Der Beitrag von Anabel Schunke „Oma Ingrid und das Gefühl für Ungerechtigkeit“ hat mich zu den folgenden Ausführungen motiviert. Eine der schwierigsten Fragen im Recht und darüber hinaus lautet: „Was ist Gerechtigkeit“? Dabei denke ich nicht einmal an die zunehmenden Pervertierungen, die dieses „Wieselwort“ (Friedrich August von Hayek) bis in die Gegenwart erfahren hat: Von sozialer Gerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit über Bildungsgerechtigkeit bis zur Klimagerechtigkeit als Teil der Umweltgerechtigkeit.
Nein, ich beschränke mich auf die ursprüngliche Bedeutung im Bereich des Rechts, bildet doch dieser Begriff den zentralen Bestandteil des Wortes Gerechtigkeit. Dieses taucht zwar an zwei Stellen unseres Grundgesetzes auf, wird aber nirgends definiert. In Artikel 1 Absatz 2 GG heißt es: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum [bezieht sich auf Absatz 1] zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Außerdem begegnet uns „Gerechtigkeit“ noch im Amtseid des Bundespräsidenten (Artikel 56), den dieser „vor den versammelten Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates“ (Bundesversammlung, Artikel 54 Absatz 3) leistet und den gleichlautend der Bundeskanzler und die Bundesminister vor dem Bundestag ablegen (Artikel 64).
Im Bürgerlichen Gesetzbuch und im Strafgesetzbuch sucht man dagegen vergeblich nach „Gerechtigkeit“. Entsprechendes gilt für ZPO, StPO und weitere Verfahrensgesetze (VwGO, FGO, SGG und BVerfGG). Dabei besteht unter Juristen Einigkeit, dass alles Recht zwei Zwecken dient: der Schaffung von Gerechtigkeit und Rechtsfrieden. Als Jurastudent lernt(e) man gleich zu Beginn seines Studiums, dass Gerechtigkeit Gleichbehandlung bedeutet. Deshalb trägt die Iustitia, die (römische) Göttin der Gerechtigkeit, nicht nur die Waage und das Schwert, sondern seit Beginn des 16. Jahrhunderts auch eine Augenbinde, weil sie ohne Ansehen der Person entscheidet und dabei Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt.
Schelme im Mantel der Justiz
In dem unter Juristen berühmten Müller-Arnold-Fall (1773-1778) hat bereits Friedrich II. (der Große, der Alte Fritz) der Richterschaft seines Reiches diesen Satz ins Stammbuch geschrieben:
„Wo die Justiz-Collegia nicht mit der Justiz ohne alles Ansehen der Person und des Standes gerade durch gehen, sondern die natürliche Billigkeit bei Seite setzen, so sollen sie es mit Sr.K.M. zu thun kriegen. Denn ein Justiz-Collegium, das Ungerechtigkeiten ausübt, ist gefährlicher und schlimmer, wie eine Diebesbande, vor die kann man sich schützen, aber vor Schelme, die den Mantel der Justiz gebrauchen, um ihre üblen Passiones auszuführen, vor die kann sich kein Mensch hüten. Die sind ärger, wie die größten Spitzbuben, die in der Welt sind, und meritiren eine doppelte Bestrafung.“
Auf das Prinzip der Unabhängigkeit der Richter kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden, denn unser Thema soll ja die Gerechtigkeit sein.
Nun geben Entscheidungen unserer Gerichte, soweit sie uns aus der Presse bekannt werden, nahezu täglich Veranlassung, über Gerechtigkeit zu grübeln und zu streiten (zum Beispiel am Frühstückstisch mit meiner Frau). Nehmen wir zwei beliebige Beispiele: Am 23. Februar 2006 verurteilte das Amtsgericht Lüdinghausen (Münsterland) einen Mann wegen Beschimpfung von Bekenntnissen (§ 166 StGB) zu einem Jahr Freiheitsstrafe (fünf Jahre) auf Bewährung (ausgesetzt), weil er „Klopapier mit dem Satz ‚Koran, der heilige Koran‘ bestempelt und dann an mehrere Fernsehsender sowie an 22 Moscheen und islamische Kulturvereine versandt“ hatte. Die gleiche Strafe wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) erhielt der „Raser von Böblingen“ im Berufungsverfahren vor dem Landgericht Karlsruhe am 29. Juli 2004, der durch seine rücksichtlose Fahrweise auf der Autobahn eine 21-jährige Mutter und deren zweijährige Tochter getötet hatte (in erster Instanz war er zu zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt worden).
