Von Ulrich Schödlbauer
Unter Kulturschaffenden gilt, wer die Kultur des eigenen Landes preist, als borniert. Nicht ohne Grund – die Fallhöhe zwischen dem eigenen Anspruch auf Einzigartigkeit und der Misere des Betriebs, von dem er sich er sich abhebt, ist ein Aufmerksamkeits-Garant, auf den zu verzichten sich nur wenige leisten können. Wer preist, will Geld, wer Kultur preist, will Zuwendungen. Da muss man sorgfältig vorgehen, dass nicht am Ende die Falschen vom Segen profitieren.
Gleich neben der „Hochkultur“ beginnt die andere, die sich am bündigsten als „eine gewisse Art, die Dinge des Lebens zu gestalten“ beschreiben lässt. Auf diesem Gebiet ist das Schulterklopfen notorisch und viele behaupten, sie würden für ihre Lebensart durchs Feuer gehen, vor allem dann, wenn das Bewusstsein, ein Metropolenbewohner zu sein, ihnen die Zunge löst. So galt 9/11 überzeugten Bewohnern des Big Apple als Angriff auf ihre Eleganz, ihre Freizügigkeit, ihre Verdienstmöglichkeiten und ihre Ansichten, also als Angriff auf ihre Kultur.
Wer sich die Mieten in Manhattan, in Tokio, im sechsten Arrondissement von Paris, in der Londoner City oder in Schwabing West nicht leisten kann, dem genügt in der Regel die Kultur des Landes und er reagiert erbittert auf alles, was sie „in Frage stellt“. Für ihn ist Kultur mit dem Land, so wie es ihn und er es sich zu eigen gemacht hat, identisch. Sie ist sein Land, sie hergeben hieße für ihn in die Fremde zu gehen. Der im Westen umgehende Verdacht, die Politik wolle sie ihm wegnehmen, beflügelt die Selbsthasser, lähmt die Unsteten und treibt die Bedächtigen auf die Barrikaden: eine Umkehr der üblichen Protestkultur, die Öffentlichkeitsarbeitern unruhige Zeiten beschert.
Das Erstaunen derer, die Kultur ablehnen und sich für kultiviert halten
Wie so oft lohnt es sich, nach Frankreich zu blicken, will man verstehen, welcher Kampf da entbrannt ist. „Il n’y a pas de culture française. Il y a une culture en France. Elle est diverse“ ("Es gibt keine französische Kultur. Es gibt eine Kultur in Frankreich. Das ist ein Unterschied“) soll, dem Figaro zufolge, der französische Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron gesagt haben. Kein ganz überraschender Satz angesichts der hundertjährigen Reibereien zwischen deutscher "Kultur" und französischer "civilisation", dessen eher langweilige Wahlkampf-Pointe darin liegt, dass er reflexhaft das konservative Frankreich auf den Plan ruft und damit das eigene linksliberale Lager mobilisiert.
Wenn es sich einst gehörte, für la civilisation in einen Weltkrieg zu ziehen, dann sollte sich eigentlich das anständige Frankreich mühelos hinter jener Parole zusammenfinden. Hierzulande würden den entsprechenden Satz, umgemünzt auf deutsche Kultur, die Grünen, die meisten Sozialdemokraten und ein Großteil der Christdemokraten ohne Bedenken unterschreiben. Die anderen Parteien würde man, aus unterschiedlichen Gründen, erst gar nicht fragen. Für die AfD ist "Kultur" ein Kampfbegriff und von "Kulturkampf" spricht man seit Beginn der neuen Präsidentschaft auch im Blick auf die Vereinigten Staaten, das Land der unbegrenzten Unkultur – zum Erstaunen vieler Europäer, die Kultur ablehnen, aber sich persönlich für kultiviert halten.
