Cora Stephan / 14.04.2022 / 10:00 / Foto: Pixabay / 62 / Seite ausdrucken

Die Stimme der Provinz –  der „Tanzboden des Krieges“

Die disziplinierten Ritterheere waren eine Wohltat im Vergleich zu den Zeiten zuvor, als die „überflüssigen“ jungen Männer marodierend durch die Lande zogen. Was also haben diese seltsamen überkommenen Kriegsrituale mit dem Krieg in der Ukraine zu tun? Nichts. Leider.

Kennen Sie Böotien? Ja? Ich nicht. Aber von der Provinz aus gesehen ist Solidarität mit der griechischen Schwesterprovinz dringend geboten, schon deshalb, weil die alten Böotier in den feineren Kreisen des klassischen Griechenlands als ländlich und dumm, gar als „Schweine“ bezeichnet wurden – dabei bevorzugten sie Rinder als Nutzvieh, weshalb sie ja so hießen. (Für die Gebildeten: βοῦς, das Rind.)

Egal. Hauptsache, die Gegend war flach – und das trifft auf die Tiefebene von Böotien zu, deshalb heißt sie ja so, umgeben von Hügeln im Norden und Gebirgen im Süden. Und das wird im Fortgang dieser Geschichte noch wichtig werden. Denn die Tiefebene von Böotien war der „Tanzboden des Krieges“ der alten Griechen vom Anfang des 7. bis etwa zum 4. Jahrhundert vor Christus. 

Nomaden sind nicht sonderlich kriegerisch, sie plündern gegebenenfalls und ziehen weiter. Bei ans Land gebundenen Bauern ist das anders, die verteidigen, was sie angebaut haben, es gibt keinen Ausweg durch Flucht. Besonders dann, wenn ein feindlicher Überfall nicht nur die Ernte eines Jahres bedroht, sondern die Arbeit vieler Jahre – das gilt für Oliven und Wein. So erklärt der Graecist und Rosinenfarmer in Kalifornien, Victor Davis Hanson, die Kriegsführung der hoplitischen Griechen, freier Bauern: Sie warteten nicht erst ab, bis der Feind die Weinberge und Olivenhaine zerstörte, sondern verabredeten sich mit ihm zum Kampf – eben dort, in der böotischen Tiefebene, so weit ab wie möglich von den Gehöften, Städten und Anbaugebieten.

Ich gestehe ohne Umschweife, dass mich diese Weise, Krieg zu führen, seit Jahrzehnten fasziniert. Nicht etwa, weil sie furchterregend war, denn das war sie gewiss: Man stelle sich eng geschlossene Reihen von Männern vor, die vier bis acht, oft sogar 20 oder 30 Mann tief aufeinander zu marschieren. In Brustpanzern und Bronzehelmen mit Kinn- und Nasenflügeln, die Kopf und Schultern bis zum Schlüsselbein schützen, die Beine mit Beinschienen bedeckt. In der rechten Hand halten sie einen Speer, auf dem linken Arm tragen sie den „hoplon“, den Schild. Dieser Schild bedeckt die linke Seite dessen, der ihn trägt, von den Knien bis zum Kinn – sowie zugleich die rechte Seite des Nebenmanns.

Wenn die Phalanx brach, war die Schlacht verloren

„Walze“ nannten die Griechen die Phalanx, dieses vielbeinige, stachelige Monster. Und so marschierten und liefen die Männer aufeinander zu – Achtzehnjährige und Sechzigährige, Alter und Rang waren unerheblich. Das einzige, was zählte: Die Phalanx musste halten, wenn die beiden gegnerischen Reihen aufeinanderprallten, mit einem unvorstellbaren Geräusch, wenn Schild auf Schild, Speer gegen Speer, Rüstung auf Rüstung stießen. Nach dem Aufprall drückten die Männer aufeinander – Othismos – und versuchten dabei mit Kraft und Willensstärke, die Reihen fest geschlossen zu halten. Idealerweise rammte man den Gegner regelrecht vom Schlachtfeld.

Wenn die Phalanx brach, war die Schlacht verloren und der Krieg vorbei. Heldenhafte Einzelkämpfer waren nicht gefragt, ganz im Gegenteil: Wer aus der Phalanx ausbrach, egal, ob aus Feigheit oder Mut, gefährdete alle. 

