Henryk M. Broder / 07.07.2016 / 08:36 / Foto: Mattbuck / 10 / Seite ausdrucken

Die Übelnehmer vom Dienst. Oder: Einfach gehen, das geht nicht

Zweierlei können deutsche Journalisten nicht ausstehen: Wenn Wahlen nicht so ausgehen, wie sie es gerne hätten und wenn Politiker zurücktreten, ohne sie vorher gefragt zu haben. Dann nehmen sie übel. Beide Phänomene kann man derzeit von frühmorgens bis spätabends erleben, im Radio, im Fernsehen, in den Zeitungen, im Unisono der Kommentare zum Brexit.

Vergangenen Montag fing Thomas Roth die Tagesthemen der ARD mit folgenden Worten an: „Ein ganzes Land stürzte sich in ein Referendum, wählte sich aus der EU und dann – dann suchten die wichtigsten politischen Antreiber schnurstracks das Weite. Der vorerst letzte in der Reihe machte sich heute in London davon, Nigel Farage... trat völlig überraschend zurück. Er hatte mit allen Mitteln, auch dem der Vorspieglung falscher Tatsachen, die Brexit Kampagne vorangetrieben, aber jetzt ist ihm wohl nach mehr Freizeit zumute...“

So etwas könnte in Deutschland nicht passieren, noch nie hat ein deutscher Politiker zum Mittel der Vorspiegelung falscher Tatsachen gegriffen und etwa behauptet, die Renten wären sicher, die Griechenland-Rettung würde uns keinen Euro kosten und mit den Flüchtlingen kämen „Facharbeiter“ ins Land, die von der deutschen Wirtschaft dringend gebraucht würden.

Vor allem aber: Noch nie ist ein deutscher Politiker völlig überraschend zurückgetreten. Normalerweise nehmen sich deutsche Politiker viel Zeit, wie Ex-Präsident Christian Wulff, der wochenlang durch das Mediendorf gejagt wurde. Wer gleich zurücktritt, versaut der Meute den Spaß am Jagen.

Damit war der Ton für Bericht der Londoner ARD-Korrespondentin gesetzt, die ihrerseits gleich in medias res ging: „Mit einem Lächeln macht er sich vom Acker, noch einmal die große Bühne suchen, alle überraschen und dann den Bettel einfach hinschmeißen, so einfach kann Politik sein, wenn man keine Verantwortung tragen muss, für Nigel Farage, den gnadenlosen Populisten ist das nur folgerichtig...“ Farage habe „rücksichtslos gegen Einwanderer gehetzt, das politische Klima vergiftet und jetzt macht er sich aus dem Staub“, nach Boris Johnson „der zweite Brandstifter, der einfach geht“.

Einfach gehen, das geht nicht. Ein richtiger Politiker muss schon bis zum bitteren Ende durchhalten und sich dann die Kugel geben.

Zuerst erschienen in der Züricher Weltwoche

Achgut.com ist auch für Sie unerlässlich?
Spenden Sie Ihre Wertschätzung hier!

Hier via Paypal spenden Hier via Direktüberweisung spenden
Leserpost

netiquette:

Caroline Neufert / 09.07.2016

Lange gesucht und gebraucht, um eine äußerst schwache, lächerliche Rechtfertigung für Ihre “Brüder” (die zwar gegen etwas opponieren, aber sich davon bezahlen lassen) zu finden ;-).  “Ein richtiger Politiker muss” nicht “bis zum bitteren Ende bleiben”, aber JA, “einfach gehen, geht nicht” bzw geht schon ist aber feige und verantwortungslos und hat nichts mit Recht “Freiheit zu qewinnen”  zu tun. Wer Erwartungen bewusst weckt, muss diese nicht erfüllen, weil er es nicht kann, aber zumindest erklären, warum und eine Lösung/Alternative präsentieren. Das ist Benehmen und Verantwortung ... das will und kann heute kaum noch einer ... Wenn in einer Autowerkstatt nur die Scheibenwischer gewechselt, aber nicht die Bremsklötze erneuert,weil sich der Kfz-Meister, die Freiheit nimmt, keine Lust zu haben, würden Sie es übelnehmen , ... ;-) aber das ist natürlich, was ganz anderes ...

