„Die Kamera sieht alles“, ist ein geflügeltes Wort in Schauspielkreisen. Damit ist gemeint, dass durch die Linse einer Kamera viele Dinge auf magische Weise klarer beziehungsweise überzeichneter hervortreten als in der Wirklichkeit. Angefangen bei einer Verzerrung von Äußerlichkeiten, etwa dass eigentlich attraktive Gesichtszüge sich als nicht besonders telegen entpuppen oder dass die Kamera die berühmten sechs bis acht Zusatz-Kilos auf die Hüften mogelt (ein Grund, warum besonders in Hollywood eine sehr schlanke Linie unerlässlich ist), bis hin zu einer überdeutlichen Zurschaustellung des Innenlebens: Charisma kann durch die Kamera zu einem unwiderstehlichen Strahlen werden, zugleich tritt Unsicherheit, Unaufrichtigkeit oder Verschlagenheit durch die Linse stärker hervor.
In Hinblick auf die morgige Bund-Länder-Schalte wurde am Montag ein n-tv-Interview mit Markus Söder veröffentlicht. Beim Ansehen musste ich unweigerlich an die verstärkende Wirkung der Kamera denken: Während sich der Ministerpräsident des Freistaats Bayern 20 Minuten lang bemühte, den treu für sein Bundesland sorgenden Politiker zu mimen, der kein Wässerchen trüben kann, drohte er mit teilweise sehr restriktiven Maßnahmen. Die zur Schau gestellte Harmlosigkeit in Verbindung mit einer ausgeklügelten Rhetorik erzeugte einen Bruch, der mich sehr bedenklich stimmte. Und nicht zuletzt – die Kamera fing unermüdlich einen vielsagenden Zug um seine Augen ein: den selbstgefälligen Ausdruck von Berechnung, die glaubt, sich besonders raffiniert vor der Welt zu verbergen.
Eine derartige Einstellung wird noch befeuert, wenn ein interviewender Journalist dem Befragten kooperativ entgegenkommt. Der dienstbeflissene n-tv-Reporter fragt den vielgeplagten Minister eingangs verständnisvoll: „Wie viel ihrer Arbeitszeit müssen Sie im Moment für Corona verwenden?“ Söder antwortet mit keusch niedergeschlagenen Augen:
„Es geht fast nur um Corona, weil Corona hat unterschiedliche Auswirkungen. Da sind zum einen die wirtschaftlichen Auswirkungen, die uns sehr langfristig beschäftigen werden, aber das auch leider steigende Infektionsgeschehen jetzt, sodass wir wieder darüber reden müssen, wie wir die Zügel anziehen und nicht nachlassen. Deswegen keine Experimente oder neuen Lockerungen machen, sondern sehr bewusst auf die Herausforderungen, die durch Urlaub und Familienheimkehrer gekommen (sind), schnell und rasch reagieren, und das umfasst hundertprozentige Konzentration.“
Haut Zuschauern knallharte Aussagen um die Ohren
Ich finde, diese zwei Sätze sollten Teil der nächsten Deutsch-Abitur-Prüfungen sein. Über sie könnte man nämlich eine ganze Erörterung schreiben. Geschickt, wenn auch etwas holprig, sagt Söder inhaltlich das genaue Gegenteil von dem, was die äußere Form der Formulierungen suggeriert. Die „wirtschaftlichen Auswirkungen“ scheinen aktuell niemanden „langfristig“ zu beschäftigen, sonst würden die Verantwortlichen umgehend sämtliche handelseinschränkende Verordnungen rückgängig machen (Maskenpflicht, Abstandsregel, Personen-Obergrenze etc.), weil nach monatlichen Verdienstausfällen in verschiedenen Branchen der ökonomische Zeiger auf fünf vor zwölf steht.
Nach seinem schein-liberalen Einstieg spricht Söder daher nicht umsonst von „Zügel anziehen und nicht nachlassen“. Zur Abschwächung dieses dominanten Gestus schickt er noch ein „keine Experimente“ hinterher, weil das so schön nach Sicherheit klingt, nur um mit „schnell und rasch reagieren“ und „hundertprozentige Konzentration“ das rhetorische Korsett wieder etwas enger zu schnallen. Er mimt den harmlosen Märchenonkel und haut den Zuschauern in Wahrheit knallharte Aussagen um die Ohren.
Der kooperierende Journalist fragt artig, ob denn da nicht „andere wichtige Themen – Digitalisierung, Integration – fast zwangsläufig zu kurz“ kämen. „Das glaub ich nicht“, heißt es da von Söder „aber der Fokus liegt tatsächlich auf dem anderen Thema, wobei auch da Corona 'ne wichtige Rolle spielt“. Was soll denn das heißen? Ach so: Es ist bald Schulstart in Bayern und da gibt es natürlich „eine Menge Digitalisierungs-Aufgaben“ und „die Umstellung von Unterricht zumindest im ergänzenden Format auf Digitalisierung, weil es natürlich auch eine Chance ist, Bildungsscheren zu schließen“.
Das hört sich ja ganz nett an. Ich glaube allerdings, dass sich Söder weniger um „diejenigen Kinder, wo die Eltern nicht mit dem gleichen Einsatz und Engagement dahinter sein können“ sorgt, sondern sich die Möglichkeit einer erneuten Schulschließung offen halten möchte.