Die hoplitische Kampfesweise bedeutete eine schreckliche, aber kurze Konfrontation von ein, zwei Stunden, wobei es selten vorkam, dass die Unterlegenen niedergemetzelt wurden, denn darum ging es nicht. Es ging nicht darum, den Gegner zu töten. Es ging darum, eine Entscheidung herbeizuführen – so eindeutig und klar, meint Hanson, wie der Mehrheitsentscheid in der Polis. 

Und so furchterregend zugleich: „Nur dem Menschen ohne Erfahrung scheint der Krieg ein süßes Geschäft; doch naht er heran, so zittert das Herz dem erfahrenen Manne über die Maßen“, schreibt der thebische Dichter Pindar im 5. Jahrhundert.

Doch der Vorteil dieser Kampfesweise, so grausam sie anmutet, liegt auf der Hand. Es kämpften freie Bauern, keine Ritter zu Pferde, Männer, die zwar reich genug waren, um sich Rüstung, Schild und Speer leisten zu können, aber keine Zeit für lange Scharmützel hatten. Sie kämpften ohne Rangordnung oder Befehlsgewaltige, waren keine Söldner oder Soldaten, die gedrillt oder trainiert werden mussten, es gab kein teuer zu unterhaltendes Heer. Sie verkörperten die Demokratie der Polis. Die Zivilbevölkerung, die Frauen und Kinder, blieb ebenso verschont wie der Besitz. Die Sache dauerte nicht lange, es war eine kurze, rituelle Kollision. Am Ergebnis war kein Zweifel möglich. 

Wie Maikäfer hilflos auf dem Rücken

Diese Kriegskultur hielt zerstörerische Konflikte von der Gesellschaft fern und befestigte den Zusammenhalt der Gemeinschaft durch das Opfer weniger. 

Ähnlich „eingehegt“ verlief einige Zeit lang auch die Konfrontation mittelalterlicher Ritterheere. Sie genießen in der Historiografie keinen guten Ruf, seit dem großen Historiker des Mittelalters, Johan Huizinga, gelten ritterliches Ethos und höfische Verkehrsformen als bloße Überbauphänomene. Die Eisenmänner hätten ihr verdientes Ende durch Bogenschützen und Pikeniere, durch Schweizer und Dithmarscher Bauern gefunden, die sie vom Pferd gehebelt hätten. Am Ende ihrer Epoche, im 15. Jahrhundert, liegen sie wie Maikäfer hilflos auf dem Rücken, zu unbeweglich und zu schwer, um sich ohne Pferd davonzumachen. 

Nichts gegen Bauern, auch nicht gegen Dithmarscher, schon klar. Doch die disziplinierten Ritterheere waren eine Wohltat im Vergleich zu den Zeiten zuvor, als die „überflüssigen“ jungen Männer, die weder heiraten noch erben oder zum Klerus gehen durften, marodierend durch die Lande zogen. 

Die ritterliche Schlacht, die „regelrechte Schlacht“ auf freiem Feld, der eingegrenzte Kampf, „pitched battle“ also, ist der Inbegriff einer rituellen Konfrontation, die Krieg von Raubüberfällen unterscheidet – denn denen sah Krieg im Mittelalter oft zum Verwechseln ähnlich. Doch der ritterliche Kampf nach Regeln schonte die Zivilbevölkerung, fand er doch abseits menschlicher Zivilisation statt. Als unchristlich verpönt waren übrigens „tödliche“ Waffen, das heißt „Distanzwaffen“, wie sie etwa die unritterlichen englischen Bogenschützen überaus erfolgreich einsetzten. 

„Die Schlacht ist ein Akt des Friedens“ 

Die Bereitschaft, den Gegner zu schonen, wurde überdies befeuert von der Möglichkeit, ihn gefangenzunehmen und ein hohes Lösegeld erpressen zu können. Die Schlacht selbst wurde als Gottesurteil begriffen, als Duell zwischen den beiden Anführern. Sie waren Stellvertreter – fiel einer von ihnen, war die Sache entschieden, eine Verfolgung und Vernichtung des Gegners durch den Sieger war nicht nötig. Das alles wohl ließ den französischen Historiker Georges Duby emphatisch ausrufen: „Die Schlacht ist kein Krieg (…), die Schlacht ist ein Akt des Friedens.“ 

