Annette Heinisch / 19.08.2024 / 06:15 / Foto: Carl Larsson / 90 / Seite ausdrucken

Die verhängnisvolle Politik des Märchenerzählens

Das Hauptproblem der gegenwärtigen Politik ist die Illusion, alles haben zu können ohne dafür einen Preis zahlen zu müssen. Dies muss man den Bürgern ehrlich sagen. Stattdessen erzählt man ihnen täglich neue Märchen. 

Geht es Ihnen auch so, dass Sie Menschen für besonders klug halten, die Ihre Ansichten teilen? Mir jedenfalls geht es so, deshalb finde ich den ehemaligen britischen Spitzenpolitiker Rory Stewart hochintelligent.

Kürzlich besuchte Stewart die Podcaster Konstantin Kisin und Francis Foster in ihrem höchst sehenswerten Format „Triggernometry“. In dem Gespräch war Kernaussage Stewarts “We’re living in a world of fairy tales” (Wir leben in einer Welt der Märchen). Er erläuterte, dass die Politik in Großbritannien unter strukturellen Problemen leide. Nach seiner Ansicht würde sich deshalb durch Wahlen nicht viel ändern und schon gar nichts bessern, eben weil strukturelle Probleme jeder wirklichen Änderung im Wege stünden – eine Situation, die auch in anderen Ländern Europas ähnlich ist.

Als Beispiel zeigte er auf, dass die Wohnungsnot in Großbritannien nicht gelindert werden könne, weil zu viele und dabei divergierende, sich teils gegenseitig ausschließende Ziele verfolgt würden. Dieses veranschaulichte er an weiteren Beispielen. Selbst die intelligentesten der Intelligenten, die mit der Lösung von Problemen befasst worden seien, hätten unter den herrschenden Bedingungen versagt. Tatsächlich klangen seine Beispiele, als seien sie Dietrich Dörners Buch „Logik des Misslingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen” entnommen: Methoden und Herangehensweisen, die mit Sicherheit zum Scheitern führen.

Das Hauptproblem ist aus seiner Sicht die Illusion, alles haben zu können, ohne dafür einen Preis zahlen zu müssen. Dies sei fern der Realität, funktioniere nicht. Man könne zum Beispiel den work-life-balance-Ansatz verfolgen, dafür habe er durchaus Verständnis. Nur Höchstleistungen seien dann kaum möglich. Es gehe nicht alles und nicht zugleich, alles habe seinen Preis. Dieses müsse man den Bürgern ehrlich sagen und keine Märchen erzählen. 

Kommt dem Bundesbürger bekannt vor, oder? Wir wissen ja, die Energiewende kostet angeblich nur eine Kugel Eis, natürlich floriert die Wirtschaft mit grüner Politik, der Sozialstaat ist bezahlbar und die Migration eine Bereicherung – die Liste der Märchen ließe sich leicht fortsetzen.

Das Versagen, das Versagen anzuerkennen

In seinem kürzlich erschienenen Buch „Politics On the Edge“ beschreibt Stewart ebenfalls Phänomene, die identisch mit denen in der deutschen Politik sind: 

„Beim Regieren ging es vielleicht um kritisches Denken, beim neuen Politikstil … jedoch nicht. Wenn kritisches Denken Selbstbewusstsein erforderte, verlangte diese Politik absolutes Vertrauen. Anstelle der Realität bot es eine grenzenlose Hoffnung; statt Genauigkeit Unbestimmtheit. Während kritisches Denken Skepsis, Aufgeschlossenheit und ein Gespür für Komplexität erforderte, verlangte die neue Politik Loyalität, Parteilichkeit und Slogans: nicht Wahrheit und Vernunft, sondern Macht und Manipulation.“

Zur Verdeutlichung eine kleine Auswahl seiner Beobachtungen:

  • Er schildert die Demokratie als ausgehöhlt, bezeichnet sie als gewählte Diktatur. Das Parlament sei kein Wachhund, vielmehr vergleicht er es mit einem ältlichen Labrador, der vor dem wärmenden Feuer eingeschlafen sei. Freie Gewissensentscheidungen der Abgeordneten würden nur in vereinzelten Ausnahmefällen vom Fraktionsvorsitzenden (im UK den Whips) zugelassen. Es würde strikte Loyalität gegenüber der Partei verlangt.
  • Die neue Politik, verstärkt beim Brexit, agiere mit Lügen und einfacher Sprache. Er wirft ihr Unernsthaftigkeit des Denkens vor, welches die Konsequenzen des Handelns nicht hinreichend bedenke.
  • Obgleich die Politik die schwierigste Profession sei, sei die Kandidatenauswahl völlig unzureichend; wer gut darin sei, Werbeprospekte zu verteilen und Parteiarbeit zu machen, hätte die besten Chancen. Stewart zeigt in einem Bereich seiner früheren Tätigkeit als Minister für Gefängnisse auf, wie man Charakter und Führungsstärke erlernen und trainieren kann.
  • Unter verschiedenen Aspekten beleuchtet er das Unvermögen der Politik, wirklich zielführend zu handeln. Als Gründe nennt er z.B. „erlernte Hilflosigkeit“,  blinden Aktionismus („an absence, which pretended to be a presence“) sowie den Drang, große abstrakte Programme zu entwerfen statt grundlegende Verbesserungen umzusetzen; er fordert praktische Veränderungen statt großer, leerer Versprechen, die an der Realität scheitern.

Besonders bemerkenswert ist folgender Satz: „Das Auffälligste war nicht das Versagen, sondern das Versagen, unser Versagen anzuerkennen.“ („Most striking was not the failure but the failure to acknowledge our failure.”) 

Diese Aussage bezog sich auf das Vorgehen der Briten im Irak, aber sie ist m.E. anwendbar auf die gesamte Politik: Das Versagen, die Märchenpolitik als Versagen anzuerkennen, und zwar sowohl in Großbritannien als auch bei uns. 

Das ist ein entscheidender Punkt: Alle Feststellungen treffen auf Deutschland ebenso zu, obgleich unser demokratisches System deutlich anders ausgestaltet ist. Ob es das Wahlrecht betrifft (Mehrheits- gegenüber Verhältniswahlrecht), ob die staatliche Verfasstheit als Zentralstaat im Gegensatz zu unserem föderalen Aufbau, ob es ein Staat mit oder ohne geschriebene Verfassung ist: Alles das sowie die zahlreichen, sonstigen Unterschiede sind anscheinend irrelevant. Im Kern sind die (Fehl-)Entwicklungen identisch. Wer also die politischen Verhältnisse verbessern möchte, sollte nicht an diesen systemischen Faktoren ansetzen, denn diese scheiden als Ursache aus.

Das ist doch immerhin ein wesentlicher Erkenntnisgewinn. 

Wege aus der Knechtschaft

Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt, fasste es so schön in einem Satz zusammen: “Der Westen hat sich im Kulturkampf selbst zerlegt – doch die Lernkurve der alten Eliten bleibt flach.” 

Sehr treffend hat Thilo Sarrazin festgestellt: “Für die meisten Menschen sind Sicherheit für sich und die eigene Familie sowie materielles Wohlergehen weitaus wichtiger als Meinungsfreiheit und Demokratie. Deshalb befindet sich das westliche Modell in einem Systemwettbewerb mit autoritären Strukturen. Diejenigen, die die Klügsten und Besten an die Schalthebel der Macht bringen, werden langfristig auch im Systemwettbewerb überlegen sein.”

Die Auswahl der Klügsten und Besten ist auch nach den Darstellungen von Rory Stewart ein Kernproblem, d.h. dies ist eine entscheidende Weichenstellung.

Also muss man versuchen, die Klügsten und Besten an die Schalthebel der Macht zu bekommen, wobei noch festgestellt werden müsste, wer in diesem Sinne “die Besten” sind. Die, die am lautesten schreien, sich am besten verkaufen können, sicherlich nicht. Wer aber dann? Welche Voraussetzungen an Charakter und Führungsstärke sind notwendig, wie kann man sie trainieren? Ein Austausch mit Rory Stewart könnte hilfreich sein. Alles das sind praktische Fragen, die man beantworten und dann entsprechend umsetzen kann.

Wenn die westlichen Systeme derart ideologisch überladen sind, dass selbst die Begabtesten nicht mehr mit ihnen umgehen können, wie Rory Stewart ausführt, dann muss man sie vereinfachen und zwar dringend. 

Die westlichen Systeme sind ideologisch überladen, weil die Parteien sich auf dem politischen Markt mit Werbeversprechen durchsetzen müssen und daher schlicht Märchen erzählen. Sie verkaufen den Bürgern den Himmel auf Erden, obgleich – und das kann man auch bei Dietrich Dörner nachlesen – der Versuch, diesen zu schaffen, unweigerlich in der Hölle endet. 

