Die Tücken der Parolen

Von Klaus Leciejewski.

Eines Tages war es da, niemand wusste, wer es angebracht hatte, es flatterte fröhlich im Wind. Über dem Eingangsportal des Literaturinstituts der Universität von Havanna hing ein Spruchband mit der markanten Aussage: «Alles, was wir sind, sind wir durch die Revolution!»

Den Studenten und ihren Professoren waren Losungen zum Lobpreis der Revolution nun wahrlich nichts Neues, weshalb auch das Spruchband zunächst keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zog. Aber das änderte sich binnen weniger Tage. Anfangs blieben nur einzelne Studenten vor dem Portal stehen, schauten nach oben und grinsten. Dann wurden es immer mehr, bis auch Professoren innehielten. Ganz selbstverständlich ging man davon aus, dass irgendeine höhere staatliche Instanz die Losung angebracht hatte; schliesslich entsprach sie exakt der Sicht der Staats- und Parteiführung, gemäss welcher die Revolution alles, aber auch wirklich alles auf Kuba umgekrempelt hatte, wodurch eine völlig neue Gesellschaft entstanden sei.

Zweifelhafte Errungenschaften

Dann geschah etwas Seltsames: Das Portal des Literaturinstituts bevölkerte sich. Scheinbar rein zufällig gingen nun auch zahlreiche Studenten anderer Fakultäten mit in den Nacken gelegten Köpfen an ihm vorbei, sogar Mitglieder der Parteileitung wurden erkannt.

Die Studenten und ihre Professoren dachten beim Lesen der Losung an genau dasselbe. Sie dachten nicht an die Revolution, sondern an den desolaten Zustand ihres Gebäudes, an die fehlenden Lehrmaterialien, an die menschenunwürdigen Wohnbedingungen der Studenten, an das abscheuliche Mensaessen, an den geistigen Zwang, dem sie alltäglich ausgesetzt waren.

Die Professoren erinnerten sich, dass sie niemals an internationalen Literaturdiskussionen würden teilnehmen können, dass sie sogar ihre Lieblingsschriftsteller vor den Studenten verleugnen mussten und über die emigrierten kubanischen Autoren regelmässig Verachtung auszugiessen hatten, dafür aber den Schwachsinn der Staatsschriftsteller als grösste künstlerische Leistung würdigen mussten. Die Studenten wiederum dachten vor allem daran, dass die Mehrheit von ihnen nur ein Lebensziel hatte, welches nicht Literaturwissenschaft oder Lektorentätigkeit oder gar Schriftstellerei hiess. Dieses Lebensziel hatte lediglich fünf Buchstaben: Miami!

Der schöne Schein – entlarvt

Noch amüsierten sich die Studenten über die Losung, zwar nur heimlich, aber doch deutlich. Auf den ersten Blick stiess sie der Absolutheitsanspruch ab, denn schliesslich verdankten sie das, was sie waren, nicht zuletzt ihren Familien – und hatten sie nicht auch eigene Wünsche? Der zweite Blick ging tiefer. Die Losung kam ihnen wie ein prägnanter Aphorismus vor. Die Revolution, die sie tagtäglich zu preisen hatten, war verantwortlich für ihre elenden Lebensbedingungen und für ihre schizophrene Geistesverfassung.

Sie war dafür verantwortlich, dass sie zugleich ihre Heimat lieben und sie so schnell wie nur möglich verlassen wollten. Offiziell war die Revolution die grösste Errungenschaft des Landes; in der abstrakten Formulierung dieser Losung wurde sie zum Gegenteil, das Scheinbare an ihr wurde öffentlich. Dafür liebten die Studenten das Spruchband. Nun schwante auch dem letzten Parteimitglied, dass irgendetwas an der Losung verräterisch sein musste.

Einige Tage später war das Spruchband über Nacht verschwunden. So wie niemand wissen wollte, wer das Spruchband angebracht hatte, wollte auch niemand die Umstände seines Verschwindens erfahren. Indessen hatte sich die Erinnerung daran in den Köpfen der Studenten verankert. Eine diabolische Freude war in ihre Seelen eingezogen

Der Beitrag erschien zuerst in der NZZ

Klaus D. Leciejewski hat an verschiedenen deutschen Hochschulen Wirtschaft gelehrt, ist Autor mehrerer Sachbücher und Publizist. Er ist mit einer Kubanerin verheiratet und lebt einen großen Teil des Jahres auf Kuba

Foto: Tim Maxeiner

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Leserpost

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Engelbert Gartner / 26.09.2017

Sehr geehrter H. Leciejewski. Nachdem ich Ihren Text gelesen hatte, mußte ich unwillkürlich an die Situation in der ehemaligen DDR denken. Gedanklich ging es danach unwillkürlich an unsere Medien, die von linken Redakteuren geleitet werden und uns vormachen wollen, dass unsere Bundeskanzlerin alles auf den richtigen Weg bringen wird. Mit traurigen Grüßen E. Gartner

André Dreilich / 26.09.2017

Da werden Erinnerungen wach ... nein, nicht an DDR-Parolen wie “Heraus zum 1. Mai” an der Friedhofsmauer usw. Ganz anders: Ich habe Anfang 1989 Artikel 27 der DDR-Verfassung an die Pinnwand meines Institutes (Sektion Chemie der damaligen Leipziger Karl-Marx-Universität) gehängt. Zur Erinnerung: “1   Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. Dieses Recht wird durch kein Dienst- oder Arbeitsverhältnis beschränkt. Niemand darf benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht. 2   Die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens ist gewährleistet.” Ok, ich hatte in Absatz 1 die Passage “der Deutschen Demokratischen Republik” durch “...” ersetzt und damit Spekulationen Tür und Tor geöffnet. Dafür konnte mich dann ergötzen, wie diverse Wichtigmenschen sich über die vermeintliche Provokation ereiferten. Etwas später habe ich die Auflösung in Form der Quellenangabe nachgeschoben ... Wobei ... inzwischen eckt man meiner Erfahrung nach mit §5 Abs. 1 GG ja auch schon wieder an ... “(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.”

Christian Fuchs / 26.09.2017

Der einzige Feind der Wirklichkeit ist die Zeit. Auch wenn der Schein und die Selbstleugnung sich noch so gut und ausgefeilt geben arbeitet die Wirklichkeit gegen diese. Leider können die meisten Menschen die Zeit nicht erfassen und können damit leicht getäuscht werden, ähnlich einem Kleinkind das erst noch lernen muß mit der Höhe umzugehen nachdem es Entfernungen abschätzen gelernt hat.

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