Sie war ein Akt der Rechtsprechung – und sie beendete den weit schlimmeren Krieg, den quälenden, anhaltenden Krieg, das Plündern und Verwüsten; kurz: den bellum romanum, im Mittelalter der Normalzustand des Krieges 

Carl von Clausewitz fand das „Verspielte“ solcher Kriegskulturen wie der ritterlichen verschmockt, heute leuchtet wohl erst recht niemandem mehr ein, dass Krieger „heimtückische“ Waffen oder Kriegslisten ablehnten, eine offene, faire Konfrontation suchten und den Kampf nicht bis zum letzten Blutstropfen ausfochten. Doch noch Friedrich der Große reklamierte, der Bürger solle nichts davon merken, wenn der König seine Bataillen schlägt. Lange ist’s her.

Umso eher sei daran erinnert: mit den Massenarmeen seit dem amerikanischen Bürgerkrieg, mit dem Füttern des Molochs Krieg mit Millionen junger Männer in den beiden Weltkriegen, mit der Einbeziehung der Zivilbevölkerung, mit der Aufgabe der Stellvertretung im Krieg, mit seiner Totalisierung also, droht Krieg zu vernichten, was zu verteidigen wäre. Die Atombombe ist die Ausgeburt einer verächtlichen, weil heimtückischen Waffe: Sie unterscheidet nicht zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, vor ihr sind alle gleich. Und nichts könnte aktueller sein als die Frage, wie man das Ausufern kriegerischer Auseinandersetzungen verhindert, sein Aufblähen über einen aktuellen Anlass hinaus.

Was also haben diese seltsamen überkommenen Kriegsrituale mit dem Krieg in der Ukraine zu tun? Nichts. Leider.

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Leserpost

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Ulla Schneider / 14.04.2022

Ich habe gerade 23:27 alles schnell ” durchflogen” . Tolle Foristenbeiträge, vor allen Dingen die Über- oder Herleitung zur heutigen Misere. - Ich bevorzuge die Diplomatie, die hohe Kunst des “Nichtbekriegens” mit allen zu r Verfügung stehenden Mitteln, mit einem kühlen Kopf und Ausdauer, auch manchmal mit ergebnishoffender List - Kein Wunder, wenn man solche Ahnen in der Familie hat.

Hans-Peter Dollhopf / 14.04.2022

Frau Stephan, der locker runter geschriebene Beitrag zur Kritik der Ökonomie von Krieg ist erfrischend einladend. Intellektuell führen Sie zwar Leichte Infanterie, die sich auch mal gern verläuft, ins Feld. Ich will mich aber mit der ganzen Rechthaberei nicht weiter groß aufhalten, sondern passend zur Gelegenheit flotte literarische Unterhaltung darreichen. Und das ist Arthur Conan Doyle: ‘Sir Nigel’

Peter Michel / 14.04.2022

Zustimmung @Franz Klar - die Achse hat sich positioniert! Allerdings nicht an der Faktenlinie, dafür sind hier einige Autoren einfach zu unbeweglich. Gut dass es da auch einige internationale Einschätzungen auf anderen Seiten gibt. Auch der deutsche Thomas Röper gibt sehr gute aktuelle Berichte und Analysen, da kann ich auf die „sogenannten“ Fakten verzichten. @Tobias Schlüter @Rolf Schreiber, nicht nur bei Tichy, auch hier wird selektiert, ein grober Gegenklotz ist unerwünscht. Ich sehe es wie Sie Herr Schreiber, was in S. Corona … beim MSM kritisiert wurde, wird nun auch gemacht. Aber das positive ist, es spart Zeit!

Thorsten Gutmann / 14.04.2022

Hallo, @Tobias Schlüter, was TE betrifft: voll d’accord. Herr Tichy ist m.E. nie bei den Alternativen angekommen, nicht wirklich (falls er das überhaupt wollte). Aber das ist nur mein persönlicher Eindruck. Was es bei TE allerdings gibt, das sind einzelne sehr gute Autoren, die den Besuch immer wieder lohnen. Alexander Wendt z.B. gehört für mich dazu. Und, ja, der Herr über die BlackBox darf natürlich auch nicht fehlen. Alexander Wallasch besuche ich auf seinem Blog. Viele Grüße.

Franz Klar / 14.04.2022

@Tobias Schlüter : Die Ursache Ihres Kummers ist ein kleiner Irrtum . Sie verwechselten versehentlich TE mit RT . Spenden Sie fortan in Rubel uns sie werden nicht enttäuscht sein !

