Gastbeitrag von Edgar Dahl
In Deutschland kann man es einfach nicht lassen. Wann immer einem die Argumente ausgehen, holt man die braune Keule hervor und bezichtigt seinen Gegner kurzerhand „nationalsozialistischen Gedankenguts“. Das jüngste Opfer ist der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins von der Oxford University, dessen Buch „Der Gotteswahn“ gerade in deutscher Übersetzung erschienen ist. In einer in der WELT abgedruckten Rezension unterstellt ihm der Psychiater und Theologe Manfred Lütz eine „zynische Ethik“, die dem Dritten Reich und der Ermordung von über 100.000 behinderten Menschen den Weg geebnet hätte.
Inwieweit kann aus einem Buch, das der Kritik der großen Weltreligionen gewidmet ist, eine menschenverachtende Ethik sprechen? Nun, „wer suchet, der findet“. So auch der bibelfeste Theologe Lütz. Er versucht Dawkins einen Strick daraus zu drehen, dass er mit seiner Evolutionstheorie die christliche Doktrin von der „Heiligkeit des menschlichen Lebens“ untergrabe und die Stirn habe, sich für einen liberalen Umgang mit der Abtreibung, der Stammzellenforschung und der Beihilfe zur Selbsttötung nach dem Vorbilde der Schweiz auszusprechen.
Nach Lütz bezeugt das Eintreten für einen legalen Schwangerschaftsabbruch, die embryonale Stammzellenforschung und den ärztlich-assistierten Suizid nämlich eine „Mentalität, die auch Karl Binding und Alfred Hoche nicht fremd war“. Deren hirnrissiger Traktat „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ hatte bekanntlich den Grundstein für das Nazi-Euthanasieprogramm gelegt.
Als wäre dies nicht bereits dreist genug, unterstellt er Dawkins auch noch, einem „Intelligenzrassismus“ zu huldigen, „wie er auch von seinem Freund“, dem Nobelpreisträger James Watson bekannt sei, „der einst forderte, man solle weniger intelligenten Menschen, die Kinder zeugen, höhere Steuern auferlegen“, weil ihre Kinder lediglich zu sozialen Ballastexistenzen heranwachsen würden. Es versteht sich von selbst, dass es in dem 560 Seiten starken Buch von Dawkins nicht eine einzige Zeile gibt, in der er irgendeiner Form der „Eugenik“ das Wort redet. Man muss sich fragen, ob es sich bei Lütz’ens Angriffe auf Dawkins nicht geradezu um einen Rufmord handelt.
Hat Lütz seinem Gegner – außer bloßen Verleumdungen – auch argumentativ irgendetwas entgegenzusetzen? Nein! Die einzige Bemerkung, die den Eindruck zu erwecken sucht, ein Argument zu enthalten, ist die, in der er Dawkins vorwirft, schlicht und einfach nicht zu begreifen, was Glauben überhaupt bedeute. Glaube sei nämlich kein bloßes „Für-wahr-Halten“, sondern eine „existenzielle Entscheidung“.
Dies ist jedoch genau die intellektuelle Bankrotterklärung, die sich Richard Dawkins wünscht! Wenn religiöse Doktrinen nicht auf rationalen Erwägungen, sondern lediglich auf persönlichen Entscheidungen beruhen, so Dawkins, ist es dann nicht zutiefst anmaßend, wenn Gläubige meinen, Ungläubigen ihre Wertvorstellungen aufzwingen zu können? Mit welchem Recht meinen Theologen dann die Politik eines säkularen Staates beeinflussen und moralischen Druck auf den Gesetzgeber ausüben zu dürfen, um ihre religiöse Position zu Schwangerschaftsabbruch, Stammzellenforschung und Sterbehilfe durchgesetzt zu bekommen?
Natürlich bleibt es religiösen Menschen in unserer Gesellschaft unbenommen, für ihre jeweiligen Ansichten zu werben. Wenn dabei die Nazikeule geschwungen und Demagogie betrieben wird, ist die Grenze des Erträglichen jedoch eindeutig überschritten.
Dr. phil. Edgar Dahl ist Bioethiker am Klinikum der Justus-Liebig-Universität Giessen.