Der Straftatbestand der fahrlässigen Tötung lautet übrigens: „Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Ich habe allerdings noch kein Urteil gesehen, in dem die Höchststrafe von fünf Jahren verhängt wurde. In den USA ist es dagegen möglich, wegen fahrlässiger Tötung sogar zu „lebenslänglich“ verurteilt zu werden: „Aufgrund einer gesetzlichen Regelung, der ‚felony murder rule‘, könne fahrlässige Tötung wie Mord verhandelt werden. Außerdem bekomme jeder, der in irgendeiner Art mit der Tötung zu tun hat, die volle Härte der Rechtsprechung zu spüren.“ Nun muss man beileibe nicht alles gut heißen, was aus dem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ über den Atlantik zu uns kommt. Für fahrlässige Tötung kann man dort auch ohne die felony murder rule bis zu 20 Jahre ins Gefängnis kommen. Bei uns ist eine Verurteilung bis zu zwei Jahren häufig mit Bewährung verbunden. Während meiner Referendarzeit konnte Bewährung nur bis zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten ausgesprochen werden. Wegen Überfüllung der Strafanstalten wurde diese Grenze jedoch im Zuge der sogenannten Großen Strafrechtsreform durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 auf zwei Jahre erhöht (§ 23 StGB, heute § 56).
Mehrfach lebenslänglich?
In seiner guten alten Zeit hatte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts unter dem Vorsitz seines Präsidenten Ernst Benda erkannt: „Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muß, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte“ [BVerfGE 39, 1 ff., 42, Randnummer 149]. Leider haben weder das Gericht selbst noch der BGH noch der Gesetzgeber Konsequenzen aus dieser trivialen, gleichwohl grundlegenden Erkenntnis gezogen. Im Gegenteil: Der Stellenwert des menschlichen Lebens hat in Gesetzgebung und Rechtsprechung immer mehr an Bedeutung verloren. Das zeigt sich nicht nur an den zahlreichen Urteilen zur fahrlässigen Tötung, sondern auch dort, wo man es wahrhaftig nicht vermuten würde: beim Mord.
Nachdem die Todesstrafe durch Artikel 102 GG abgeschafft worden war, stand auf Mord zunächst lebenslanges Zuchthaus und nach Abschaffung der Dreiteilung des Freiheitsentzugs in Zuchthaus, Gefängnis und Haft zugunsten einer einheitlichen Freiheitsstrafe eben lebenslange Freiheitsstrafe. Dabei wurden mehrere Morde als Tatmehrheit behandelt, für die jeweils eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wurde. So war der am längsten einsitzende Straftäter in Deutschland, der nach 49 Jahren Freiheitsentzug am 27. Dezember 2008 verstorbene Heinrich Pommerenke 1960 zu sechsmal lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden. Der Sinn dieser auf den ersten Blick sinnlos erscheinenden Regelung bestand darin, dass sichergestellt werden sollte, dass der Verurteilte niemals mehr frei kommt; denn er hätte sechsmal begnadigt werden müssen, um wieder in Freiheit zu gelangen. Aus diesem Grunde werden heute noch in den USA Strafen von tausend und mehr Jahren sowie mehrfach lebenslänglich ausgesprochen.
Eben diesen buchstäblich lebenslangen Freiheitsentzug hat das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 21. Juni 1977 wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde und das Rechtsstaatsprinzip für verfassungswidrig erklärt: Auch ein Mörder muss grundsätzlich eine realistische Perspektive haben, irgendwann wieder in Freiheit leben zu können.
Die bisherige Regelung wurde daraufhin in zweifacher Hinsicht geändert:
- Einmal kann die lebenslange Freiheitsstrafe seit 1981 nach 15 Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden, es sei denn, das Gericht hat bei der Verurteilung die besondere Schwere der Schuld festgestellt (§ 57a Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 StGB).
- Zum zweiten darf seit 1986 aus mehreren verwirkten lebenslangen Freiheitsstrafen nur eine Gesamtstrafe gebildet werden (§ 54 Absatz 1 Satz 1 StGB): Zehnfacher Mord wird also nicht höher bestraft als einfacher; allerdings dürfte bei mehrfachem Mord häufig die besondere Schwere der Schuld festgestellt oder anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet werden.
Derzeit sind Überlegungen im Gange, die lebenslange Freiheitsstrafe bei Mord gänzlich abzuschaffen. Dafür haben sich beispielsweise die Strafverteidigervereinigungen und der mittlerweile im (vorzeitigen) Ruhestand befindliche Bundesrichter Thomas Fischer ausgesprochen.
Relativieren bis zur Straffreiheit
Doch damit nicht genug. Eine Zeitlang haben die Strafgerichte sogenannte Ehrenmorde als Totschlag bewertet und die Angeklagten so vor lebenslanger Freiheitsstrafe bewahrt. Begründung: die andersartige kulturelle Prägung der muslimischen Täter. Damit stießen die Gerichte sogar auf die Billigung durch den (2014 verstorbenen) Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, der in einem Spiegel-Online-Interview (vom 13. Mai 2009) über sogenannte Ehrenmorde räsonierte: „Ich finde, bei einer derartigen Tat müssen auch der soziale Kontext und die Sozialisation des Täters bedacht werden.“ Das könnte im Extremfall bis zur Straffreiheit führen, selten jedoch zu einer Verurteilung wegen Mordes. Eine Wende trat erst mit dem Fall Hatun Sürücü ein, die mitten in Deutschland „leben wollte wie eine Deutsche“ und dafür wegen der verletzten Familienehre von einem ihrer Brüder am 7. Februar 2005 durch drei Kopfschüsse getötet wurde. Der jüngste Bruder wurde für diese Tat in Deutschland zu einer Jugendstrafe verurteilt, nach deren Verbüßung er in die Türkei abgeschoben wurde. Die beiden anderen Brüder hatten sich nach ihrem Freispruch mangels Beweisen in die Türkei abgesetzt, wo ein Verfahren wegen Mordes gegen sie eingeleitet wurde, das immer noch nicht abgeschlossen ist. Gerechtigkeit erfordert manchmal einen langen Atem, doch selbst der reicht nicht immer aus.
