Von Okko tom Brok.
Kann es im Leben von Individuen und im Zusammenleben von Völkern überhaupt eine Fehleranalyse geben, die die Schuldfrage von vorneherein ausklammert? Und wie sollte Schuld eigentlich „verarbeitet“ oder „bewältigt“ werden? Corona ist nur ein letztes von vielen Beispielen.
„Wir werden einander viel zu vergeben haben!“ Mit diesen Worten kommentierte einst der frühere CDU-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die von ihm beschlossenen Anti-Corona-Maßnahmen, die zeitweise zu den strengsten der Welt gehörten. Es waren vielleicht die klügsten Worte, die während des „Corona-Irrsinns“ der Jahre 2020-23 von einem deutschen Politiker geäußert wurden.
Der katholische Jurist Spahn wusste vermutlich wovon er sprach, als er sehr früh während der sog. Covid-19 Pandemie auf den engen Zusammenhang von Schuld und Vergebung hinwies. Solche hellsichtigen Momente erleben wir in der deutschen Politik seit über einem Jahrzehnt kaum noch. Wo Schuld und Vergebung tatsächlich noch zusammengedacht werden, geschieht es oft in einem selbstrechtfertigenden Kontext, wenn etwa der derzeitige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) im Oktober für eine Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen ohne Schuldzuweisungen plädierte.
Doch kann es im Leben von Individuen und im Zusammenleben von Völkern überhaupt eine Fehleranalyse geben, die die Schuldfrage von vorneherein ausklammert? Und wie sollte Schuld eigentlich „verarbeitet“ oder „bewältigt“ werden?
Deutschland stand als Nation zweimal an dem Punkt, mit schwerer kollektiver Schuld umgehen zu müssen: Das Ende des 3. Reiches wurde juristisch mit den Schuldsprüchen während der sog. Nürnberger Prozesse besiegelt, denen die sog. Phase der Ent-Nazifizierung folgte. Nahezu alle Deutschen mussten dabei einen Fragebogen mit etwa 130 Fragen ausfüllen, dessen Beantwortung die Bürger in fünf Gruppen unterteilte: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. Diese Klassifizierung bestimmte über mögliche Strafen, Entlassungen oder Freisprüche.
Auch das Ende der zweiten deutschen Diktatur, der DDR, legte Maßnahmen zur Aufarbeitung der enormen Schuld im Heimatland der Mauertoten nahe: Mit Hilfe des sog. Stasi-Unterlagengesetzes wurden Bewerber im Öffentlichen Dienst auf ihre Vergangenheit im DDR-Unrechtsstaat überprüft, von Unrecht betroffene Bürger konnten ihre eigenen Stasi-Akten einsehen, und es wurden vereinzelt auch Prozesse gegen hochrangige SED-Funktionäre wie Erich Mielke und Egon Krenz geführt, auch wenn die Urteile sehr häufig hinter den Erwartungen der Opfer zurückblieben. Einer der wenigen, die zu Haftstrafen verurteilt wurden und die die Unrechtmäßigkeit ihres Tuns tatsächlich anerkannten, war Günter Schabowski, besser bekannt für die unerwartete, vermutlich versehentliche Maueröffnung vom 9.11.1989 („Nach meiner Kenntnis ist das sofort... unverzüglich!“).
In beiden Fällen gelang die „Aufarbeitung“ nach Meinung von Historikern und Politologen sehr oft nur unzureichend. Das Ausmaß der Schuld und die Anzahl der Schuldigen bzw. Mitläufer waren offenbar viel zu groß. Und viel zu oft ließ sich ein Schuldurteil unter Hinweis auf Befehlsnotstände, Unwissenheit oder einen schlechten Gesundheitszustand abwenden, was zu Freisprüchen oder Verfahrenseinstellungen führte. Wo dennoch Urteile gefällt wurden, war schnell von „Hexenjagden“ die Rede. Die „Täter-Opfer-Umkehr“ hat in Deutschland und Europa leider eine lange Tradition.
Aber warum sollte Schuld überhaupt „aufgearbeitet“ werden? Was spräche gegen ein schlichtes „Vergessen“? Warum nicht einfach „Schwamm drüber“?
Schuld aus der Sicht verschiedener Fachdisziplinen
Schuld ist ein Begriff von immenser Tragweite, der in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen eine zentrale Bedeutung hat und der tief in das menschliche Zusammenleben hineinwirkt.