Dominanzgeste am liebsten auf das ganze Land ausweiten
„Müssen wir uns auf neue Einschränkungen einstellen?“, sekundiert der Reporter weiter. „Zunächst einmal müssen wir uns darauf einstellen, dass die zweite Welle da ist“, legt Söder erst einmal fest und fährt im Anschluss weitere schwere Geschosse auf: „Es haben ja lange die Leute drüber geredet, ob das jetzt eine Gefahr ist. Jeder, der das noch leugnet, hat wirklich nicht verstanden.“ Im nächsten Schritt wird er noch theatralischer: „Keiner kann – wirklich keiner kann vorhersagen, ab wann der Sprungpunkt zu einer exponentiellen Entwicklung und damit wieder zu einer dramatischen Überforderung des Gesundheitssystems entstehen kann.“ Soso, „wieder“ eine „dramatische Überforderung des Gesundheitssystems“? Der wohlinformierte Minister scheint vergessen zu haben, dass es deutschlandweit in den letzten Monaten zu einem „staatlich verordneten Leerstand“ (Stand Juli) von Krankenhausbetten kam, weil unnötigerweise Intensivbetten für Corona-Patienten frei gehalten wurden. Söder beharrt stattdessen darauf, keine Signale einer „weiteren Lockerung oder Öffnung zu setzen“.
Angesprochen auf ein bundesweites Bußgeld für Maskenverweigerer antwortet Söder mit gespielter Zerknirschung:
„Ja, wir bräuchten eine einheitliche Regelung, zumindest eine Untergrenze. Bei der Obergrenze darf jeder gleich agieren, weil die Maskenpflicht unterschiedlich ist, aber GAR KEIN Bußgeld zu haben, das konterkariert diese wichtige Verpflichtung (…) Wir setzen nochmal das Bußgeld nach oben. Ja, das tun wir als Freistaat Bayern. Aber wir werben sehr dafür, dass man zumindest eine einheitliche Untergrenze hat, und zwar eine spürbare. Nicht so zehn Euro oder was, das muss schon bei 100 oder 150 Euro sein.“
Der Herr Minister begnügt sich also nicht nur damit, den Freistaat Bayern mit horrenden Masken-Bußgeldern zu terrorisieren (soeben erhöht auf 250 Euro pro Verstoß im öffentlichen Nahverkehr und Einzelhandel), sondern möchte diese Dominanzgeste am liebsten auf das ganze Land ausweiten.
Karneval wäre ein „falsches Signal“
Sein seltenes Talent des Schein-Zurückruderns und anschließend doppelt Bekräftigens, um danach erneut zu entschärfen, wird beim nächsten Punkt wiederholt deutlich. Bezogen auf eine Maskenpflicht am Arbeitsplatz verkündet er vielsagend: „Da habe ich noch keine abschließende Meinung. Ich glaube, Maske ist generell sinnvoll. Wir sollten es auch in Relation setzen (…) Vor allem dort, wo kein Abstand zu halten ist, da könnte es eine Möglichkeit sein (…) Man sollte es abhängig vom Infektionsgeschehen machen.“
Vorbildlich thematisiert der Interviewer als nächstes mögliche Einschränkungen privater Feiern, da sich ja viele nicht so richtig an die Regeln hielten. Prompt liefert er dem vielgeplagten Söder eine ideale Steilvorlage:
„Sie haben Recht, das ist das größte Problem. Es ist leicht, eine Schule zu schließen, es ist leicht, eine Bar zu schließen oder eine Diskothek (…) im privaten Sektor ist das anders (…) Die Kunst ist jetzt, die Vernünftigen vor den Unvernünftigen zu schützen. Und die Unvernünftigen vor sich selbst.“ Bitte lassen Sie sich diese letzte Aussage auf der Zunge zergehen.
Söder glaubt daher, eine Obergrenze für private Veranstaltungen würde „einen Sinn machen für unser Land“. Dies wäre ein „klares Signal“. Der Reporter bringt als nächstes Karneval (wir sind jetzt also schon im Februar 2021), Konzerte oder Fußballspiele mit Fans ins Spiel, die aus Söders Sicht natürlich ein „falsches Signal“ und daher abzulehnen sind.
„Das Tempo bestimmt Corona, nicht wir“
Der Minister ist rhetorisch nun jedenfalls richtig in Fahrt: Wenn es bei der ersten „Grippewelle“ nicht gelingt, die „Zahlen stabil zu halten (…) wird’s hier sowieso wieder zugemacht werden.“ Ist es nur ein Zufall, dass er an dieser Stelle von „Grippe“ und nicht explizit von „Corona“ spricht?
Sehr interessant hören sich auch des Ministers Ansichten zur Corona-App an. Diese ist nicht etwa kein Erfolg, weil sie nicht besonders funktional ist. Nein, das Problem ist, dass „viele Leut‘ keine solche App haben und haben können. Sich’s vielleicht gar nicht leisten können.“
Dies scheint nicht der einzige Themenpunkt zu sein, den Söder nicht von vorne nach hinten, sondern von hinten nach vorne denkt. Gefragt, ob er nicht manchmal „zu viel zu schnell“ wolle, erklärt er klipp und klar: „Nein, das Tempo bestimmt Corona, nicht wir. Wir sind auch erkennbar hinterher.“ Und setzt etwas spitzbübisch hinzu: „Hätte es nicht mehr geholfen, die Risikogebiete etwas vorher auszuweisen? (…) Ist es wirklich eine kluge Entscheidung, jetzt zu fordern, dass man wieder alles öffnet? Obwohl wir eigentlich sehen (wie Corona) hochgeht?“ Im Anschluss steigert er sich noch: „Ich glaube, das Tempo bestimmt nie die Politik.“
Nun frage ich mich bloß, ob er das ernst meint.