Michael Holmes (Gastautor) / 18.10.2007 / 14:00 / 0 / Seite ausdrucken

Die unerträgliche Leichtigkeit des Scheins

Gastbeitrag von Edgar Dahl

In Deutschland kann man es einfach nicht lassen. Wann immer einem die Argumente ausgehen, holt man die braune Keule hervor und bezichtigt seinen Gegner kurzerhand „nationalsozialistischen Gedankenguts“. Das jüngste Opfer ist der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins von der Oxford University, dessen Buch „Der Gotteswahn“ gerade in deutscher Übersetzung erschienen ist. In einer in der WELT abgedruckten Rezension unterstellt ihm der Psychiater und Theologe Manfred Lütz eine „zynische Ethik“, die dem Dritten Reich und der Ermordung von über 100.000 behinderten Menschen den Weg geebnet hätte.

Inwieweit kann aus einem Buch, das der Kritik der großen Weltreligionen gewidmet ist, eine menschenverachtende Ethik sprechen? Nun, „wer suchet, der findet“. So auch der bibelfeste Theologe Lütz. Er versucht Dawkins einen Strick daraus zu drehen, dass er mit seiner Evolutionstheorie die christliche Doktrin von der „Heiligkeit des menschlichen Lebens“ untergrabe und die Stirn habe, sich für einen liberalen Umgang mit der Abtreibung, der Stammzellenforschung und der Beihilfe zur Selbsttötung nach dem Vorbilde der Schweiz auszusprechen.   

Nach Lütz bezeugt das Eintreten für einen legalen Schwangerschaftsabbruch, die embryonale Stammzellenforschung und den ärztlich-assistierten Suizid nämlich eine „Mentalität, die auch Karl Binding und Alfred Hoche nicht fremd war“. Deren hirnrissiger Traktat „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ hatte bekanntlich den Grundstein für das Nazi-Euthanasieprogramm gelegt.

Als wäre dies nicht bereits dreist genug, unterstellt er Dawkins auch noch, einem „Intelligenzrassismus“ zu huldigen, „wie er auch von seinem Freund“, dem Nobelpreisträger James Watson bekannt sei, „der einst forderte, man solle weniger intelligenten Menschen, die Kinder zeugen, höhere Steuern auferlegen“, weil ihre Kinder lediglich zu sozialen Ballastexistenzen heranwachsen würden. Es versteht sich von selbst, dass es in dem 560 Seiten starken Buch von Dawkins nicht eine einzige Zeile gibt, in der er irgendeiner Form der „Eugenik“ das Wort redet. Man muss sich fragen, ob es sich bei Lütz’ens Angriffe auf Dawkins nicht geradezu um einen Rufmord handelt. 

Hat Lütz seinem Gegner – außer bloßen Verleumdungen – auch argumentativ irgendetwas entgegenzusetzen? Nein! Die einzige Bemerkung, die den Eindruck zu erwecken sucht, ein Argument zu enthalten, ist die, in der er Dawkins vorwirft, schlicht und einfach nicht zu begreifen, was Glauben überhaupt bedeute. Glaube sei nämlich kein bloßes „Für-wahr-Halten“, sondern eine „existenzielle Entscheidung“.

Dies ist jedoch genau die intellektuelle Bankrotterklärung, die sich Richard Dawkins wünscht! Wenn religiöse Doktrinen nicht auf rationalen Erwägungen, sondern lediglich auf persönlichen Entscheidungen beruhen, so Dawkins, ist es dann nicht zutiefst anmaßend, wenn Gläubige meinen, Ungläubigen ihre Wertvorstellungen aufzwingen zu können? Mit welchem Recht meinen Theologen dann die Politik eines säkularen Staates beeinflussen und moralischen Druck auf den Gesetzgeber ausüben zu dürfen, um ihre religiöse Position zu Schwangerschaftsabbruch, Stammzellenforschung und Sterbehilfe durchgesetzt zu bekommen?

Natürlich bleibt es religiösen Menschen in unserer Gesellschaft unbenommen, für ihre jeweiligen Ansichten zu werben. Wenn dabei die Nazikeule geschwungen und Demagogie betrieben wird, ist die Grenze des Erträglichen jedoch eindeutig überschritten. 

Dr. phil. Edgar Dahl ist Bioethiker am Klinikum der Justus-Liebig-Universität Giessen.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Michael Holmes (Gastautor) / 22.11.2007 / 13:53 / 0

Dinge, die die Welt nicht braucht

The Seven Wonders of the Totalitarian World / mehr

Michael Holmes (Gastautor) / 20.11.2007 / 20:11 / 0

Präferenzen

Edgar Dahl bespricht das neue Buch des amerikanischen Männer- und Frauenrechtlers Warren Farrell. “Wie der amerikanische Soziologe Warren Ferrell in seinem gerade erschienenen Buch “Does…/ mehr

Michael Holmes (Gastautor) / 20.11.2007 / 19:54 / 0

Noch ‘ne Selbsthilfegruppe…

...muss ich wohl mit meinem Leidensgenossen Ingo gründen. Ja, hallo, ich bin der Michael und ich wollte es lange nicht wahr haben… Ob die Kasse…/ mehr

Michael Holmes (Gastautor) / 18.11.2007 / 12:55 / 0

Englische Stachelschweine

In Deutschland ängstigt man sich bekanntlich seit eh und je vor der angeblich zunehmenden “sozialen Kälte”. Und mitunter kann diese Angst auch berechtigt sein. Es…/ mehr

Michael Holmes (Gastautor) / 14.11.2007 / 11:07 / 0

Thomas und Annika vom Prenzl’berg

Der Prenzlauer Berg hat sich zum San Francisco Deutschlands gemausert. Hier ist die elitäre Gegenelite der Republik zuhause. Nur das Meer, die Hügel, die Freundlichkeit…/ mehr

Michael Holmes (Gastautor) / 12.11.2007 / 12:51 / 0

Gnade für die 68er?

Ach wieso denn? Macht doch ordentlich Spaß.  (Dank an Christian Herms) / mehr

Michael Holmes (Gastautor) / 12.11.2007 / 09:32 / 0

Es war nicht alles schlecht…

...am gestrigen ARTE-Themenabend zur Oktoberrevolution. Da war kurz von einer Hungersnot die Rede, der 5 Millionen Menschen zum Opfer gefallen seien. Natürlich schwärmte der gleiche…/ mehr

Michael Holmes (Gastautor) / 11.11.2007 / 14:23 / 0

Das konnte nur eine Astrid Lindgren!

Die nicht zu bändigende Freiheitsliebe von Pippi und Michel, Ronja und Karlsson in die Erwachsenensprache der Politik übersetzen. 1976 setzte sie sich voller Wut und…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com