Die Umdeutung der Demokratie

Das „Volk“ als corpus mysticum der deutschen Demokratie steht nach wie vor im Grundgesetz. In den letzten Jahrzehnten tauchte es im Vokabular der politisch-medialen Klasse indes kaum mehr auf.

Die Problematik der Begriffe (oder Ideen) ist seit alters das große Thema der Philosophie. Begriffe sind für unser Weltverständnis unentbehrlich, denn sie erleichtern die Wahrnehmung und das Verstehen der Vielfalt der Phänomene der erlebten Wirklichkeit. Andererseits führen sie ein Eigenleben, verfestigen sich zu Klischees und verleiten zum Verzicht auf empirische Überprüfung ihrer Inhalte oder versperren gar den Zugang zur komplexen Wirklichkeit. Als Denkschablonen entheben sie der Anstrengung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Zur Ideologie geronnen, eignen sie sich als politische Kampfbegriffe, im schlimmsten Fall als Instrumente totalitärer Machtausübung.

Auf spezifische Weise prägen Begriffe unseren politischen Alltag, den vermeintlich ideologiefreien Raum der Demokratie. Anders als in der Antike hegt niemand – außer abseitigen Befürwortern eines autoritären Systems – Zweifel am positiven Gehalt des Begriffs und/oder der entsprechenden Staatsform. Nichtsdestoweniger wirft die Demokratie allerlei Fragen auf. Diese wurzeln zum einen semantisch im Kompositum von dêmos und krátos – staatstheoretisch im Begriff der „Volkssouveränität“ –, zum anderen – in der Ausdeutung und/oder Umsetzung der mit „Demokratie“ assoziierten Begriffsvaleurs wie Grundrechte/Bürgerrechte, Menschenrechte/Freiheitsrechte, Gleichheit/Gleichstellung, Werte/Wertewandel, Grundkonsens/Pluralismus, last but not least „rechts“ und „links“ (was eine perspektivische Grundposition in der „Mitte“ voraussetzt).

Zum Missfallen einiger Intellektueller

Die skizzierte Vielfalt der Begriffe, die sich um die Demokratie ranken, könnte beim „mündigen Bürger“ (w/m/d) eine gewisse Ratlosigkeit erzeugen. Wer ist heute der dêmos, von dem gemäß demokratischer Staatstheorie alle Staatsgewalt ausgeht? Die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“ – so die Standardformel der lingua politica – sprachen anno 1949 in der Präambel des Grundgesetzes noch in Großbuchstaben vom Deutschen Volk als Quelle und Träger der als Provisorium beschlossenen Verfassung. Als im wundersamen Wendejahr die Deutschen in der DDR ihre dort anfangs auch als „Volksdemokratie“ gepriesene Diktatur stürzten und die Mauer zu Fall brachten, taten sie dies in der Überzeugung, sie – und nicht das herrschende SED-Regime – seien das Volk. Wenig später proklamierten sie – zum Missfallen einiger ost- und westdeutscher Intellektueller –, dass sie sich zusammen mit den Westdeutschen noch immer als „ein Volk“ empfanden. Im August 1990 beschloss die frei gewählte Volkskammer im „Palast der Republik“ den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland.

Das „Volk“ als corpus mysticum der deutschen Demokratie steht nach wie vor im Grundgesetz. In den letzten Jahrzehnten tauchte es im Vokabular der politisch-medialen Klasse indes kaum mehr auf. Man sprach nur noch – ob aus Peinlichkeit, wenn nicht Aversion gegen das als „Tätervolk“ ausgewiesene deutsche Volk oder aus Rücksichtnahme auf die post-nationale Vielfalt der mit Nachdruck geförderten Einwanderungsgesellschaft – von der „Bevölkerung“, von der „Gesellschaft“ oder der „Zivilgesellschaft“, oder noch allgemeiner von „den Menschen in unserem Lande“. Teils absichtlich, teils aus Gedankenlosigkeit wurde die begriffliche – politisch bedeutsame – Unterscheidung von „hier“ lebenden Menschen und von mit Bürgerrechten ausgestatten deutschen Bürgern (sc.- und -innen) als Trägern der res publica verwischt.