Die juristische Beurteilung von Schuld differenziert zwischen mehreren, in dieser Auflistung aufsteigenden Schweregraden: 1. Einfache und grobe Fahrlässigkeit, 2. Eventualvorsatz (bedingter Vorsatz), 3. Vorsatz, 4. Verwerflicher Vorsatz, sowie 5. Schuldminderung durch Unzurechnungsfähigkeit oder Schuldunfähigkeit. Letztere wird seit etwa einem Jahrzehnt sehr häufig bei islamistisch motivierten Terrorakten, jedoch eher selten bei rechtsextremen oder anderweitig verwerflichen Taten geltend gemacht, wodurch das seit der Athenischen Demokratie im 6. Jahrhundert vor Christus geltende juristische Prinzip der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz bedroht ist.
In der Psychologie wird Schuld als ein Gefühl oder eine Emotion betrachtet, die auftritt, wenn ein Individuum glaubt, gegen eine moralische Norm oder einen inneren ethischen Maßstab verstoßen zu haben. Die Psychologie unterscheidet dabei zwischen zwei Formen von Schuldgefühlen: einerseits die „konstruktive Schuld“, die zu Reue, Veränderung und Wiedergutmachung führen kann, und andererseits die „destruktive Schuld“, die sich als übertriebene Selbstbeschuldigung oder neurotische Schuld äußert und in Scham, Selbstzweifel und Depression münden kann.
In der klinischen Psychiatrie spielt die Verarbeitung von Schuld insbesondere bei Depressionen und Angststörungen eine bedeutende Rolle. Sigmund Freud sprach von einer „kulturellen Über-Ich-Bildung“, die in einem ständigen Schuldgefühl resultieren könne, auch wenn kein reales Fehlverhalten vorliegt. In der modernen Psychiatrie wird Schuld oft als Symptom gesehen, das auf tiefere psychische Konflikte hinweist. Therapeutische Ansätze zur Schuldverarbeitung zielen darauf ab, ein gesundes Maß an Verantwortung zu fördern und exzessive Selbstvorwürfe zu mindern, etwa durch kognitive Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologische Methoden.
Verdrängte und unverarbeitete Schuld kann also Individuen und ganze Gesellschaften krank machen. Bereits das Alte Israel wusste um diese toxische Wirkung von ungesühnter Schuld. Im alttestamentlichen Opferkult ist der Begriff der „Sühne“ (hebr. Kipper bzw. קיפר) von grundlegender Bedeutung. Sühnehandlungen dienten dazu, die durch Sünde verursachte Störung zu bereinigen und die Gemeinschaft mit Gott wiederherzustellen. Im dritten Buch Mose (Levitikus) werden detaillierte Vorschriften für verschiedene Arten von Sühneopfern beschrieben, darunter das Sündopfer (ḥaṭṭā’t bzw. חַטָּאָת) und das Schuldopfer (’āšām bzw. אָשָׁם). Diese Opfer sollten die sündhafte Verunreinigung beseitigen und eine Reinigung herbeiführen, sowohl für das Individuum als auch für das Volk.
Ein besonders anschauliches Beispiel für die Funktion der Sühneopfer ist der Jom Kippur, der „Versöhnungstag“. An diesem höchsten jüdischen Feiertag wird symbolisch die gesamte Schuld des Volkes Israel getilgt. Das zentrale Ritual des Tages war in antiker Zeit die Opferung zweier Böcke. Einer dieser Böcke wurde als Sühneopfer geschlachtet, und sein Blut wurde auf den Gnadenthron im Allerheiligsten des Tempels gesprengt, um den Raum von der Befleckung durch die Sünden des Volkes zu reinigen. Der zweite Bock, der sogenannte „Sündenbock“, spielt eine besondere Rolle: Die Sünden des Volkes wurden symbolisch auf ihn übertragen, um ihn anschließend in die Wüste zu schicken und um die Schuld aus der Gemeinschaft zu entfernen (Levitikus 16,10). Dieser „Sündenbock“ trägt die Sünden buchstäblich fort, weg von der Gemeinschaft, und symbolisiert so die Tilgung der als geradezu toxisch wahrgenommenen Schuld.
