Der Focus in Israel ist nach innen gerichtet, folglich schwindet das Interesse daran, wie die Molluske „Weltöffentlichkeit“ Israels Abwehrkrieg an mehreren Fronten beurteilt, ob man ihn versteht oder nicht.
Israel führt einen einsamen Kampf. Die meisten Israelis empfinden tiefe Sorge um ihr Land, das sie von allen Seiten bedroht und behindert sehen. Daraus ist ein Mitgefühl entstanden, mit dem Ganzen, der Entität, dem „zionistischen Projekt“, das – in einem Volk mit ausgeprägten Einzelinteressen – lange nicht so intensiv war wie heute. Eine Sympathie, die in der Tiefe immer bestanden hat, doch jetzt, im Augenblick ernsthafter Gefahr, existenziell entscheidend wird.
So würde ich die Grundstimmung Israel 2024 beschreiben. Ohne viel Worte haben sich die zehn Millionen Israelis untereinander verständigt, dass es an uns liegt, an niemandem sonst, ob wir das Land halten können oder nicht. Gute Ratschläge unbeteiligter, oft inkompetenter Politiker und Medienleute aus dem Ausland verfehlen bei denen, die „im Feuer“ waren oder wenigstens im Lande, weitgehend ihre Wirkung. Wer sich jetzt bei der europäischen Linken anbiedert, bei amerikanischen „Liberalen“ oder anderen notorisch „Israel-kritischen“ Meinungskartellen, steht hierzulande nicht hoch im Kurs.
Obwohl dieser Grundkonsens besteht, wirken die alten inner-israelischen Kontroversen weiter, durch den Krieg aktualisiert. Die Regierung Netanjahu wird weitgehend als überlebt angesehen, erstens als schuldhaft belastet durch Versagen bei der Prävention und zu spätes Reagieren auf den heimtückischen Angriff der Hamas am 7. Oktober. Mögen hier auch massive amerikanische Interventionen, die einen Krieg um jeden Preis verhindern wollten, in Rechnung zu stellen sein – die stundenlange Untätigkeit, das Blockieren der Streitkräfte, vor allem der Luftwaffe, gab den Terrorbanden Zeit zum Morden, Vergewaltigen und Brandschatzen und kostete hunderten Israelis das Leben. Zweitens: Die für Kriegszeiten unglückliche Zusammensetzung dieser Koalition, in der ultraorthodoxe Rabbiner und andere militärisch Inkompetente das Sagen haben, ist kaum vermittelbar in einem Land, in dem es so viele erfahrene Militärs und Sicherheitsexperten gibt.
Auch Orthodoxe melden sich freiwillig zum Militärdienst
Die Achillesferse dieser Regierung ist das undemokratische, durch nichts gerechtfertigte Privileg der ultraorthodoxen Yeshiva-Studenten, vom Wehrdienst ausgenommen zu werden. (Es wurde vor einigen Tagen vom Obersten Gericht außer Kraft gesetzt.) Ein Privileg, das David Ben-Gurion den Rabbinern Ende 1948 eingeräumt hatte, als die ultraorthodoxe Kommunität ein winziger Bruchteil der israelischen Bevölkerung war. Es betraf damals 400 Yeshiva-Studenten, Ben-Gurion fürchtete, ihre Einberufung in den Kriegsdienst würde zum Erliegen der religiösen Bildung in Israel führen.
Heute betrifft diese unpopuläre Vergünstigung mehr als sechzigtausend junge Männer. Viele von ihnen wollen gar keine Befreiung vom Wehrdienst mehr, nach neuesten Umfragen sind über 60 Prozent der ultraorthodoxen Männer für eine Änderung der bisherigen Regelung, auf der aber die Rabbiner beharren, um ihre von den „Versuchungen“ der israelischen Mehrheitsgesellschaft bedrohten Gemeinden zusammenzuhalten, denn allzu oft ist der Wehrdienst der erste Schritt eines „Aussteigens“.
