Die Suche nach der entwendeten Liebe

Ich bin der letzte echte Lobo. Vor einigen Jahren hatte ich mich mit einem Stammbaum meiner Familie abgemüht. Der Anfang war nicht schwer, er war dunkel. Die Urmutter und der Urvater interessierten mich nicht. Ich bin katholisch, Adam und Eva reichen mir aus. Als ich erkannte, dass alles Interessante in der Familie erst vor einhundert Jahren mit meinem Großonkel begann und mit seinem Tod auch alles endete, brach ich mein Bemühen ab. 

1958 war mein Urahn, Julio Lobo, der weltweit einflussreichste Zuckerhändler, besaß die größten Ländereien zum Anbau von Zuckerrohr in Kuba, die besten Zuckerfabriken und er war der bedeutendste Kunstsammler des Landes. Seine  Eltern waren zum Katholizismus übergetretene sephardische Juden, die nach langen Irrfahrten von Venezuela nach Kuba auswanderten. Am Morgen verdiente er mit Zucker Geld, am Nachmittag kaufte er damit Gemälde. Ende 1960 musste er von einem auf den anderen Tag Kuba verlassen, um sein Leben zu retten. Er ließ alles zurück und sah es nie wieder. Heutzutage meint man, dass materielle Werte nichts gelten, Wissen sei alles. Für meinen Vorfahren traf dies nicht zu. Sein Leben hatte aus Zucker und Kunst bestanden. Im Exil war seine Seele eine erloschene Liebe. Ich bin nach Kuba gereist, um seine Liebe zu suchen. 

Ich fuhr zu seinen Feldern und befand mich in grün überwucherten Einöden. Ich suchte seine Fabriken und blickte auf Ruinen. Eine letzte Hoffnung blieb mir. Zwar wusste ich, dass seine Kunstsammlung weit verstreut ist, aber ein Teil seiner Gemälde hängt heute an den Wänden des Museo Arte National Universal, direkt im Zentrum Havannas. 

Üblicherweise gehe ich in einem Museum nur zu den Ausstellungen, die neu für mich sind. Dieses Museum ist Teil der Geschichte der Heimat meiner Vorfahren. Im kümmerlichen Geschäft des Museums erwarb ich seinen Katalog. Mit zwei Kilo in Großformat begann ich im ersten Geschoss. 

Eine 500jährige Übersicht spanischer Malerei

In mehreren Räumen waren Gemälde aus Südamerika ausgestellt, hauptsächlich aus den letzten einhundert Jahren seiner 300jährigen Kolonialzeit. Es waren keine Meisterwerke, wie hätten sie es in aus den von Europa weit entfernten und durch die spanische Krone isoliert gehaltenen Gebieten auch wohl sein können; allein jedoch, dass auch schon zu dieser Zeit in Mexiko, Peru, Bolivien, Venezuela, Ecuador und sogar in Brasilien Kunstsinn und Kunstgenuss entstanden war und deren größte Sammlung sich heute in Havanna befindet, berührte mein Gefühl von Heimat. 

Gleich daneben stoße ich auf eine verwirrende Sammlung nordamerikanischer Bilder. Dreimal schaut mich George Washington an, verschiedenen Alters, sonst Porträts, Biedermeier, Alpenlandschaften und Genre. Nichts zum Verweilen? Will man Kunstgenuss, sicherlich nicht, aber ich bin in den USA geboren, und unerwartet erlebe ich hier die Verbundenheit meiner kubanischen Vorfahren mit meiner Heimat. 

Das zweite Geschoss hat keinen Namen, noch nicht einmal „Büro“ oder „Technik“. Ein Fahrstuhl führt mich direkt in das dritte, es wird komplett von der spanischen Sammlung eingenommen. Zwar fehlen in ihr – bis auf wenige Ausnahmen – die berühmten Namen, aber ich kann mich nicht erinnern, außerhalb Spaniens jemals eine 500jährige Übersicht spanischer Malerei gesehen zu haben. Allerdings zahlreiche Gemälde aus den Werkstätten und den Schulen von El Greco, Murillo, Velázquez und Goya, also stehenbleiben und die Augen wandern lassen. Dabei fallen mir Gespräche in der Familie über die Sammlung Don Julios ein, in denen Gemälde von Da Vinci, Tintoretto, Rembrandt, El Greco, Goya, Rafael, Renoir oder Salvador Dali erwähnt wurden. Bis auf ein El Greco und ein Tintoretto zugeschriebenes Gemälde sehe ich sie hier nicht.

Ich blättere im Katalog. Mehrfach wird der große Zufluss von Objekten nach der Revolution erwähnt, der sogar den Umzug in das jetzige Haus erforderte. Dreizehn Namen werden angeführt, deren Sammlungen von ihren „bürgerlichen Besitzern bei ihrer Flucht zurückgelassen“ und von der revolutionären Regierung dem Museum übergeben worden waren. Mein Großonkel ist sogar mit einem Foto abgebildet. Wahrscheinlich stammt der größte Teil dieser spanischen Sammlung aus der seinigen, aber wo sind seine kostbarsten Gemälde geblieben? Weshalb wurden die Sammlungen auseinandergerissen, so dass ihre einzelnen Stücke heute nicht mehr zuzuordnen sind? Dreizehn Namen!

Warum haben reiche kubanische Unternehmer Gemälde gesammelt, alte Gemälde, etliche ohne bedeutenden künstlerischen Wert, aber durchaus mit einem kunsthistorischen, jedoch auch ungewöhnlich zahlreiche, die über die Jahrhunderte hinweg bewundert werden? Es waren Kubaner, keine durch den industriellen Aufschwung ungemein reich gewordene US-Mäzene. Der wohlhabendste von ihnen, Julio Lobo, hatte zum Genießen gesammelt, nicht, wie die Wohlhabenden heute, zum Protzen, indessen, wo nicht geprotzt werden darf, entsteht auch keine Liebe zum Sammeln. Er kaufte US-amerikanischen Zuckerunternehmen ihre Ländereien und Fabriken ab, weil er Kubaner war, wie er ebenso die Rebellen in der Sierra Maestra finanzierte, weil er ein demokratisches Kuba im Sinn hatte. 

Nach der Revolution war jeder Kubaner auch ein Patriot

Mir geht eine Frage durch den Kopf. War Julio Lobo auch ein kubanischer Patriot? Nach der Revolution war jeder Kubaner, der sich zur Revolution bekannte, selbstverständlich auch ein Patriot. Alle anderen waren Feinde. Konnte ein Feind der Revolution nicht trotzdem ein Patriot sein, oder gerade deswegen? Sind die Millionen kubastämmigen Amerikaner, die heute Kuba besuchen, so wie ich, immer noch Feinde oder wieder Patrioten?

Ich suche im Museum nach einem Café, und finde eine Cafeteria, angefüllt mit lautem Geschwätz. Ein Museum benötigt einen verschwiegenen Ort, um das zu hören, was beim Betrachten der Ausstellung nicht gesagt wurde, aber wo das Wort Befehl ist, sind verschwiegene Orte subversiv. Auf der Webseite des Museums wird vom massiven Exodus der Bourgeoisie geschrieben, wodurch ihr riesiger Reichtum dem Volk zugänglich wurde. In diesem Museum höre ich nur Touristen.

Im vierten Geschoss werden die Sammlungen ägyptischer, griechischer und römischer Kunst präsentiert. Eine Aneinanderreihung von Skulpturen, Büsten, Vasen, auch Keilschrifttafeln, Alltagsgegenstände und zwei Mosaike im Boden. Welche Kubaner haben diese Sammlungen zusammengetragen? Der Besucher erfährt es nicht. Sie sind derartig umfangreich, dass jeder einzelne Bereich von ihnen in anderen lateinamerikanischen Städten ein eigenes Museum wäre. Über ihnen eine in grauenhaftem Rostrot angestrichene Decke. 

Ich bin bereits ein wenig erschöpft, aber ich kann nicht innehalten, denn auf mich warten noch die flämischen und holländischen Gemälde, ebenso die italienischen, französischen und englischen. In welche soll ich mich vertiefen? Van Dyck, Brueghel, Canaletto, Guardi, Reynolds, Gainsborough, Courbet oder in das Altar-Triptychon von Lucas Cranach d. J.? Oder soll ich mich auf die Gemälde aus den Schulen wie denen von Tintoretto und Rembrandt konzentrieren? Wer sich in diesem Museum Zeit nimmt, braucht keine Kunstgeschichte zu studieren, er erlebt sie hier. 

Bereits seit den flämischen Gemälden war mir in einigem Abstand eine Dame mittleren Alters gefolgt. Sie war alltäglich gekleidet, nicht mit dem schwarzen Rock und der schwarzen Bluse der Museumswärterinnen. Ihr Gesicht drückte auch nicht deren gleichgültige Langeweile aus. Ich drehe ich mich zu ihr um, sie bemerkt meinen fragenden Ausdruck: „Ich schaue Ihnen schon eine Weile zu, wie intensiv Sie unsere Gemälde betrachten. Was fasziniert Sie daran?“ „Mein Name ist Lobo.“ Ihr Gesicht nahm den starren Ausdruck an, als ob der Wolf zum Sprung ansetzt. „Sie vermuten, ich möchte die Bilder meiner Familie wiederhaben. Nein! Ich möchte nur, dass die Sammlung meines Vorfahren in diesem Museum komplett ausgestellt wird, und dass sein Name darunter steht.“

Foto: Manuel Rivera-Ortiz CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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