„Erkenne die Lage. Rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen.“ (Gottfried Benn)
Seltsamerweise sind im westlichen Denken die wichtigsten Grenzen überhaupt in Vergessenheit geraten, die Grenzen des Möglichen. In einem surrealen Taumel überboten sich eine überdehnte amerikanische Weltmachtpolitik, die Geldschöpfung der Europäischen Zentralbank, globalistische Aktivisten und hedonistische Grüne darin, möglichst viele Begrenzungen aufzuheben.
Die Realitätsverleugnung wird umso größer, je näher wir dem Reich der reinen Begriffe und Weltanschauungen kommen, den Hochschulen, Medien, Parteien und Parlamenten. Mit dem in den Geistes- und Sozialwissenschaften vorherrschenden Konstruktivismus wurden Begriffe selbst zur Realität erhoben. Statt der strengen Suche nach Objektivität zählten darin vor allem Gefühle, an die Stelle des Analysierens trat ein allgemeines Moralisieren.
Im gleichen Maße wie die Hoffnungen des religiösen Glaubens schwinden, gewinnen sie in der Politik an Zulauf. Auch hierbei werden Sünden gebeichtet, allerdings nur die der anderen. Zu jedem Glauben gehört die Beschwörung des drohenden Endes der Welt, wodurch die Klimaapokalypse an die Stelle des Höllenfeuers trat. Von Erbsünde und Endlichkeit ist keine Rede mehr, es dominieren Selbstgerechtigkeit und Selbsterlösung.
In der bunten globalen Welt waren weder Viren noch böse politische Mächte vorgesehen. Entsprechend leichtsinnig waren wir gestimmt. Selbst nach dem Bekanntwerden der Corona-Pandemie in Wuhan konnten noch hunderttausende Passagiere aus China in den Westen fliegen.
Am fatalsten wirkte sich der Glaube an unbegrenzte Weltoffenheit in der Außenpolitik aus. Fremd ist, was wir nicht verstehen. Bei der universalistischen Anmaßung, dass es für uns auf Erden nichts Fremdes gibt, handelt es sich um eine Überforderung für alle Beteiligte. Der Übermut, in fremden Kulturkreisen westliche Strukturen aufzubauen, stellt keine Widerstände in Rechnung. Tradition und Religion gelten ihm nur noch als folkloristische Relikte, die dem Glauben an den Fortschritt weichen sollten.
Die Entgrenzung der Räume ging mit einer Entgrenzung des Denkens einher. Niemand – so der Orientalist Gilles Kepel – habe die geistige Verwirrung vorausgeahnt, die mit dem Verschwinden von Distanzen und Perspektiven einhergegangen ist. Die Auflösung von räumlichen und zeitlichen Bezugspunkten habe uns die Orientierung verlieren lassen.
Auch nach dem Scheitern des westlichen Universalismus im Nahen und Mittleren Osten folgten keineswegs Einsichten in unsere Begrenztheit, sondern die Flucht nach vorn in eine neue Weltanschauung des Globalismus. Sie kennt keine Kulturen und Nationen mehr, sondern nur noch „die Menschheit“ und die „Eine-Welt“. Unterscheidungen zwischen Freunden, Feinden und Gegnern gingen verloren.
Doch nicht alle Kulturen sind so relativistisch und darüber zugleich universalistisch gesonnen wie der Westen. In traditionell geprägten Kulturen finden sich nur wenige, die ihr Denken an globalen Notwendigkeiten oder universellen Werten ausrichten. Umso größer ist ihre Bereitschaft, technische und ökonomische Ergebnisse des Westens zu nutzen und sie gegebenenfalls auch gegen den Westen auszunutzen.
Der Glaube, wonach der Westen das Maß aller Dinge ist, wurde bei den Verächtern westlicher Macht umgedreht: Ihnen gilt der Westen als Ursache der meisten Probleme. Statt sich um die wachsende Gegnerschaft schon vor den eigenen Toren zu kümmern, sorgen sich die Aktivisten des Guten um globale Probleme oder auch um seltene Minderheiten. Im Wechselspiel von Makrovisionen und Mikroidentitäten drohen die mittleren Ebenen, von den Nationalstaaten bis hin zu den Familien, ihre Bedeutung zu verlieren.
Entsprechend ist es um sie bestellt. Sie bieten oft keine Orientierung und Zusammenhalt mehr an. Antiquierte Gegensätze von „Links oder Rechts“ spalten stattdessen die Gesellschaft. Die notwendige Suche auch nach möglichen Dritten Wegen vor allem zwischen Globalisten und Protektionisten versandet darüber in altideologischen Kategorien. Ferne Herausforderungen wie die „Klimakatastrophe“ lenken von konkreten Aufgaben wie dem Hochwasserschutz ab.
