Analyse ok. Aber mit müssten und sollten gibt’s keine Lösung der allgemeinen Misere.
Noch besser und noch kürzer kann man es nicht ausdrucken: “Wir brauchen eine Europäische Union der Vielfalt nach innen und der Einheit nach außen und wir brauchen eine NATO, die uns nicht in fremde Kulturkreise verstrickt, sondern die uns schützt.”
Die Rädelsführer argumentieren mit Allgemeinplätzen. Da kann jeder hineininterpretieren, was ihm beliebt. Die NGOs, die in Russland verboten worden sind, sind von westlichen Ideologien korrumpert und klammern sich als einzigem Narrativ an die “offene Gesellschaft”. Gemeint sind offene Grenzen wie im Selbstbedienungsladen Europa, die ganz im Gegensatz stehen zu Karl Poppers offener Gesellschaft. “Offenheit” kann für alles stehen, auch fürs Gegenteil. Offenheit, Wandel, Reformen, wo keiner weiß, was gemeint ist, weiß auch keiner, wohin er will. Die Eliten haben sich schon immer nur für ihre Gewinn/Verlust-Rechnungen interessiert und nun die Oberhand. “Niemand – so der Orientalist Gilles Kepel – habe die geistige Verwirrung vorausgeahnt, die mit dem Verschwinden von Distanzen und Perspektiven einhergegangen ist.” Das sehe ich aber ganz anders. In dem 1979 erschienen Buch “Der Zukunftsschock” beschreibt Alvin Toffler den Bruch mit der Vergangenheit. Der löste einen Beschleunigungsschub aus und Dauererwartungen. Der Bruch hat die Wegwerfgesellschaft entfesselt, Miet-Partnerschaften, den vorgeplanten Körper und den Menschen mit austauschbaren Teilen. Toffler kritisierte die Bombardierung der Sinne und das überstimmulierte Individum. Die Alten hatten die Problematik viel besser erfaßt, in die wir hineingerutscht sind. Nur hat keiner zugehört.
Die Annahmen sind schlicht falsch. Putin/Russland kocht sein eigenes Süppchen, so wie China, islamische Staaten und andere Kulturkreise ebenfalls. Eine sich andienende Politik, die wir hier nun seit Schröder zur Genüge hatten, hat Null Einfluss auf die Politik dieser Länder. Seit wie vielen Jahrzehnten plagt sich die europäische Industrie mit Plagiaten und Wirtschaftsspionage aus China herum? Wie oft wurde Druck gemacht und dennoch ändert sich nichts? Wenn Putin näher auf Augenhöhe an Europa rücken wollte, waren alle Türen offen. Putin sieht Europa aber gar nicht auf Augenhöhe mit Russland. Auch all die anderen Gutmensch-Projekte, ob Klima-Politik oder Compact For Migration sind das Papier nicht wert, das von allerlei Staaten ratifiziert wird und sogleich missachtet. Da trifft man auf kulturelle Unterschiede und merkt nicht, dass in dem einen Land Verträge und Worte wertlos sind, nur das zählt, was man der Sippe am Tagesende nach Hause bringt. Umso besser, wenn es nichts kostet. Man glaubt hier aber, beim nächsten Machthaber ist plötzlich alles ganz anders als würde der Handwerker in Afrika aber ganz sicher wie versprochen Morgen früh pünktlich um 8 auf der Matte stehen. Dabei sind die Projekte nicht einmal hier mehrheitsfähig. Wie sollten die es in Ländern mit völlig anderer Tradition sein?