Tausende junge Ultraorthodoxe haben sich freiwillig in den Musterungsbüros gemeldet, obwohl das den Bruch mit ihren Gemeinden und Freunden, sogar mit ihren Familien bedeuten kann. Die Ausnahmeregelung betrifft – aus anderen Gründen – auch israelische Araber, von denen sich gleichfalls viele freiwillig zum Wehrdienst oder anderen kriegswichtigen Hilfsdiensten gemeldet haben. Die Mehrheit der israelischen Araber hält in dieser Bedrohungssituation zum Staat. Besonders arabische Christen und die drusische Minorität (ca. 150.000 Menschen) verhalten sich demonstrativ patriotisch. Mehrere arabische Soldaten sind im Krieg gefallen, zuletzt am 15. Juni ein Offizier, der Hauptmann Wassem Mahmoud aus dem drusischen Dorf Bet Jann.
Trotz des Krieges unerschrockene Demokratie
Opposition gegenüber der gegenwärtigen Regierung kommt dennoch von allen Seiten und wird als Zeichen einer trotz des Krieges unerschrockenen Demokratie verstanden. Eine Mehrheit ist für Netanyahus Rücktritt als Hauptverantwortlicher des Staatsversagens am 7. Oktober (eine populäre Plakat- und Videokampagne zeigt sein Gesicht und dazu die Zeilen ata ha rosh, ata ashem, „Du bist der Chef, Du trägst die Schuld“), wie auch für den Rücktritt des Verteidigungsministers, des Generalstabschefs, der Leiter der Geheimdienste und anderer Verantwortlicher (tatsächlich zurückgetreten ist bisher nur der Chef des militärischen Geheimdienstes, General Haliva), doch uneinig ist man sich darüber, ob es taktisch klug wäre, Netanyahu und die anderen während der laufenden Militärkampagne abzusetzen.
Gerade weil die höchsten Kommandoträger sich schuldig fühlten, so die Kalkulation vieler, würden sie diesmal nicht – wie bei den abgebrochenen Gaza-Kriegen 2009, 2012 und 2014 – politischen Erwägungen und ausländischen Einflüssen folgen, sondern dem populären Begehren der israelischen Mehrheit, vor allem der Jugend, die Hamas tatsächlich zu vernichten. Wenn schon nicht als schwer greifbare internationale Organisation (deren Führung sich seit Jahren im Ausland versteckt), so doch als militärische Kraft.
Interventionen des Auslands rufen in Israel oft allergische Reaktionen hervor, so auch im Fall des dummen Haftbefehls gegen Netanyahu und Verteidigungsminister Gallant von Seiten des britisch-muslimischen Chefanklägers Kemal Khan am International Criminal Court (einer ohnehin von Israel, den USA, Russland, China und anderen wesentlichen Staaten nicht anerkannten Institution): Der sofort einsetzende solidarische Reflex der israelischen Mehrheit hat beider Position innerhalb Israels wieder gestärkt. Nur eine Minderheit verlangt derzeit ihren Rücktritt, die meisten sind bereit, bis zu den nächsten Wahlen zu warten. Ohnehin sind viele Israelis davon überzeugt, dass Netanyahu und die Armeeführung am 7. Oktober durch Konfusion und Unentschlossenheit der Biden-Administration über entscheidende Stunden am Handeln gehindert wurden. Bidens sichtbare Senilität wird hierzulande viel diskutiert, man sieht es als unglückliche Fügung, dass die Schutzmacht USA gerade in diesem Augenblick einen so schwachen Präsidenten hatte.