Die Wiederkehr des Begriffes „Volk“

Im Gefolge des Ukraine-Krieges – dort kämpft das laut Berichterstattung zur „politischen Nation“ gereifte ukrainische Volk gegen den russischen Aggressor Putin – ist sogar in den deutschen Medien eine Wiederkehr des Begriffs „Volk“ zu beobachten. Es wäre indes verfehlt zu erwarten, dass daraus eine Rehabilitierung des verpönten Begriffs erwachsen könnte. Das „Volk“ steht hierzulande unter Populismus-Verdacht, das Wort birgt Gefahren für den richtigen Begriff von „Demokratie“.

Um die Durchsetzung begrifflicher – und politischer – Reinheit der Demokratie geht es in dem von der Ampel-Regierung vorbereiteten „Demokratiefördergesetz“. Federführend ist die Innenministerin Nancy Faeser. Nach ihrem Konzept geht es um die staatliche Förderung von als NGOs (nongovernmental organizations) bekannten Vereinen, die sich in der Zivilgesellschaft im Kampf gegen Antidemokraten engagieren. Wer gehört dazu? Bei genauerer Betrachtung sind die förderungswürdigen NGOs – mit der denkbaren Ausnahme von deutschen Skatclubs, Kegelvereinen oder islamischen Kulturvereinen – identisch mit der Zivilgesellschaft.

Vom Staat bezahlte Zivilgesellschaften

Vor etwa zwanzig Jahren hielt die verstorbene Historikern Karin Priester die „Zivilgesellschaft“ noch für einen „schwammigen Begriff“. Heute liegen die Dinge anders. Mit neuen – indirekt bereits längst zugeflossenen – staatlichen Fördermitteln avanciert die Zivilgesellschaft – der Theorie nach Gegenstück zu staatlicher Regierungsgewalt – in begrifflich positiver Eindeutigkeit zum Träger der modernen Demokratie, zum neuen Souverän.

Immerhin bleibt die staatlich zu fördernde Neudefinition des Begriffs „Demokratie“ nicht unwidersprochen. Die FDP-Politikern Linda Teuteberg hält es für „legitim, dass Menschen sich in Vereinen und NGOs organisieren und sich für ihre Anliegen einsetzen. Aber NGOs wird oftmals eine Bedeutung beigemessen, die ihnen nicht zukommt. Sie sind ihrerseits demokratisch nicht legitimiert, sondern betreiben ihre Art des Lobbyismus. Die Gesellschaft besteht aus mehr als einer Addition von NGOs... Auch legitimes, ja wünschenswertes Engagement löst nicht per se einen Anspruch auf staatliche Alimentierung aus. Im Übrigen ist es ein Widerspruch in sich, sich ostentativ als Zivilgesellschaft zu bezeichnen und dann den Anspruch zu erheben, vom Staat finanziert zu werden.“ (Interview in der FAZ vom 30. Mai 2022, S.4).



Dieser Beitrag erschien zuerst auf Herbert Ammons Blog.

Foto: Screenshot/Berlin direkt

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Karl-Heinz Vonderstein / 11.06.2022