Lägen die Dinge so einfach, dann lägen sie gut. Bereits die Frage, ob ein Land Kultur besitzt – in Form von Denkmälern, DIN-Normen oder Käsestullen – oder ob man dort Kultur lebt, ist geeignet, die Gemüter zu spalten. Kultur lebt von solchen Spaltungen und den Erregungen, die sie begleiten. Wo sie ausbleiben, ist eine Kultur tot – was keineswegs bedeutet, dass sie nicht existierte. Keine Kultur gibt es nirgends, es sei denn, die Menschheit wüsste von einer nichts und gäbe es auf, nach ihr zu fragen. Auch dann bleibt die Gefahr gegeben, dass eines Tages Zeugnisse auftauchen, die mit dem Beweis ihrer Existenz auch den Verstehenswunsch von Menschen auf den Plan rufen, die sich auf sie einzulassen gedenken. Hätte der Kandidat seinen Anhängern zugerufen: "Die französische Kultur ist tot", dann – ja dann hätte sich vermutlich die Mehrzahl aller Franzosen beleidigt gefühlt und das Rennen ums Amt wäre für ihn gelaufen.
Ideologische Überbleibsel der Kolonialzeit
Zu behaupten, es gebe keine französische, deutsche, niederländische, englische, italienische Kultur, wo doch jede Hauptstadt stolz ihre mit viel Steuergeldern unterhaltenen Sammlungen indigener polynesischer, indianischer, afrikanischer, australischer et cetera "Kulturzeugnisse" herzeigt, ist so absurd wie – vielleicht nicht rassistisch, aber – kulturchauvinistisch, dass es einem darüber die Sprache verschlagen könnte.
Hier meldet sich ein ideologisches Überbleibsel der Kolonialzeit zu Wort, so wie die Differenz culture – civilisation dem imperialen Bedürfnis entsprang, sich "kulturell" von den Unterworfenen abzusetzen. Dass die Deutschen im großen Spiel der Europäer seinerzeit die indigene Karte zogen, lag weniger an einem Mangel an civilisation als an dem Bedürfnis, das zeitweise Fehlen und die aktuelle Schwäche der politischen "Nation" kulturell zu überwölben. Mit Herder hatte man zudem einen Klassiker der Kulturtheorie im Haus, der die unruhigen Ethnien Mitteuropas mit Identitätsstoff versorgte: ein Grund mehr, die eigene kulturelle "Sendung" zu betonen – über Gebühr, wie uns heute scheint.
Aber natürlich versteht jeder, der hören und lesen kann, was Herr Macron seinem Publikum eigentlich sagen wollte: Frankreich hat sich durch Einwanderung so verändert, dass nur noch Illusionisten glauben, es könne seine traditionelle Kultur "ohne Abstriche" leben – der plausiblere, der politisch einzig gangbare Weg besteht nun einmal darin, die Ko-Existenz unterschiedlicher Kulturen in Frankreich zu konstatieren und sich damit abzufinden.
Ähnliches hatte der deutsche Bundespräsident Wulff mit seinem vielgezausten Diktum "Der Islam gehört zu Deutschland" im Sinn – auch hier lag der Akzent nicht auf dem religiösen, sondern auf dem kulturellen Aspekt. Der Satz hätte daher besser gelautet: "Die islamische Kultur gehört zu Deutschland". Allerdings hätte er dann einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen, den die Politik kaum mehr hätte bändigen können. Das Grundgesetz garantiert zwar Religions-, nicht aber Kulturfreiheit, und zwar aus gutem Grund.
Kultur im politisch instrumentierbaren Sinn besitzt eine nicht wegzuleugnende indigene Komponente. Sie ist die Kultur eines Landes und seiner Bewohner, wie es der bayerische Leibspruch Mia san mia bündig zusammenfasst. Wer hinzukommt, wird im besseren Fall aufgenommen, er trägt, gewollt oder ungewollt, das Seine bei und verändert damit womöglich eine Kultur – oder seinesgleichen separiert sich und bildet eine Enklave, einen "Einschluss", eine "Kulturinsel", einen "kulturellen Fremdkörper", im Extremfall eine getarnte oder offene "Parallelgesellschaft" mit separaten Rechtsverhältnissen und eigener Exekutive. Der Wörter sind viele, die Mechanismen von Ein- und Ausschluss bleiben immer dieselben.
Im zweiten Teil dieses Beitrages lesen Sie morgen: In jeder Gesellschaft leben Menschen, die für sich bleiben wollen. Man mag ihre Bräuche belächeln aber es gibt keinen Grund, sie zu hassen oder außer Landes zu wünschen, solange sie die Gesetze achten und die Freiheit der anderen nicht beeinträchtigen. Kultur ist auch die Fähigkeit, Gegensätze auszuhalten und zu gestalten. Gerade deshalb muss sie imstande sein, Grenzen zu ziehen und zu thematisieren.
