Die grüne Blase ist geplatzt, Habecks Pose des nachdenklichen Intellektuellen ist als Bluff entlarvt, die grünen Heuchler und Dilettanten sind aufgeflogen. So weit, so gut, aber man mache sich nichts vor: Die Ursachen für die desaströse Lage des Landes liegen nicht nur bei den Grünen, sondern bei der gesamten politischen Klasse.
Symptomatisch für den Zustand der politischen Klasse in Deutschland war die Szene im Bundestag wenige Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, als Präsident Selenskyj aus Kiew zugeschaltet war und um Unterstützung bat. Man mag von Selenskyj halten, was man will, aber in diesem Moment war er ein Mann, der um das Überleben seines Landes kämpfte. Seine Ansprache vermittelte eine Dramatik, wie man sie längst nicht mehr gewohnt war und von der die versammelten, Selfie knipsenden Politdarsteller im Rund des Reichstags vollständig überfordert waren. Göring-Eckardt – die Bundestagsvizepräsidentin – reagierte betreten wie eine Gesprächskreisleiterin, wenn ein Sitzungsteilnehmer zu heulen anfängt, und fuhr fort in der Tagesordnung mit dem Verlesen von Geburtstagsgrüßen.
Der Publizist Karl Heinz Bohrer beschrieb die deutsche Elite bereits in den 1980er Jahren als Mainzelmännchen, nicht ahnend, was noch kommen würde. Die Mainzelmännchen von einst waren regelrechte Titanen im Vergleich mit den Habecks, Göring-Eckardts, Faesers, Lauterbachs und Eskens von heute. Man mokierte sich über Joschka Fischers Taxifahrerkarriere, aber was danach kam, war – Claudia Roth. Auf Kohls bräsigen Provinzialismus folgte die verschlagene Angela Merkel. Bei der SPD führte der Weg von Helmut Schmidt und Hans-Jochen Vogel über Engholm, Rau und Schröder zu Schulz, Scholz und Kühnert. Noch steiler bergab ging es bei der CSU: Auf den soliden Stoiber folgte erst der irrlichternde Seehofer und dann der skrupellose Opportunist Söder. Quer durch das politische Spektrum zeigt sich dasselbe Muster: ein intellektueller und charakterlicher Verfall erschreckenden Ausmaßes.
Wie viele Ausfälle innerhalb seiner politischen Elite kann ein Land verkraften? Einige sicherlich, aber ab irgendeinem Punkt wird es kritisch, dann wird der Mangel an Führung zu einem Problem. Zu einem existenziellen Problem. Der Historiker Christopher Clark prägte den Begriff „Schlafwandler“ für eine Elite, die nicht mehr strategiefähig ist, sondern plan- und richtungslos auf den Wellen des Zeitgeschehens treibt. Im frühen 20. Jahrhundert führte das Schlafwandeln der deutschen Elite in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, heute führt sie in die Demontage unseres Wirtschaftsstandorts und unserer Verfassungsordnung.
Das Elitenversagen erreichte einen vorläufigen Höhepunkt, als inmitten einer beispiellosen Energiekrise technisch einwandfreie Kraftwerke abgeschaltet wurden. Mit Ausnahme vielleicht einiger grüner Hanswurste erkannte jeder die fatalen Folgen und die vollständige Unsinnigkeit dieser Entscheidung, aber niemand konnte sich aufraffen, sie zu verhindern. Man nahm es einfach als unvermeidlich hin, ebenso, wie man die völlig außer Kontrolle geratene Masseneinwanderung tatenlos über sich ergehen lässt. Auch dem Ruin der deutschen Autoindustrie durch die EU hatte man nichts entgegenzusetzen. Mehr noch, die tonangebenden linken Agitatoren wirken wie Kaiser Nero auf seinem Balkon höchst befriedigt angesichts des angerichteten Schadens. Wo die Politik abdankt, übernehmen die Narren, Fanatiker und Böhmermänner das Ruder.