Jetzt hat das Berliner Landgericht in dem zweiten Verfahren gegen die beiden Kudamm-Raser nach Aufhebung des ersten Urteils und Zurückverweisung durch den BGH erneut ein Urteil wegen Mordes gefällt, das dem hohen Stellenwert des menschlichen Lebens Rechnung trägt. Die Verteidiger haben schon Revision angekündigt, obwohl der BGH bei seiner Entscheidung keineswegs eine Verurteilung wegen Mordes ausgeschlossen, sondern nur Rechtsmängel bei der Begründung des Vorsatzes gerügt hatte. Bis dahin waren derartige Wettrennen, bei denen ein Unbeteiligter zu Tode gekommen war, als fahrlässige Tötung mit Bewährungsstrafen „geahndet“ worden.
Während die Verurteilung der beiden Raser wegen Mordes von Anfang an meine volle Zustimmung erfahren hat, haben zwei Entscheidungen einer Münchener Strafkammer (Schwurgericht) unter dem Vorsitz des Richters Manfred Götzl, der durch seinen Vorsitz im Zschäpe-Prozess bundesweit bekannt wurde, mein Gefühl für Gerechtigkeit aufs heftigste attackiert. In beiden Fällen ging es um Nothilfe bzw. Notwehr (was rechtlich keinen Unterschied macht).
Grenzen der Notwehr?
„Götzls Kammer verurteilte 2008 einen 57-jährigen Radfahrer zu einer Haftstrafe von viereinhalb Jahren wegen gefährlicher Körperverletzung [§ 224 StGB, Höchststrafe „in minder schweren Fällen“ fünf Jahre]. Der Radfahrer hatte frühmorgens in einer Unterführung ein junges Mädchen „Geh’ weg, ich will nicht mehr“ schreien hören und einem ihm aggressiv erscheinenden Jugendlichen zugerufen: „Lass’ sie doch in Ruhe!“. Dieser rannte daraufhin dem Radfahrer hinterher und erreichte ihn. Der nach eigenen Angaben völlig verängstigte Radler, der früher von Jugendlichen schwer misshandelt worden war, stach dem Verfolger mit einem Taschenmesser in die Achselhöhle.
Anfang 2009 verurteilte Götzls Kammer den 30-jährigen Informatikstudenten Sven G., der sich mit einem Messer [einem so genannten Neck-Knife] gegen fünf Albaner [nach einer anderen Meldung Serben] zur Wehr gesetzt hatte, zu einer Haftstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten [wegen versuchten Totschlags, § 212 i.V.m. § 23 StGB]. Götzl erkannte zwar auf eine Notwehrsituation, beurteilte aber die Reaktion des Studenten kontroverserweise als unverhältnismäßig. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil in einem Revisionsverfahren im Hinblick auf die Strafzumessung auf, da strafmildernde Umstände nicht ausreichend berücksichtigt worden seien, während die Feststellungen zur Überschreitung der Notwehrlage nicht beanstandet wurden. Das Strafmaß wurde anschließend auf 3 Jahre und 3 Monate festgesetzt.“
Warum in beiden Fällen nicht § 33 StGB angewendet wurde, habe ich nicht feststellen können. Die Vorschrift lautet: „Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.“
Mehr Verständnis zeigten dagegen Stuttgarter Strafrichter gegen einen OLG-Kollegen in einem Verfahren, das ich nur aus meiner Erinnerung zitieren kann. Der OLG-Richter aus dem Staatsschutzsenat besaß aus Gefährdungsgründen eine Pistole mit Waffenschein. Als er eines abends bzw. nachts Lärm vor seinem Fenster hörte, erblickte er auf der Straße einen Mann, der eine Frau belästigte. Darauf nahm er seine Waffe, ging hinunter und forderte den Mann auf, von der Frau abzulassen. Als dieser darauf drohend auf den Richter zuging, gab der einen Schuss ab und traf den Mann in den Bauch. Im anschließenden Verfahren wurde er wegen Notwehr/Nothilfe freigesprochen. Das ist der Unterschied zwischen Münchener und Stuttgarter Recht. Eine andere Begründung will mir einfach nicht einfallen.
Ich könnte diese Betrachtungen noch eine Weile fortsetzen. Stoff gäbe es reichlich. Doch würde das nichts an dem eingangs erwähnten Befund ändern. Die Frage „Was ist Gerechtigkeit“ lässt sich nicht abschließend beantworten und wird weiter die Gemüter erregen – am Frühstückstisch wie am Stammtisch, in der Tagespresse und in den juristischen Fachzeitschriften. Eine unendliche Geschichte.