Ulrich Schödlbauer ist Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Essayist. Dieser Beitrag erschien zuerst auf Globkult hier.

Danke Herr Lederer, ich musste in 4 Seiten definieren, was Sie so klar zum Ausdruck bringen. Ich lese und lerne ;-)
Sehr geehrter Herr Schödlbauer, Ihre Abhandlung geht von der im letzten Teil meiner Ansicht nach unzutreffenden Übersetzung des Zitats Emmanuel Macrons aus dem Figaro aus. "Elle est diverse" verstehe ich niist cht als "das ist ein Unterschied" sondern als "Sie - bezogen auf une culture en France - ist vielfältig" . Das entspricht den in Deutschland verwendeten Formulierungen "kulturelle Vielfalt" oder "Buntheit". Mit freundlichen Grüßen, K.Ritter
Den Blick aufs 8. und 9. Arrondissement von Paris gerichtet, pars pro toto, würde ich sagen: Ja, das ist die französische Kultur von seiner Schokoladenseite. Das Paris des Stadtplaners Georges-Eugène Haussmann. Man spürt förmlich den Puls und das Leben. Vornehm bekleidete Besucher strömen werktags das Opera, ebenso die zahlreichen Restaurants und Cafes. Mondän, stolz, glamorös und dennoch unaufdringlich. Wenn ich jedoch im Nordbahnhof Gare du Nord aussteige und entlang des Boulevard de Magenta schlendere und mir das Umfeld und seine Bewohner betrachte, dann weiß ich, daß hier ist es nicht, was die höchste zivilisatorische Errungenschaft auszeichnet. Fazit: Die verschiedenen Kulturen finden nur noch nebenher in den entsprechenden Arrondissements statt. Eben wie in einem Gemischtwarenladen.
Kultur bedeutet Identität, diese setzt Toleranz voraus, diese kann aber schnell zu Tolleranz werden, und diese verstopft die Hirnwindungen.
Sehr geehrter Herr Schödlbauer, Ihre Übersetzung des Macron-Zitats am Anfang Ihrer Ausführungen ist doch etwas arg frei. Um nicht zu sagen falsch. „Il n’y a pas de culture française. Il y a une culture en France. Elle est diverse“ Das "elle" im letzten Kurz-Satz bezieht sich eindeutig auf "culture". Womit die Bedeutung "Diese ist vielfältig" wäre, Etwa so, wie man das auch hier ständig zu hören bekommt. Also: "Es gibt keine französische Kultur. Es gibt eine Kultur in Frankreich. Diese ist vielfältig." Könnte auch von Claudia Roth stammen. MfG, Florian Huber
Aber natürlich ist Religion ein kultureller Artefakt, und besitzt als solcher ebenfalls "eine nicht wegzuleugnende indigene Komponente". Und die vom Grundgesetz hierzulande garantierte "Religionsfreiheit" ist leider das im Staat verankerte Protokoll zur kulturellen Selbstzerstörung - denn es wird überhaupt nicht definiert was Religion ist, kann und sein darf. Man kann es den Verfassern des Grundgesetzes noch nicht einmal zum Vorwurf machen, denn sie haben die Artikel im Kontext des eigenen Kulturkreises, der eigenen Geschichte und in Europa gelernten Lektionen geschrieben. Aber auf Grund dieser rechtlichen Lücke erleben wir nun die paradoxe Situation, daß eine Religion aus dem arabischen Kulturkreis, welche selber keine Religionsfreiheit kennt, das Grundgesetz, welches sie schützt, ad absurdum führt.
"Künstler" sind vor allem extroveriert und narzißtisch. Sonst wären sie keine "Künstler". Die meisten haben kaum analytische Fähigkeiten und sie wollen sie auch nicht haben. Die Realität interessiert sie nicht. Das "Gefühl" ist alles. Gleichzeitig wollen sie natürlich was besonderes sein. Das führt häufig zu dem Punker-Effekt: Jeder Punker will seine unangepasst Individualität zeigen und alle Punker laufen in der gleichen Uniform herum. Auf "Künstler" übertragen: Alle vertreten ganz individuell die exakt gleiche Meinung. Welche das ist, ist eigentlich egal. Hauptsache die allermeisten "Künstler" und andere Möchtige vertreten sie auch.