Auf die Zerstörung der Industrie folgt die Demontage des Rechtsstaats
Nach der Zerstörung unserer Energieversorgung und unserer Schlüsselindustrie im Namen der Weltrettung geht es nun an den Abbruch des Rechtsstaats. Den Hebel dafür bildet die Kampagne für „Gleichstellung“ und „Antidiskriminierung“ unter dem Banner des Regenbogens. Angeblich geht es dabei um die Rechte sexueller Minderheiten, aber deren Wohlbefinden interessiert in Wahrheit niemanden, denn sonst würde man nicht die Einwanderung aus traditionalistischen und homophoben Kulturen fördern. Tatsächlich ist der Regenbogen das trojanische Pferd, mit dessen Hilfe die Grundfeste des liberalen Rechtsstaats geschleift werden. Das Fanal dazu war das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz zur freien Geschlechtswahl.
Der Jubel von linken Extremisten und Identitätstaliban über dieses Gesetz sollte das liberale Lager eigentlich misstrauisch machen. Stattdessen stimmte man in den Jubelchor über den angeblichen Gewinn an Selbstbestimmung ein. Der Münchner FDP-Direktkandidat bei der bevorstehenden Landtagswahl, Michael Ruoff, twitterte: „Bei der Geburt wird das Geschlecht durch Dritte bestimmt. Wir unterwerfen es der Selbstbestimmung.“ Kleiner Hinweis an Herrn Ruoff: Bei der Geburt wird auch die Elternschaft, das Geburtsdatum, der Geburtsort und der Name durch Dritte bestimmt, und zwar auf der Basis eindeutiger Kriterien, anhand derer der Staat seine Bürger identifiziert und ihre Rechte bzw. Pflichten festlegt. Die objektive Faktizität dieser Maßstäbe ist essenziell, denn sie stellt sicher, dass sich das Verhältnis der Bürger zum Staat in einem eindeutig definierten Rahmen bewegt und den Ansprüchen der einen wie der anderen Seite klare Grenzen gesetzt sind.
Was bedeutet es nun, wenn die Maßstäbe, an denen sich das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern orientiert, durch subjektives Empfinden ersetzt werden?
Es bedeutet nichts anderes als die Auflösung eines Prinzips, das über mehrere Jahrhunderte hinweg erkämpft wurde und die zentrale Errungenschaft des Liberalismus darstellt, nämlich die konstitutionelle bzw. rechtsstaatliche Einhegung des Staates. Nach dem liberalen Prinzip, das seit der Glorious Revolution in England etabliert wurde, war der Staat nicht mehr zuständig für Dinge wie das Seelenheil seiner Bürger, sondern nur noch für die Aufgaben, die ihm explizit übertragen wurden, insbesondere die Gewährleistung von äußerer und innerer Sicherheit. Auf der anderen Seite waren auch die Pflichten der Bürger wie Wehrdienst und Steuerpflicht klar definiert; jenseits dieser Pflichten schuldete man dem Staat nichts. Keine Bekenntnisse, keine Treueschwüre, keine Unterwerfungsgesten, keine Kniefälle vor irgendwelchen Gesslerhüten.
Mit dem steuerfinanzierten und geheimdienstlich unterstützten „Kampf gegen Rechts“, immer dreisteren Sprachmanipulationen und neuen Formen der Gehirnwäsche („Nudging“) wurde diese Grenze aufgeweicht. Mit dem sogenannten Selbstbestimmungsgesetz wurde sie eingerissen und damit das Ende des liberalen Staatsverständnisses besiegelt. Wenn es dafür noch einer Bestätigung bedurfte, dann lieferte sie die von den Grünen in ein Staatsamt beförderte linke Aktivistin Ataman, als sie in einem Grundlagenpapier vorschlug, das Antidiskriminierungsgesetz auszuweiten und die Maßstäbe für Diskriminierungstatbestände massiv aufzuweichen. Letztlich lief es darauf hinaus, „Wahrscheinlichkeit“, „Glaubhaftmachung“ und subjektive Betroffenheit an die Stelle rechtssicherer Fakten zu setzen.