M. Besler / 14.04.2022

...hier Teil 2/2 -Zur antiken Phalanx: Es kämpften die Bürger einer Polis. Die Reichen und die Mittelklasse als Hopliten. Alle Bürger-Hopliten mussten ausgebildet und permanent gedrillt werden, um überhaupt in einer Phalanx kämpfen zu können. Es gab sehr wohl eine Rangordnung innerhalb der Hoplitenarmeen wie z.B. den Enomotarch, den Pentekonter oder den Lochagos bei den Spartanern. Dies gilt auch für die Hopliten-Aufgebote aller übrigen Poleis. Den Hopliten zur Seite gestellt als Plänkler waren Söldner und Unfreie. Die Aufgabe dieser Plänkler bestand darin, die Schlacht mit Fernwaffen zu eröffnen, der Phalanx Flankenschutz zu geben und am Ende der Schlacht, wenn die gegnerische Phalanx gebrochen war, die fliehenden Hopliten des Gegners zu töten (aufgrund der schwereren Rüstung waren sie leichter einzuholen, als die leichten Truppen). Die teilweise erschreckenden Verlustzahlen antiker Schlachten ergaben sich immer aus der anschließenden Verfolgung des fliehenden Gegners. Die Zivilbevölkerung wurde auch in den Kriegen zwischen den griechischen Stadtstaaten nicht zwangsläufig geschont. Beispiel ist der Peloponnesische Krieg. Richtig ist, dass es normalerweise nicht darum ging, den Gegner als Ganzes – also dessen Polis und Bevölkerung- vollständig auszulöschen. Alles in allem: Ich verstehe Ihr Bedauern über die Unehrenhaftigkeit moderner Kriege. Nun sind Kriege kein Sport und kein Ritter-Turnier. Waren sie auch niemals.  In puncto Disziplin dürften die römischen Legionen wohl die Mutter aller Armeen sein. Was die Art und Weise der Kriegsführung hinsichtlich der Schonung der Zivilisten und die „Ehrenhaftigkeit“ anbelangt, wäre die Zeit der Kabinettkriege von ca. 1650 bis 1792 anschaulicher gewesen. Die Art des ritualisierten, verlustarmen Krieges, welche Ihnen als Ideal vorzuschweben scheint, fand sich nur bei schwach entwickelten und unzivilisierten Naturvölkern. Das trifft weder auf die Ukraine, noch auf Russland zu. Buchempfehlung: John Keegan: Die Kultur des Krieges

M. Besler / 14.04.2022

Sehr geehrte Frau Stephan, leider kann ich oller Korinther, dies nicht so hinnehmen. Ich fasse mich so kurz wie möglich: -„Die disziplinierten Ritterheere…“ – leider nein. „Ritterheere“ zeichneten sich keinesfalls durch besondere Disziplin aus. Wenn überhaupt, dann nur die tatsächlichen Ritter, also die gepanzerten, adligen Reiter, die im feudalen Europa eine zahlenmäßig kleine Kriegerelite innerhalb der schon eher kleinen Heere darstellten. Ganz sicher nicht die lehenspflichtigen Bauern, welche das Fußvolk stellten. Und selbst diese Ritter waren nicht selten ungestüme Hitzköpfe, die sich nur sehr ungern einem Befehlshaber oder einem Schlachtplan unterordneten. Beispiele finden sich in den Schlachten von Azincourt und Crécy, sowie bei den Kreuzzügen. Das „Mittelalter“ zeichnet sich auch dadurch aus, als dass „echte Ritterschlachten“ die absolute Ausnahme waren. Und geschont wurden von den „edlen Rittern“ nur die anderen „edlen Ritter“ des Gegners. Der Rest wurde gut und gern niedergemetzelt. List und Tücke waren ständige Begleiter der mittelalterlichen Kriege. Besonders bei Belagerungen, welche es weitaus häufiger gab als „echte Ritterschlachten“. Die sogenannte „Zivilbevölkerung“ wurde nicht geschont. Nicht im Frieden und schon gar nicht im Krieg….. 1/2

Stefan Riedel / 14.04.2022

Auf welcher Seite meine Sympathien stehen, ist doch klar, Putin verrecke! Aber Krieg ist leider weder Wunschkonzert noch Wattebäuschen werfen.

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