Der „Sündenbock“ als Träger der kollektiven Schuld
Die Figur des Sündenbocks ist ein eindrucksvolles Beispiel für die symbolische Übertragung von Schuld auf ein unschuldiges Opfer. Der Sündenbock fungiert hier als Träger der Last der gesamten Gemeinschaft. Diese Übertragung der Schuld auf ein Tier und dessen anschließende Verbannung spiegelt die tiefsitzende Überzeugung wider, dass Schuld nicht nur ein innerer moralischer Makel ist, sondern eine reale, greifbare Kraft, die aus der Gemeinschaft entfernt werden muss, um das Volk von Gottes Zorn und der Konsequenz der Sünde zu befreien.
Der Begriff „Sündenbock“ hat in der modernen Sprache eine metaphorische Bedeutung erlangt, indem er auf Menschen angewendet wird, die für die Fehler oder Vergehen anderer zur Verantwortung gezogen werden. Im alttestamentlichen Kontext war die Idee jedoch wörtlich und rituell: Die Sünden des Volkes wurden durch priesterliche Handlungen auf den Bock übertragen, der dann die symbolische Funktion eines Entsorgers der kollektiven Schuld einnahm.
In der christlichen Tradition ersetzte der Kreuzestod Jesu die Funktion des jüdischen „Opferlamms“, wie es z.B. die Abendmahlsliturgie mit dem feierlichen Gesang „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Schuld der Welt, erbarm dich unser!“ gemäß der biblischen Überlieferung z.B. nach Johannes 1,29 zum Ausdruck bringt.
In allen drei monotheistischen Religionen wie dem Christentum, dem Judentum und dem Islam wird Schuld entweder als ein Verstoß gegen göttliche Gebote oder das Fehlverhalten gegenüber anderen Menschen verstanden, was eine Trennung von Gott und Mitmenschen zur Folge hat. Der biblische Begriff der Sünde (von altgermanisch *Sundi, Absonderung), oft synonym mit Schuld verwendet, ist in der christlich-jüdischen Tradition eng mit der Vorstellung von Vergebung verbunden. Der Schweizer evangelische Theologe Karl Barth (1886-1968) stellte gerade auch mit Blick auf die deutsche Geschichte fest, dass Schuld im christlichen Kontext immer in Beziehung zur göttlichen Gnade stehe: Schuld sei nie das letzte Wort, denn die Möglichkeit der Vergebung durch Christus stehe immer offen.
Besonders hervorzuheben ist der Bußgedanke, der im Christentum tief verwurzelt ist. Das Sakrament der Beichte in der katholischen Kirche oder der Buß- und Bettag in der evangelischen Tradition sind Praktiken, die das Schuldbewusstsein in den liturgischen Raum einbinden und Raum für Reue und Wiedergutmachung bieten. Martin Luther bezeichnete die Buße als eine ständige Lebenspraxis, nicht nur als sakramentalen Akt. Für Luther führt Buße zu einem „fröhlichen, friedlichen Herz“. „Buße“ kommt etymologisch von „Besserung“. In der christlichen Theologie bietet ein Schuldeingeständnis immer auch das Potential zur Erneuerung durch Reue und göttliche Vergebung, die letztlich Versöhnung ermöglicht.
Der Reformationstag am 31.10. erinnert ebenfalls daran, dass Vergebung nicht ohne echte Reue und schon gar nicht durch „Ablasszahlungen“ zu erlangen ist.
Kirchliche und religiöse Praktiken zur Bewältigung von Schuld
Religiöse Praktiken, die auf die Bewältigung von Schuld abzielen, sind in den meisten Traditionen stark ritualisiert. Diese Rituale, wie die Beichte oder das Gebet der Vergebung im Islam (Tawba), haben eine kathartische Funktion. Der Bußgedanke ist dabei nicht nur ein individueller Akt, sondern oft auch ein kollektiver. Die Liturgie des Jom Kippur im Judentum ist wie gesehen ein Beispiel für die kollektive Bewältigung von Schuld, die sowohl persönliche Verfehlungen als auch die Schuld der Gemeinschaft vor Gott und den Mitmenschen adressiert.