Was da unter dem Denkmantel der Antidiskriminierung und der Selbstbestimmung daherkommt, ist nichts anderes als ein Frontalangriff auf den Rechtsstaat mit einer im Kern totalitären Stoßrichtung. Wenn sich der Staat bei der Identifikation seiner Bürger und bei der Definition rechtlicher Tatbestände nicht mehr an objektiven Kriterien orientiert, sondern an subjektiven Wahrnehmungen, dann dehnt er seinen Zuständigkeitsrahmen aus – bis in den Bereich des persönlichen Denkens und Fühlens hinein. „Das Private ist politisch“, hieß es bei den Extremisten der 68er-Bewegung, womit sie nichts anderes meinten, als die Auflösung des liberalen Rechtsstaats, die nun, unter tätiger Beihilfe von Liberalen und Konservativen, ins Werk gesetzt wird.
Angeblich soll die individuelle Selbstbestimmung erweitert werden, aber tatsächlich wird sie zu einer Angelegenheit des Staates und damit faktisch beseitigt. Wenn es als rechtliche Grundlage genügt, sich subjektiv diskriminiert zu fühlen, dann folgt daraus, dass auf der anderen Seite auch falsche Einstellungen nach der Definition von Leuten wie Ataman genügen, um zum Adressaten staatlicher Sanktionen und Umerziehungsmaßnahmen zu werden. Zum Tatbestand des Gedankenverbrechens ist es da nicht mehr weit. Wer Subjektivität zur Norm erklärt, beerdigt den Rechtsstaat und öffnet der Willkür Tür und Tor. Inquisition und Gulag sind die direkte, geradezu zwangsläufige Konsequenz eines Staates, der die Schaffung einer schönen, neuen, gerechten, diskriminierungsfreien und klimaneutralen Welt bis in die persönliche Sphäre von Einstellungen und Wahrnehmungen hinein betreibt.
Das Versagen der FDP
Und was macht die FDP? Atamans Versuchsballon wurde zwar nach Protesten der Liberalen wieder eingeholt, aber das muss nicht viel heißen – siehe Impfpflicht und „Selbstbestimmungsgesetz“. Auch die FDP leidet unter einem deutlichen Qualitätsverlust ihres Personals, was unmittelbar ersichtlich wird, wenn man die Namen Dahrendorf und Lindner gegenüberstellt. Dahrendorf oder Lambsdorff wären den Linken nicht auf den Leim gegangen, bei der Zerstörung von Wohlstand und Freiheit hätten sie sich nicht zu Komplizen gemacht. Aber auf die Lindners, Kuhles und Ruoffs ist kein Verlass. Letzterer bezeichnet sich auf Twitter als „liberaler Klimaretter“, womit alles gesagt ist.
Genau weiß man nicht, was bei der Lindner-FDP überwiegt, das intellektuelle Unvermögen oder der machtpolitische Opportunismus, aber klar ist: Auch die FDP hat dem totalitären Angriff auf unsere Freiheit nichts entgegenzusetzen. Sind die Landtagswahlen im Oktober geschlagen, wird man Atamans Verirrungen stillschweigend hinnehmen, so, wie man auch ihre Ernennung hingenommen hat. Man wird sich wie üblich darauf beschränken, die liberale Rumpfgefolgschaft mit ein paar knackigen Sprüchen von Wolfgang Kubicki bei der Stange zu halten und sich ansonsten in die Unvermeidlichkeit des linksgrünen Zerstörungswerkes fügen.
Wohin man auch blickt, die politische Klasse bietet ein desolates Bild. Deutschland ist führungslos. Über dem orientierungslos dahintreibenden Land kreisen die chinesischen Geier und machiavellistische Blender vom Schlage eines Markus Söder wittern ihre Chance. Einziger Ausweg wäre ein Elitenwechsel, aber eine fähige Gegenelite ist weit und breit nicht zu erkennen. Hierin liegt die eigentliche Dramatik der aktuellen Lage.
Roger Schelske ist Politikwissenschaftler.