Sowohl der islamistische als auch der chinesische Totalitarismus stehen je auf ihre Weise bereit, das geistige und physische Vakuum des Westens zu füllen und zu beerben. Die Bevölkerungsmassen Afrikas versuchen – verständlicherweise – an den schönen Träumen Europas teilzuhaben. Russland reagiert auf barbarische Weise auf die vorangegangene Überdehnung des Westens in die Ukraine hinein.
Die Ukraine und die Wiederbegrenzung der EU und der NATO
Die Ukraine ist in eine Falle gelockt worden. Mit dem Beitrittsversprechen der NATO im Jahr 2008 und den Annäherungen der EU 2013 wurde die Ukraine nach Westen gezogen. Einerseits lockte die NATO sie aus ihrer – geopolitisch gebotenen – Neutralität heraus, andererseits gewährte sie der Ukraine mit diesem bloßen Versprechen keinen wirklichen Schutz.
Nach dem Desaster in Afghanistan und mit dem Krieg in der Ukraine steht der Westen vor dem Scherbenhaufen seiner Überdehnung. Wie oft in der Geschichte zwingen Krieg und Gewalt uns bittere Lektionen auf, die mangels Einsicht nicht rechtzeitig gelernt worden waren. Die brutale Aggression Putins ist das Gegenstück zu den multilateralen Illusionen des Westens, die nur noch Menschen, aber keine Machtkämpfe und Nullsummenspiele mehr kennen wollten.
Der Westen und die Ukraine waren bisher nicht bereit, vom NATO-Beitrittsversprechen zurückzutreten und in die Hauptforderung Russlands nach einer Neutralisierung bzw. „Finnlandisierung“ der Ukraine einzuwilligen. Dabei zeigen Finnland oder auch Österreich, dass damit weder Not noch Unfreiheit verbunden sind.
Im Verhältnis von Russland und der NATO ist die Eindämmungspolitik des einen die Einkreisungsangst des anderen. Aggressive Ausbruchsversuche aus der Eindämmung gelten wiederum als Beleg für die Notwendigkeit weiterer Eindämmung und diese wiederum als Notwendigkeit für neue Ausbruchsversuche. Eine solche tragische Dialektik hat schon vielen Kriegen zugrunde gelegen.
Sie hätte nur von Staatsmännern durchbrochen werden können, die eben diese Dialektik durchschauen und auf höheren Ebenen wie der eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ oder einer NATO-Russland-Sicherheitspartnerschaft aufzuheben verstanden hätten. Die Erkenntnis von einer gemeinsamen Gefährdung Russlands und des Westens durch die Herausforderer-Kulturen China und Islam hätte hierbei Pate stehen können.
Statt Universalität, Globalität, Integration und Interkulturalität helfen die Begriffe des Kalten Krieges, besser zu begreifen, worum es heute in einer multipolaren Welt zwischen den Kulturen und Mächten geht: Zunächst muss im Sinne von Samuel Huntington eine Bestimmung der geopolitischen Machtpole, vornehmlich entlang der historisch vorgegebenen Kulturkreise vorgenommen werden. Daraus würde unschwer erkennbar, dass etwa das westchristlich und daher auch aufklärerisch geprägte Baltikum zum Westen und der vornehmlich russisch geprägte Donbass und die Krim zum russischen Kulturkreis gehören. In diesem Lichte wäre eine Teilung der Ukraine sinnvoll gewesen. Vermutlich wird sich ein künftiger Waffenstilstand entlang solcher geopolitischen und geokulturellen Kategorien vollziehen.
Damit wären zugleich auch die Grenzen von NATO und EU gezogen, immer unter der Voraussetzung, dass sie als westliche Bündnisse verstanden werden. Aus dieser Abgrenzung ergeben sich zugleich die Notwendigkeiten einer Eindämmungspolitik gegenüber revolutionären Ansprüchen auf eine Umgestaltung der Weltordnung.
Die Rolle der Deutschen und der Europäer
Die Deutschen haben im Windschatten der NATO jeden Sinn für ihre Nahschutzinteressen verloren und ihre eigene Landesverteidigung und Grenzsicherung preisgegeben. An der Globalisierung der NATO ist Deutschland und sind die Europäer mitschuldig. Deutschland hätte durch eine geachtete Stellung und mit Unterstützung anderer Europäer auf eine defensivere NATO-Strategie Einfluss nehmen können. Als finanzieller Trittbrettfahrer hatte Deutschland keinen Einfluss.