Burkhart Berthold / 08.07.2016

Wer Farage vorwirft, sich aus der Verantwortung zu stehlen, übersieht, dass Farage kein Amt inne hatte, in dem er Verantwortung hätte wahrnehmen können. Ebenso wenig hatte er aufgrund des englischen Mehrheitswahlrechts eine Chance, je in das englische Parlament gewählt zu werden - also in ein richtiges Parlament. Ob man ihm zustimmt oder nicht, ob man den Brexit für weise hält oder nicht - der Vorwurf von Roth e.a. gegen Farage ist also unbegründet.  Anders, aber ähnlich verhält es sich mit Boris Johnson: Dem ist von seinen Parteifreunden im Unterhaus schlicht der Teppich unter den Füßen fortgezogen worden. Aber der wird schon wiederkommen, der Boris.

Franck Royale / 07.07.2016

Vielleicht nennt man das später einmal das Brexit-Syndrom: Menschen erleben eine tiefe Trauer und Orientierungslosigkeit, wenn der gehasste Feind die Arena verlässt.

Reiner Engler / 07.07.2016

Die Trennung von Nachricht und Kommentar war vor-vor-vor-vorgestern. Erinnert sich überhaupt noch jemand an diese wunderbaren Zeiten?

Jutta Faerber / 07.07.2016

“Es bleibt dabei, dass die Förderung erneuerbarer Energien einen durchschnittlichen Haushalt nur rund 1 Euro im Monat kostet - so viel wie eine Kugel Eis.” Trittin

Karla Kuhn / 07.07.2016

In Deutschland einfach zurücktreten? Das klappt schon deshalb nicht, weil der Pattex von bester Qualität ist.

Tom Hess / 07.07.2016

Was wohl hierzulande jemand (ob Politiker oder nicht, ist unwichtig) machen würde, wenn ein ein Bürgervotum als Lebensaufgabe hätte und dieses Ziel irgendwann erreicht? Als Kanzler gewählt werden, selbst, wenn seine Interessensgruppe nicht mal im Parlament wäre? Die Logik ist nur logisch, solange die eigene Logik das logischerweise gestattet. Ist doch logo, oder? ;)

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Henryk M. Broder / 17.02.2025 / 11:00 / 45

Svenja Schulze lässt es krachen

Was macht frau, wenn es gerade nicht für Schlagzeilen reicht? Eine Sitzung! Auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Und eine "Joint Declaration of Intent"! Aber sowas von.…/ mehr

Henryk M. Broder / 03.02.2025 / 14:00 / 112

Weiße Männer ohne Migrations-Hintergrund

Eine Podcasterin hat sich zu Wort gemeldet und erklärt, sie habe „sieben sexuelle Übergriffe“ erlebt, keiner der Täter habe „einen Migrationshintergrund“ gehabt. „All diese Männer…/ mehr

Henryk M. Broder / 26.01.2025 / 10:00 / 70

Poschardt und die „Shitbürger“  

Der langjährige Chefredakteur der "Welt", Ulf Poschardt, hat das Wort "Shitbürger" erfunden und gleich ein Buch über diese geschrieben: "In Zeiten ohne Not und Elend blüht…/ mehr

Henryk M. Broder / 25.01.2025 / 16:00 / 90

Herr Thierse ist es leid, ein Vasall zu sein!

Linke wie rechte deutsche Patrioten werden den Amis den Schutzschirm, den sie ihnen boten, nie verzeihen. Die Kränkung sitzt tief, und sie bricht wie eine unbehandelte Wunde…/ mehr

Henryk M. Broder / 22.01.2025 / 14:00 / 89

Sittler macht aus Miller einen Eichmann

Der Schauspieler Walter Sittler ("Das Traumschiff") wurde in den USA geboren und gilt deswegen als ein Amerika-Kenner. Neulich war er wieder im Fernsehen zu Gast,…/ mehr

Henryk M. Broder / 16.01.2025 / 14:00 / 84

Der künstliche Broder über die echte Claudia Roth

Ich habe KI gebeten, einen Text über Claudia Roth zu schreiben, so wie ich ihn schreiben würde. Hier das Ergebnis. Ich muss zugeben, ich bin…/ mehr

Henryk M. Broder / 09.01.2025 / 14:00 / 29

Stuttgart und die Dhimmis – Dritter Teil

Man soll sich mit der Obrigkeit nicht anlegen und – wenn es dem Miteinander dient – ruhig dummes, unverdautes Zeug labern, damit die Hand, die…/ mehr

Henryk M. Broder / 08.01.2025 / 10:00 / 90

Es gibt keine No-Go-Areas für Juden in Stuttgart! Wirklich?

Nachdem wir hier über die Warnung vor No-Go-Bereichen für Juden in Stuttgart berichtet haben, verschickt der Vorstand der jüdischen Gemeinde über die Sprecherin des Oberbürgermeisters…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com