In der deutschen Geschichte stellt die Stuttgarter Schulderklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1945 ein herausragendes Beispiel für eine kollektive kirchliche Auseinandersetzung mit Schuld dar. In dieser Erklärung bekannten die leitenden Vertreter der Evangelischen Kirche ihre Mitschuld am Leid des Zweiten Weltkriegs und am Nationalsozialismus. Als „kirchliches Machtwort“ war das Dokument zu seiner Zeit hoch umstritten, weil viele Deutsche es als zu weitgehend empfanden („Nestbeschmutzer“). Doch historisch betrachtet war dieser Schritt essenziell für den Wiederaufbau einer moralisch verantwortlichen und glaubwürdigen Kirche in der Nachkriegszeit. Es war ein Prozess der öffentlichen Buße und des Eingeständnisses von Schuld, der trotz seiner anfänglichen Kontroversen dazu beitrug, ein neues Selbstverständnis von Verantwortung und Reue in der deutschen Gesellschaft zu fördern.
Eine „Wahrheitskommission“ als Weg zur Versöhnung
Einen besonders interessanten Weg der Aufarbeitung von Schuld ging einst in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts das Post-Apartheid Südafrika mit der Einrichtung einer sog. „Wahrheits-Kommission“: Mit dem nahenden Ende des Apartheidregimes drängten die bisherigen Machthaber auf eine umfassende Generalamnestie, um sich und ihre Unterstützer vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen. Der African National Congress (ANC) hingegen forderte gerichtliche Verfahren, um die Verbrechen der Apartheid, jener Politik einer extremen Rassentrennung, öffentlich aufzuarbeiten. Nach den ersten freien Wahlen im Frühjahr 1994 zeichnete sich jedoch ein anderer Kurs ab: Abdullah Omar, der neue Justizminister, schloss sowohl Tribunale nach dem Vorbild der „Nürnberger Prozesse“ als auch eine Generalamnestie aus. Stattdessen stellte er die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission in Aussicht – ein Instrument, das Offenlegung und Aussöhnung gleichermaßen ermöglichen sollte. Von insgesamt 7.100 Amnestiegesuchen wurden dabei 849 gebilligt, doch in vielen Fällen zog sich die juristische Aufarbeitung viele Jahre hin. Immerhin rund 16.000 Opfer der Apartheid erhielten eine Entschädigung, die jedoch auf 20.000€ begrenzt war. Die intensiven Täter-Opfer-Gespräche mögen in vielen Fällen unzureichend gewesen sein, sind aber als Versuch einer gesellschaftlichen Versöhnung bis heute einmalig und wegweisend.
Kontrast: Schuld als Bewältigung und Schuld als Beharren
Im Kontrast zu solchen Versuchen von Buße und Vergebung steht eine Erinnerungskultur, die Schuld als etwas Unverzeihliches festschreibt. Hier wird nicht auf Vergebung abgezielt, sondern auf ein „Beharren“ auf der Schuld. Der jüdische Historiker Michael Wolfssohn gab seinem epochalen Buch zum Thema einer derartig fehlgeleiteten Erinnerungskultur in Deutschland den entsprechenden Titel „Ewige Schuld?“. Fehlgeleitet wäre demnach eine Erinnerungskultur, die Schuld unablässig ins Gedächtnis ruft, ohne eine Perspektive der Versöhnung oder der inneren Heilung anzubieten. Ein solches Beharren kann zu einer Kultur der Verbitterung führen, in der die Schuld ewig präsent bleibt und keine Auflösung in Form von Vergebung erfährt.
In der Psychologie und Psychiatrie würde eine solche Haltung als ungesund betrachtet. Exzessive Schuld, die nicht durch Vergebung oder Selbstakzeptanz aufgelöst wird, kann in einen pathologischen Zustand übergehen. Studien zeigen, dass eine ständige Fixierung auf vergangene Fehler und die Weigerung, sich selbst oder anderen zu vergeben, zu chronischen psychischen Erkrankungen führen kann.
Auch in der christlichen Theologie ist die Idee einer Schuld ohne jegliche Option auf Vergebung und einen Neuanfang problematisch. Im christlichen Verständnis bedeutet Schuld immer auch die Möglichkeit zur Umkehr, Reue und schließlich zur Vergebung. Ein „Beharren“ auf Schuld widerspricht diesem Ansatz fundamental, weil es die heilende Funktion der Gnade negiert. In einer gesunden Gesellschaft wäre es daher wichtig, ein Gleichgewicht zwischen Erinnern und Vergeben zu finden – Schuld vorbehaltlos anzuerkennen, ohne sie zur ewigen Last zu machen.
Der Autor ist Lehrer an einem niedersächsischen Gymnasium und schreibt hier unter einem Pseudonym.