Beständige Trauer liegt in der Luft
Zugleich wird der Likud-Partei durch eine Partei-Neugründung von rechts der Rang abgelaufen: Das dieser Tage gebildete Bündnis der Politiker Liberman, Benett und Sa'ar mit dem früheren Mossad-Chef Yossi Cohen liegt in neuesten Umfragen weit vor Netanyahus Partei. Populärer als der derzeitige Premier sind auch der frühere Generalstabschef Benny Gantz und seine mit General Eisenkot und anderen ehemaligen Militärs gegründete Partei kachol-lavan („Blau-weiß“), die sich als politische Mitte versteht. Überhaupt genießen kampfbewährte hohe Offiziere – wenig überraschend in Kriegszeiten – derzeit mehr Glaubwürdigkeit, vor allem bei der Jugend, als die im Parteienbetrieb aufgewachsenen Berufspolitiker. Den allgemeinen Unmut der kämpfenden Truppe gegen die als opportunistisch eingeschätzten Politiker formulierte im April (wenn auch pro forma von der Armeeführung dafür gerügt) Brigade-General Dan Goldfuss, ein seit dem 7. Oktober an vorderster Front kämpfender Kommandeur: „Ihr“ – gemeint ist die Politische Klasse Israels – „müsst euch jetzt unserer würdig erweisen. Ihr müsst der Soldaten würdig sein, die ihr Leben verloren haben.“
Die Verluste sind diesmal auch auf israelischer Seite ungewöhnlich hoch. Und immer noch sind – niemand weiß, wie viele – Geiseln in der Gewalt der Hamas. Deshalb liegt neben dem hochgestimmten Patriotismus dieser Tage auch beständige Trauer in der Luft – insgesamt eine seltsam stabile, emotionalen Überschwang verhindernde Mischung: Der Patriotismus mischt Trost in die Trauer, die ihrerseits eine überhitzte vaterländische Passion undenkbar macht. Ohnehin ist der Patriotismus der Israelis eine individuelle Regung, keine massenhysterische. Er kommt ohne große Auftritte und öffentliche Kundgebungen aus, er ist so selbstverständlich, dass man ihn nicht wortreich bekennen muss. Es ist ein Patriotismus der Tat. Er zeigt sich in gegenseitiger Hilfe, Improvisation, Selbstzurücknahme, in tausend Kleinigkeiten im Alltag des Krieges, der dadurch leichter wird.
Vom Bonus der Militärs versucht auch die zerrüttete israelische Linke zu profitieren, deren Politik gegenüber den „Palästinensern“, etwa das anachronistische Konzept einer „Zwei-Staaten-Lösung“, inzwischen so unpopulär geworden ist, dass die Avodah-Partei, wären jetzt Wahlen, nicht mal mehr die 3,25 Prozent der Stimmen bekommen würde, um es ins Parlament zu schaffen. Als wir vor dreißig Jahren nach Israel kamen, war sie mit 35 Prozent der Wählerstimmen stärkste Partei und dominierte Parlament und Regierung. Durch Vereinigung mit der gleichfalls verzwergten Meretz-Partei und Wahl eines neuen Parteivorsitzenden hofft die bis an den Rand der Bedeutungslosigkeit geschrumpfte israelische Linke zu überleben. Der neue Vorsitzende ist – wenig überraschend – ein früherer General, Yair Golan, der am 7. Oktober auf eigene Verantwortung ins Kampfgebiet fuhr, in seiner Generalsuniform und nur mit einer Pistole bewaffnet, dort einige versprengte Fallschirmjäger um sich scharte und etlichen Menschen das Leben rettete.
Die Helden des Landes sind gegenwärtig die Soldaten. Sie kämpfen an den verschiedenen Fronten, zuverlässig, im Allgemeinen diszipliniert, tagtäglich, wie selbstverständlich. Es sind Hunderttausende, sie stehen als Symbol für ein in Friedenszeiten unruhiges, zuweilen zerstrittenes Volk, das sich im Augenblick der Gefahr in überraschender Disziplin vereinen kann. Das ist die interne Erfahrung dieses Krieges, eine Lichtblick in schweren Tagen. An der Front, erzählte mir einer unserer Enkel, werden die politischen Kontroversen nur noch in Form von gelegentlichen Scherzen ausgetragen. Plötzlich stand eine andere Priorität im Raum: der Zusammenhalt, das Bewusstsein, nur gemeinsam siegen zu können, die Liebe zu unserem gefährdeten Land.
Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift CATO, Heft 4 (Juli/August) 2024
Chaim Noll wurde 1954 unter dem Namen Hans Noll in Ostberlin geboren. Sein Vater war der Schriftsteller Dieter Noll. Er studierte Kunst und Kunstgeschichte in Ostberlin, bevor er Anfang der 1980er Jahre den Wehrdienst in der DDR verweigerte und 1983 nach Westberlin ausreiste, wo er vor allem als Journalist arbeitete. 1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. 1998 erhielt er die israelische Staatsbürgerschaft. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland.