Von Markus St. Bugnyár.
Die aktuelle Eskalation im Heiligen Land beschränkt sich nicht auf Israel und die Hamas, Gaza und Tel Aviv. Auch die palästinensische Westbank und die Palästinenser in Israel erheben sich. Es gehört zum guten Ton einer Volksgemeinschaft, noch dazu wenn es familiäre Beziehungen zwischen Ramallah und Gaza, Nazareth und Betlehem gibt, sich über die verschiedenen Landesteile hinweg in Krisenzeiten solidarisch zu zeigen. Doch dieses Mal ist etwas anders.
Was unterscheidet diese vier Städte? Ramallah und Bethlehem liegen im Westjordanland nördlich bzw. südlich von Jerusalem; hier regiert die Fatah unter Mahmoud Abbas. Gaza ist der Name sowohl der Stadt als auch des Küstenstreifens, der seit 2007 von der Hamas regiert wird. Fatah und Hamas sind seit der letzten Wahl 2006 nur bedingt gut aufeinander zu sprechen. Die Menschen in der Westbank würden auch heute Hamas wählen. Nicht, weil sie deren islamistisches Programm so großartig finden, sondern weil sie die Korruptionsvorwürfe gegen die Fatah satt haben. Vorsichtshalber wurden deshalb die Wahlen am 22. Mai durch die Fatah abgesagt. Nicht das erste Mal.
Nazareth liegt in Galiläa, im Norden des Staates Israel. Als dieser 1948 gegründet wurde, fanden sich viele Araber auf dessen Hoheitsgebiet wieder. Sie haben israelische Pässe und soziale Absicherung, Bildung und höhere Lebensstandards als ihre Volksgenossen in der Westbank, aber ihr Herz, ihre Emotionen sind nicht weiß-blau und israelisch. Im alten Nazareth ist die Bevölkerungsstruktur arabisch; die jüdische Bevölkerung hat sich ein wenig außerhalb niedergelassen, in Nazareth Illit – oberes Nazareth; topographisch gemeint.
Eher nebeneinander als miteinander
In so manch anderen Städten, Jaffa, Akko, Lod etwa, leben die beiden Völker enger beisammen; das bedeutet nicht, dass sie miteinander leben, eher nebeneinander. Araber arbeiten hier vorwiegend im Dienstleistungssektor, auf Baustellen und in Zulieferdiensten. Wer ein Restaurant mit jüdischen, moslemischen und christlichen Mitarbeitern für ein gelungenes interkulturelles Projekt hält, möge sich die Arbeitsteilung etwas genauer ansehen und seine eigenen Schlussfolgerungen ziehen, ob hier auf Augenhöhe agiert wird.
Betlehem und Nazareth erleben wir gemeinhin als christliche Fixsterne jeder Pilgerfahrt. Dem vorurteilslosen Besucher fallen die islamistischen Slogans rund um die Verkündigungskirche in Nazareth nicht weiter auf, mitten in Israel. Ebenso wenig wie die Abwanderung der Christen aus Betlehem und anderen Städten der Westbank, mitten aus Fatah-Gebiet. Die Gründe für diesen brain-drop sind vielfältig, hauptsächlich wirtschaftlicher Natur, also durchaus politisch bedingt.
Die Ausschreitungen in Lod und Akko sind nicht neu; Araber untereinander zeigen sich immer solidarisch. In Friedenszeiten ein großer Vorzug, in der Krise allerdings machen sie die Brüche einer multiethnischen Gesellschaft sichtbarer. Die Einheit des Volkes wiegt für die Araber unter den Israelis schwerer als das Los und Schicksal des Einzelnen; auch wenn er zu Schaden oder Tode kommen mag.
Der Traum vom eigenen Staat
In der Einheit liegt die Stärke; so sagt es ein arabisches Sprichwort. Diese Einheit der Palästinenser ist auf verschiedenen Ebenen zerbrochen. Genauer hingesehen: Zu welchem Moment war sie intakt und belastbar? Seit 1517 herrschten hier die Osmanen und auch davor war Selbstbestimmung mehr Traum als Realität. Diese Einheit, dieser Wunsch nach Stärke aus der Gemeinsamkeit der Ziele, erhielt unlängst einen kräftigen Schlag in die Magengrube, der uns womöglich die Intensität der aktuellen Ausschreitungen in Israel erhellt.
Israel hat Frieden geschlossen mit arabischen Bruderländern. Vor langem schon mit Ägypten und Jordanien und vor kurzem mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain. Die Meinung der Straßen, in Israel, in der Westbank und im Gazastreifen hierzu ist eindeutig: Verrat. Der Traum von einem eigenen Staat wurde damit ein weiteres Mal in die Grube gesenkt.
Darunter leiden folgerichtig Selbstwertgefühl und Ehrbewusstsein jedes Einzelnen, der noch bereit war, die gesellschaftliche Deklassierung mit dem fernen Ziel eines eigenen Staates zu ertragen. Der Blick in den Spiegel zeigt heute vielen Palästinensern den landlosen Olivenholzschnitzer und abrufbaren Handlanger. Die israelischen Araber wären wohl kaum in einen palästinensischen Staat übergesiedelt; allein dessen reale Existenz hätte für das emotionale Gleichgewicht gereicht. Jetzt schwindet aber zusehends selbst die Fiktion, die man bislang noch rhetorisch aufrechthalten konnte.
Die Ehre ist nicht verhandelbar
Wie konnte es dazu kommen? Mehrere israelische Regierungen haben über viele Jahre hinweg intensiv und fern der Öffentlichkeit nach Gesprächspartnern unter den arabischen Ländern gesucht und sind fündig geworden. Deren Wille zur Kooperation ist alles andere als judenfreundlich inspiriert, sondern vielmehr geostrategisch ausgerichtet.
Die Palästinenser konnte man so getrost ausblenden; man hatte deren Geldgeber am selben Tisch sitzen. Den Leuten in Ramallah würden zu gegebener Zeit die neuen Freunde schon sagen, wo es lang zu gehen hat.
Die Regierungen in Ramallah stellten ihrerseits Maximalforderungen in Richtung Israel, zum Teil auch in der Absicht, den arabischen Ländern rote Linien aufzuzeigen. Und haben sich damit übernommen; brauchbare Angebote der Israelis wurden mit weniger als einem Wimpernzucken in den Wind geschlagen.
Diese Strategie ging offenbar für die Palästinenser nicht auf. Ob für Israel, wird die Zukunft zeigen. Im Moment jedenfalls wird die Auseinandersetzung auf die Straße und in die Städte getragen. Ehre und Selbstwertgefühl waren im Orient noch nie verhandelbar.
Markus Stephan Bugnyár ist ein österreichischer römisch-katholischer Priester der Diözese Eisenstadt und seit dem 1. Mai 2004 Rektor des Österreichischen Hospizes zur Heiligen Familie in Jerusalem.