ich mit großem Interesse seit “hobby” Zeiten

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