Was erkennbar langfristig nicht funktioniert, ist also das Märchenerzählen. Die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher hat im Jahr 2000 eine Rede über Freiheit gehalten, in der sie ausführte: „Beginnend mit der Französischen Revolution und dann stark gefördert durch die bolschewistische Revolution wurde die Neuzeit von „-ismen“, also von Ideologien, faktisch säkularen Religionen, geplagt. Die meisten von ihnen waren unerträglich schlecht.“

Diese säkularen Religionen haben weit über 100 Millionen Tote auf dem Gewissen. Die Toten sind die Folgen dieser Märchen, die man den Menschen erzählte. Sie sind so fatal, weil das Gegengewicht fehlt: Es gibt gerade keine Trennung von Kirche und Staat, der Staat ist die Kirche. Damit ist es per definitionem ein totalitäres System, welches das Gegenteil von dem ist, was den Westen groß machte.  

Was man mit diesen säkularen Religionen nicht erreicht, ist exakt das, was man verspricht: Wohlstand und Sicherheit. Diese gibt es nur in freien Gesellschaften, in denen sich der Staat auf seine Kernaufgaben beschränkt und damit seine Macht begrenzt ist. Der argentinische Staatspräsident Javier Milei zeigt sich aus gutem Grund mit der Kettensäge, denn ohne dass die Staatsaufgaben so zurechtgestutzt werden, dass sie zumindest für Intelligente handhabbar werden, wird man nicht aus der Misere kommen. 

Das ist hart und mutet den Bürgern vieles zu. Es ist fernab von Märchen und Werbeversprechen. Aber der Weg, der nachweislich zielführend ist, ist selten der leichte.

 

Annette Heinisch, Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg, Schwerpunkt: Internationales Bank- und Währungsrecht und Finanzverfassungsrecht. Seit 1991 als Rechtsanwältin sowie als Beraterin von Entscheidungsträgern vornehmlich im Bereich der KMU tätig.

Foto: Carl Larsson - Bukowskis, Public Domain, via Wikimedia Commons

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Leserpost

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K.Schönfeld / 19.08.2024

So richtig angefangen mit den Märchen hat das doch mit dem Märchen vom Klima. Mit dem Märchen, man kann mit Kohlendioxid heizen. Vorher hatte die Erde Klimazonen, weil das bei einer Kugel, die nur von einer Seite angestrahlt wird, nun mal so ist. Statt über die Temperaturen nachzudenken, bei denen Pinguine, Kamele und Eisbären leben, faselt die ‘intellektuelle Elite’ von Gleichgewichtstemperatur 255K, 288K oder in 50 Jahren von 290K. Statt über die Tatsache nachzudenken, was es bedeutet, Kohlendioxid absorbiert Strahlung ( es ist die Strahlung, die die Energie liefert, nicht Kohlendioxid), faselt diese selbsternannte Elite über Kohlendioxid als Killergas, klimaneutrale E-Autos und kostet nicht mehr wie eine Kugel Eis. Solange auch die Kritiker diesen Blödsinn mitmachen, wirf sich nichts ändern. Ich habe auch auf der Achse noch nie,wirklich noch nie von einem Autor gelesen, dass es Klimazonen gibt, statt Klima, noch nie gelesen,  daß die Strahlung die Athmosphäre erwärmt, wenn Kohlendioxid diese absorbiert, obwohl kein Zweifel darüber herrscht, daß die Strahlung der Sonne die Erde wärmt und nicht die Oberfläche, die die Strahlung absorbiert. Solange das so ist und bleibt, werden solche Artikel auch nichts nützen, solange sind auch die Autoren hier nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