Ausgezeichnete Analyse. Ich kann hier eigentlich nur jedem Satz zustimmen. Meine Antwort auf die Frage, wie hältst du es mit der Ukraine, ist die folgende: wenn ich 2020 Präsident der Ukraine geworden wäre, hätte ich genau 2 Möglichkeiten gehabt: 1. Minsk 2 umsetzen und somit 25% der Bevölkerung, 50% der Wirtschaftsleistung und den Großteil der Bodenschätze zu verlieren oder den Weg Selenskij zu gehen, also Minsk 2 zu ignorieren, weiter aufzurüsten und die Armee auf NATO-Standard in der Ausbildung und Taktik bringen lassen und letztlich darauf zu hoffen, dass im Notfall die NATO nicht nur Waffen sondern auch Soldaten schickt. Im ersten Fall wäre ich als ukrainischer Präsident nicht nur sehr bald mein Amt, sondern wohl auch meine Gesundheit los gewesen. Im 2. Fall sind die Chancen im Amt und bei Gesundheit zu bleiben, für den Präsidenten deutlich besser. Dummerweise verliert das Land dann aber nicht nur viele Menschen durch die trotzdem stattfindende Abspaltung, sondern durch die direkten Kriegsfolgen und die Flucht. Von einer Wirtschaft brauchen wir dann gar nicht mehr zu reden. Wer jetzt schwere Waffen westlicher Fabrikation in die Ukraine liefern will, macht noch mehr Menschen zu Kanonenfutter, denn ohne Ausbildung sind die auch sehr bald nur zusätzliche Schrotthaufen am Rand irgendeiner Straße. Wenn, dann hätte die NATO Panzer mit Soldaten schicken müssen. Aber das Risiko wurde wohl zu recht als viel zu hoch eingeschätzt. Es macht auch wenig Sinn nun die Russen unter Putin zum Feind der Menschheit zu erklären und es dabei zu belassen. Verantwortlich war, ist und bleibt auch die Ukraine bzw. ihre Regierung selbst. Ihre Optionen mögen Pest und Cholera heißen, aber es gibt immer eine Option jenseits des ohnehin sinnlosen Versuches, andere Länder in den Krieg hineinziehen zu wollen. Dafür müsste man aber die eigenen Verluste realisieren und anerkennen.
Endlich mal ein Beitrag zum Thema Ukrainekrieg und die Politik des Westens, den man gerne liest - lange hat es gedauert. Der vorgeschlagene Blick auf die Wirklichkeit bedeutet die Rückkehr zum Pragmatismus, weg, von moralische Befindlichkeit und Weltanschauungsdenken. Der eigene Staat ist seinen Bürgern gegenüber zur Wahrung einer freiheitlichen Gesellschaft verpflichtet, der Sicherung des Friedens, des Wohlstandes und sonstiger legitimer Interessen. Er ist nicht verpflichtet und kann es auch nicht leisten, dies weltweit für alle zu erreichen. Die Welterlösung hat in der Politik freiheitlicher Länder nichts zu suchen. Auch das Engagement für ein anderes Land, mit dem man sich in keinem Bündnis befindet. muss Grenzen haben. Selbstaufopferungsüberlegungen sind fehl am Platze. Die Ukraine darf nicht aus der Eigenverantwortung entlassen werden. Wenn man sich schon mit Kriegswaffenlieferungen und Sanktionen engagiert, muss man es auch politisch tun, indem man sich eine Stimme bei Verhandlungen verschafft. Die Stimme darf man nicht denen überlassen, die politisch versagt haben und alleine militärisch schon längst am Ende wären. Die westlichen Länder sollten ihre Politik auf ihre eigenen Gesellschaften fokussieren. Alle Bündnisse, ob militärisch, wirtschaftlich oder politisch, müssen Zweckbündnisse sein, ohne weltpolitische oder weltanschauliche Heilsziele erreichen zu wollen. Nüchterne, pragmatische Realpolitk ist nicht nur das Gebot der Stunde.
Lieber Herr Theisen, sie bereichern mit ihrem neuen Buch und ihrem ethischen Realismus sicher wieder die geistige Landschaft, die es dringend nötig hat. Ich freue mich drauf.
Sehr guter Artikel, der das nötige Augenmaß im Umgang unterschiedlicher Systeme miteinander einfordert. Globalisierung im Handel, allgemein der wirtschaftlichen Kooperation, ist sehr begrüßenswert, da auf allen Seiten wohlstandsfördernd. Wohlstand ist friedensfördernd. Die notwendigen Begrenzungen und daraus folgenden Schutzmechanismen ergeben sich aus den erheblichen kulturellen und politischen Unterschieden der Systeme. Die lassen sich eben nicht einfach von außen beseitigen - weder von der einen, noch von der anderen Seite. Der Frieden ist nur dann dauerhaft gesichert, wenn dies von allen Seiten berücksichtigt und militärisch gesichert wird. Krieg, das hat sich immer wieder gezeigt, ist kein Mittel zur Beseitigung von kulturellen und politischen Unterschieden (siehe u.a. die immer wieder fehlgeschlagenen westlichen “Demokratieexporte”).
Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.