Auch mit dem Begriff Nation hat man so seine Probleme in diesem Land. Im Fußball nennt man die deutsche Elf offiziell DFB Team oder die Mannschaft, aber nicht mehr Nationalmannschaft. Immerhin nehmen ab und zu Fußballkommentatoren noch das Wort Nationalmannschaft im Zusammenhang mit der deutschen Elf in den Mund. Genauso das Problem, den man mit dem Begriff Volk hat. Was erstaunlich ist, da immerhin etwa 87,88 Prozent der gemeldeten Bürger in Deutschland einen deutschen Pass haben. Ich habe mal vor 5 Jahren einen jungen Mann mit türkischem Migrationshintergrund gefragt, ob er sich in Deutschland wohl fühle. Er guckte mich verduzt an und meinte, er wäre doch in Deutschland geboren und hätte sowohl einen türkischen, wie einen deutschen Pass. Warum solle er sich hier nicht wohl fühlen, fragte er mich. Wir redeten weiter miteinander und bald kam es zu einer überraschenden Wende im Gespräch und er zog über Deutschland und die Deutschen her. Die jungen deutschen Männer hätten keine Eier in der Hose und keinen Stolz, das finge schon auf dem Schulhof an, die jungen türkischen Männer würden über sie lachen. Er sagte weiter, der türkische Pass bedeute im ungleich mehr als der deutsche Pass. Der deutsche Pass bedeute ihm wenig. Er sei halt hier geboren. Er sei zwar auch deutscher Staatsbürger, aber Liebe könne er für Deutschland nicht empfinden, im Gegensatz zur Türkei. Wie kann man ein Land lieben, in dem sich die Ureinwohner (so nannte er die Deutschen ohne Migrationshintergrund) keinen Stolz haben, keine Ehre haben und sich untereinander mehr hassen als Fremde.

Sam Lowry / 10.06.2022

Wie bekommt man Herrn Peter Altmaier in eine Talkshow? 2 Würstchen…

martin schumann / 10.06.2022

“Linda statt Lindner.” (Wie Alice Weidel korrekt feststellte: Herr Lindner sollte nie wieder das Wort Freiheit in den Mund nehmen!

Johannes Fritz / 10.06.2022

Hat da einer Wageners Buch gelesen? ;-)

Peter Krämer / 10.06.2022

Dieser Begriff “Zivilgesellschaft” spaltet die Gesellschaft gewollt in zwei Gruppen. Eben die Zivilen, Guten, Aufrichtige und auf der anderen Seite die nicht Zivilen, Abgehängten, der Bodensatz der Gesellschaft.

Hans Meier / 10.06.2022

Ich halte „die Weichwissenschaftliche Redekunst“ für eine „sprachliche Malerei“ in der in Stilen und Epochen, ein relatives, romantisches positives/negatives „Stimmungsbild auf der Bühne jongliert wird“, komplett „ohne Bodenhaftung, wie sie Turner oder Boxer, als sportliche Motoriker, drauf haben. Was den „Kandidaten Olav betrifft, mit dem würde ich zum Verlieben gerne so einige Runden im Ring boxen“, einfach so, um zu schauen“ ob er mich umhauen kann oder ich ihn“. Reden können wir ja dann später, beim Bier, um zu schauen ob wir eventuel Freunde werden könnten, wenn er auf mich hört, wär`s möglich, oder ob er sich einen Rückkampf wünscht. Das mit dem Waffenschicken damit sich nochmehr totmachen müssen, oder von den Aufpassern hinter ihnen von hinten erschossen zu werden, falls sie nich funktionieren, „geht gar nicht“!

Stefan Riedel / 10.06.2022

Also, Demokratie, nicht mehr vorhanden? Wenn ich so eine Figur, sprich so wie den Arsch der Interviewerinnnnn hätte, ein langes Kleid, echt feminin, überlegenswert? Nicht Trans und überhaupt?

Harald Unger / 10.06.2022

Die Bundesrepublik Deutschland (* 23.05.1949 † 04.09.2015) war ein einziger, von den verhassten Amerikanern aufgezwungener Irrtum der Zeitgeschichte. Es ist das epochale, bleibende Verdienst der gelernten DDR-Marxistin, diesen Irrtum beendet zu haben. Weshalb man ihr 16 Jahre Zeit gab, die marxistische Wende unumkehrbar zu stellen. Das einst blühende Land aus der 1. Welt herauszuführen und in die realdystopische Vorhölle eines despotisch beherrschten, 2./3. Welt Lands umzugestalten. - - - Der Amerikahass und die Despotensehnsucht kann hier auf Achse, in Gestalt der Kirche Putin, aktuell miterlebt werden. Weder Maskenvieh noch Putinistas haben irgendetwas von der Demokratie verstanden. Im Gegenteil, beide Gruppen streben einzig den Totalitarismus an. Die ersten passiv, die zweiten aktiv.

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