Eine Renationalisierung der Verteidigungspolitik wäre in einer sich abzeichnenden multipolaren Weltordnung keine Alternative zur NATO-Mitgliedschaft. Ein vergleichsweise kleiner Nationalstaat wäre für sich allein schutzlos gegenüber atomaren Erpressungsversuchen von großen Mächten wie Russland und China, schon gegenüber einem atomar bewaffneten Iran oder auch dem Terror islamistischer Bewegungen. Deren Erpressungspotenzial würde Deutschland zu einem reinen Objekt der internationalen Politik machen.
Europas Sicherheit sollte in Zukunft nicht am Hindukusch oder in der Ukraine, sondern an seinen eigenen Grenzen verteidigt werden. Nur ein starker europäischer Pfeiler innerhalb der NATO könnte eine hinreichende Unabhängigkeit der europäischen Politik von den imperialen Motiven der USA ermöglichen. Die französische Atommacht müsste dafür europäisiert werden.
Eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft könnte die Strategie der „Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung“ umso eher nach außen durchsetzen, wie die EU dafür auf eine Politik der Zentralisierung nach innen verzichtet. Wir brauchen eine Europäische Union der Vielfalt nach innen und der Einheit nach außen und wir brauchen eine NATO, die uns nicht in fremde Kulturkreise verstrickt, sondern die uns schützt.
Auf der Grundlage ihrer Selbstdefinition, Abgrenzung und Eindämmung könnten die Kultur- und Machtpole der Welt in die Koexistenz des Verschiedenen übergehen. Die Zeit der Universalisierungsansprüche, die sowohl der Kommunismus und der liberale Imperialismus als auch der revolutionäre Islamismus erhoben haben oder noch erheben, sollte idealerweise in eine Politik von Abgrenzung und Koexistenz der Kulturen und Mächte übergehen. Die Kooperationsmöglichkeiten im Bereich von Wissenschaft, Technik und Ökonomie würden durch die Neutralisierung der politischen Beziehungen stellenweise sogar vergrößert.
Wie mit der Gefahr auch das Rettende wachsen könnte
Laut Hölderlin „wächst mit der Gefahr das Rettende auch.“ Diese Dialektik setzt aber voraus, dass die Gefahr überhaupt erkannt und nicht verdrängt oder verschwiegen wird. Die meisten Gespräche über die Weltlage endeten lange in der dialektischen Hoffnung, dass es erst schlimmer kommen müsse, damit es besser werden kann. Mittlerweile ist mit der Corona-Pandemie und dem Kriege in der Ukraine die Gefahr für alle erkennbar gewachsen. Das Zeitalter einer entgrenzten Globalisierung ist darüber politisch und zunehmend auch wirtschaftlich an sein Ende gekommen.
Angesichts der sie alle übergreifenden Bedrohungen sollten sich die Scheingegensätze von linken und rechten Ideen, Interessen und Identitäten auf einer neu zu errichtenden Achse der Selbstbehauptung aufheben lassen. Auf dieser Achse müssten Sozial-Konservative, die den Sozialstaat, Liberal-Konservative, die den Rechtsstaat und Ökologisch-Konservative, die Natur und Umwelt bewahren wollen, Platz nehmen. Und schließlich wären auch noch moderne Konservative zu versammeln, die die kulturellen Voraussetzungen der Moderne wie Individualismus, freies Denken und selbstverantwortliches Handeln sowohl gegenüber autoritären als auch auflösenden postmodernen Strömungen bewahren wollen.
Die Ideologie der Weltoffenheit hat sowohl die Realität partikularer Interessen verdeckt als auch die Offenheit der Diskurse ruiniert. Gegenüber ihren illusionären Anmaßungen steht die anthropologische Weisheit des Christentums. Alles Sollen – so Josef Pieper – gründet demnach im Sein, die Wirklichkeit ist das Fundament des Ethischen. Oberstes ethisches Gebot ist demnach nicht das eigene Gewissen, die eigene Gesinnungen oder Werte, Vorbilder und Ideale, sondern der Blick auf die Wirklichkeit.
Unsere Selbstbehauptung erfordert nebst der ökologischen auch soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit – und dies wiederum auf den unterschiedlichen räumlichen Ebenen der Politik. Es ist auszuschließen, dass die gegenwärtige Form der politischen Kommunikation diesen komplexen Aufgaben gerecht wird. Umgekehrt bedeutet diese Komplexität aber auch, dass sich jeder über die sozialen Medien am Wiederaufbau von offenen Diskursen beteiligen kann.
Dieser Beitrag ist eine Vorschau auf Inhalte des heute erscheinenden Buches von Heinz Theisen "Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen", Olzog Edition im Lau-Verlag, das Sie z.B. hier bestellen können.