Thomas Szabó / 19.08.2024

@ Thomin Weller: Richtig! Sie haben mir das Gespräch mit Hannah Arend schon vor Wochen empfohlen. Ich habe es damals gespeichert. Prof. Kovács empfahl es mir vorgestern. Ich suchte auf YouTube und merkte, dass ich es bereits gespeichert habe. Danke nochmal! Es ist ein sehr schönes Gespräch unter zivilisierten Kulturmenschen. Sowas gibt es im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht mehr. ♦ Ich sah kürzlich ein Video mit Jan Böhmermann. Er bezeichnete andere Menschen wie selbstverständlich als Nazis & Scheiße. Er erklärte nicht warum. Daraufhin erstellte ich eine allgemeingültige Definition für das Stürmer-Niveau. Laut meiner Definition begeben sich ÖRR & MSM immer öfter auf das Stürmer-Niveau. Stürmer-Niveau kurz erklärt: Die Nazi-Zeitschrift Stürmer unterstellte den Juden die aller schlimmsten Verbrechen. Heute gilt es als das aller schlimmste Verbrechen ein Nazi zu sein. Wenn man wem wahrheitswidrig, in verleumderischer Absicht das aller schlimmste Verbrechen unterstellt, dann begibt man sich auf das NS-Stürmer-Niveau (NS-S-N). ♦ Selbstverständlich darf man Nazis als Nazis bezeichnen. Aber dann muss man ganz genau begründen, warum diese Menschen Nazis sind, worin die Parallelen zu den Nazis liegen. Sonst fällt der Nazi-Vorwurf auf einen selbst zurück.

Reinhold Bressner / 19.08.2024

Erstmal haben nicht Ideologien in vergangenen Jahrhundert hunderte Millionen Menschen getötet, sondern Staaten. Politiker, selbst Hitler und Stalin, können fabulieren wie sie wollen, ohne jemanden, der ihren Willen mit Gewalt durchsetzt, sind ihre Gesetzesentwürfe nur Briefe an den Weihnachtsmann. Und diese Durchsetzung ideologischen Bullshits ist, was Staaten tun. Vielleicht sollte man daher anerkennen, dass Staaten an sich mörderische Krebsgeschwüre sind, und nicht durch Ideologien - wozu auch Demokratie zählt - zu rechtfertigen sind.

Geert Aufderhaydn / 19.08.2024

Neben denen, die “versagen”, gibt es die, die mit voller Absicht auf den Abgrund zurasen.  Es macht mich immer wütend, wenn ich lese, Frau Merkel habe versagt.  Das stimmt nicht. Ihre Geschichte war eine Erfolgsstory.  Ziele waren:  Auflösung des Nationalstaats (der Nationalstaaten), Austausch des (hier: deutschen) Volks, Bildung eines Parteienkartells und damit die de-facto-Unkenntlichmachung der einzelnen Parteien, Übereignung des dt. Volkseigentums an eine Organisation ungewählter Politikkarrieristen. Letzteres wurde umgesetzt durch den Europäischen Stabilitäts Mechanismus (ESM, 2012), der den nationalen Parlamenten die Budgethoheit entzog und sie damit zu politisch völlig unwirksamen Nebendarstellern machte.  Unverfrorenerweise schaffte man zur Verwaltung dieser Enteignung den sog. “Gouverneursrat” (man beachte die Wortwahl!) , dessen Mitglieder immun und dessen Räumlichkeiten unantastbar waren und sind.  Dieser Gouverneursrat konnte von nun an (und kann immer noch)  von jedem EU - Land beliebig hohe Beträge ohne irgendeine Begründung mit Fristsetzung von einer (!) Woche einfordern.  Fr. Merkel war an dieser Entwicklung maßgeblich beteiligt - und dies ist nur ein winziger Ausschnitt aus ihrem segensreichen Treiben innerhalb von 16 Jahren desaströser Politik.  Seit nun knapp 20 Jahren werden wir von einem Haufen von Glücksrittern, Mitläufern und Karrieristen regiert, “a bunch of criminals”.  Oskar Lafontaine hat es anläßlich der ersten Merkelkanzlerwahl so kommentiert (aus dem Gedächtnis):  “Wißt ihr eigentlich, daß ihr soeben eine überzeugte Jungkommunistin zur deutschen Kanzlerin gemacht habt - wißt ihr eigentlich, was ihr da tut?!”

Bernhard Freiling / 19.08.2024

@A. Ostrovsky # Mea culpa, mea maxima culpa. # Alles, aber bitte nicht hinter die Br.  Br.  Brandmauer. Das können se doch nie nich tun.  Aauuuuaaa.

Michael Schweitzer / 19.08.2024

Frau Heinisch,wenn Plutokraten und Sozialisten gemeinsam mit ihren NGOs Demokratien unterwandern durch Kauf von Politikern und privilegierte Medien die deren Ideologie verbreiten,führt es a priori in eine Oligarchie.

Geert Aufderhaydn / 19.08.2024

Am Schluß landen wir wieder bei Blut, Schweiß und Tränen.  Es ist zum Heulen. Wir waren schon so weit . . .

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