Seid umschlungen Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt. Schiller war ein junger weißer Mann, als er diese Zeilen schrieb. Beethoven war ein alter weißer Mann, als er sie vertonte. Beide haben ihre Worte nie in die Tat umgesetzt und sich damit eine Menge Ärger erspart. Hätten sie es versucht, so säßen sie heute wahrscheinlich in der Me-Too-Falle. Ihre Oden und Dramen dürften nicht mehr vorgetragen und aufgeführt, die neunte Symphonie nicht mehr gespielt werden. Aber sie haben es nicht versucht und uns damit eine Menge Freude gesichert.
Aber geschrieben ist geschrieben. Darum darf man die Was-Wäre-Wenn-Frage durchaus mal stellen. Zum Beispiel auch so: Was, wenn einige der angesprochenen Millionen die Aufforderung wörtlich genommen hätten? Was, wenn die eine oder andere Verehrerin zur Umarmung und zum Kuss geschritten wäre? Was, wenn die beiden Revolutionäre von einer Dame der verachteten höheren Stände umarmt und geküsst worden wären? Hätten sie sich der politisch unerwünschten Umarmung entzogen? Entziehen können? Und wenn ja, wie?
Beethoven, der taube alte weiße Mann, hätte gar nicht gehört, dass sich da eine unwillkommene Gräfin an ihn heranschleicht. Zumal, wenn sie es tückischerweise von hinten versucht hätte. Und Schiller? Was, wenn die zur Umschlingung schreitende Person einerseits attraktiv, andererseits aber politisch völlig unpassend gewesen wäre? Wie hätte er sich als junger weißer Mann entschieden? Wer weiß, wer weiß.
Ich hacke so sehr auf den weißen Männern herum, zumal auf den alten, zu denen ich selber gehöre, weil wir ja in grauer Vorzeit in gewisser Weise sozialisiert worden sind. Mutti hat immer gesagt: Sei ein Kavalier. Und ich finde bis heute, dass das keine schlechte Wegweisung war. Das geht meistens auch ganz gut. Tür öffnen, in den Mantel helfen und so (Heute muss man auch hier natürlich auf Ablehnung gefasst sein. Aber die trägt der Kavalier mit Fassung).
Was aber, wenn eine Frau, eingedenk der Schiller-Beethoven'schen Aufforderung zur Umarmung schreitet? Und zwar unaufgefordert? Was tut der Kavalier in so einem Fall?
Bill Clinton hat die Hände keusch hinter dem Rücken gefaltet
Keine leichte Situation. Zwar werfen sich den meisten alten, zum Kavalier erzogenen Männern nicht ständig fremde Frauen in die Arme. Das passiert eher tollen Hechten wie Robert Redford oder Bill Clinton. Wer ist schon ein toller, ständig von Umarmung bedrohter Hecht. An den meisten von uns geht dieser Kelch vorüber, wenn er denn als ein solcher empfunden würde. Aber was, wenn er nicht vorüber geht? Was tun?
Bill Clinton hat vor vielen Jahren bei einem Augsburg-Besuch jedem eventuellen, politisch problematischen Umarmungsversuch entgegengewirkt, indem er die Hände keusch hinter dem Rücken gefaltet hat. Er hat, wie man heute sagen würde, damit ein Zeichen gesetzt. Und zwar durchaus kavaliersmäßig.
Aber ob er damit eine wild entschlossene Umarmungsattacke wirklich erfolgreich abgewehrt hätte? Es ist nicht dazu gekommen. Dem damals erotisch angeschlagenen Besucher blieb eine weitere sexualpolitische Krise erspart, ohne dass er seine Sozialisation als Kavalier verraten musste. Im Falle einer erfolgten Attacke hätte er als gewiefter Politik-Profi wohl doch auf sein Kavaliertum verzichtet und die Angreiferin empört von sich gestoßen. Das hätte auch keine schönen Bilder gegeben, aber einen Tod muss man manchmal sterben.
Warum diese Umarmungsbetrachtung? Aus keinem besonderen Grund. Oder vielleicht doch. Es ist manchmal ein Kreuz, ein alter weißer Mann zu sein. Die einen holt ihre Neigung ein, sich jahrzehntelang als steinzeitlicher Frauenjäger verstanden zu haben. Die anderen tappen in die Falle, einer entschlossenen Umarmerin keinen ebenso entschlossenen Widerstand zu leisten. Es ist leicht, zu singen: Seid umschlungen Millionen. Jenseits der Bühne steckt der Teufel im Detail.