Rainer Grell / 17.07.2017 / 12:56 / Foto: Jacques Lameloise / 5 / Seite ausdrucken

Die Steinzeit ist irgendwie keine Option

Mein Gott, allmählich geht wirklich alles den Bach runter. Jeden Abend vor dem Schlafengehen und morgens nach dem Aufstehen trete ich vor den Spiegel, um mich zu vergewissern, ob ich Männchen oder Weibchen bin. Es ändert sich heutzutage ja alles so rasend schnell. Da hat der größte Teil der Menschheit endlich erreicht, wovon er tausende von Jahren geträumt hat: Genug zu essen und zu trinken, ein Dach über dem Kopf und einen Arzt und eine Apotheke um jede Ecke. Und nun will er „zurück zur Natur“. Na ja, nicht alle natürlich. Nicht einmal die Mehrheit. Aber immerhin so viele, dass ständig davon die Rede ist. Auch im Fernsehen. Oder wissen die sonst einfach nicht mehr, worüber sie reden sollten?

Der Beitrag von Christoph Lövenich „Verzichts-TV: ‚Die Tiere waschen sich auch nicht‘“, für den ich ihm herzlich danken möchte, hat mich an eine Begebenheit erinnert, die schon eine Weile zurückliegt. Am 1. September 2010 trat in Stuttgart eine neue Bürgermeisterin für Soziales, Jugend und Gesundheit ihren Dienst an. Name, Alter und Partei sollen hier keine Rolle spielen. Nur der Satz, mit dem sie sich einführte: „Es ist ihr (mancher Bewohner von Männerwohnheimen) gutes Recht, sich nicht zu waschen und zu stinken.“ Hm. Lesen Sie den Satz noch mal. Wer hat das gesagt? Die Bürgermeisterin für Soziales, Jugend und Gesundheit einer Großstadt? Sich nicht waschen. Das soll gesund sein. Vermutlich hat sie den Aufsatz „Über den Unsinn des täglichen Bades“ des ungarischen Frauenarztes Ignaz Semmelweis, des „Retters der Mütter“, gelesen und nicht ganz verstanden. Sie ist schließlich Juristin.

Weder Aristoteles noch Semmelweis verstanden

Schauen wir uns nun den nicht-waschen-und-stinken-Satz mal näher an. „Zur Menschenwürde gehört für die Juristin auch, niemandem ein Lebensmodell aufzuzwingen“ verrät der Bericht in einer Lokalzeitung (eine Grüne kann sie dann schon mal nicht sein). Hört sich doch auch gut an oder? Ob das allerdings auch die städtischen Mitarbeiterinnen finden, die den ungewaschenen Stinkemännern das Hartz-IV-Geld über den Tresen schieben müssen, erfahren wir nicht. „Keiner ist eine Insel" (Thomas Merton), „Kein Mensch ist eine Insel" (Honor Arundel), „Niemand ist eine Insel" (Johannes Mario Simmel). So lauteten verschiedene Buchtitel (alle von John Donne abgekupfert: “No man is an island“). Sie besagen allesamt, dass der Mensch nicht für sich lebt, sondern ein geselliges Wesen, ein ζῷον πολιτικόν (zoon politikon) ist, wie wir seit Aristoteles wissen. Man könnte auch sagen ein soziales Wesen. Und die Dame ist doch Bürgermeisterin für „Soziales“. Aber vielleicht hat sie Aristoteles genauso wenig verstanden wie Semmelweis.

Was lernt man daraus? Für besagte Bürgermeisterin ist sich nicht waschen und stinken ein Lebensmodell, genau wie sich waschen und nicht stinken. Das darf man niemandem aufzwingen, weder aus sozialen noch aus gesundheitlichen/hygienischen Gründen. Das nennt man offenbar liberal, freiheitlich also. Doch Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden, wie uns Rosa Luxemburg hinterlassen hat. Ein Satz allerdings, der regelmäßig missverstanden wird, aber das würde jetzt zu weit führen. Und stinken kann ich nun mal nicht für mich, sondern nur in Gesellschaft anderer. Dann können die anderen mich aber nicht riechen. Oder besser gesagt, ich rieche und deshalb können sie mich nicht riechen. Klingt verwirrend, ist aber klar wie Kloßbrühe.

Ja, und dann ist die Dame auch noch für die Jugend zuständig. Und Jugend muss erzogen werden. Nicht autoritär, versteht sich, aber immerhin. Und was ist, wenn die Jugend sich nicht waschen will und stinken cool findet (weil die Erwachsenen darüber die Nase rümpfen)? Darf man solchen Jugendlichen das „Lebensmodell“ waschen und nicht stinken im Erziehungswege aufzwingen? Natürlich nicht, wenn man liberal sein will. Und wer will das nicht?

Wer hat unseren stinkenden Vorfahren nur das Waschen aufgezwungen?

Und was ist eigentlich mit den Frauen? Müssen die sich auch nicht waschen und haben das Recht auf den eigenen unverfälschten Gestank? Klar, schließlich haben wir Gleichberechtigung. Wenn diese auch noch nicht überall verwirklicht ist, hier gibt es keinen Grund für Ausnahmen. Das wäre diskriminierend für die Frauen. Und dagegen muss jeder aufrechte Demokrat, egal welchem der rund 60 Geschlechter (oder sind es gar tausende unterschiedliche Geschlechtsvarianten, wie die hübsche Pastorin Annette Behnken meint?) er angehört, kräftig anstinken. Er beweist damit einen Sinn fürs Historische.

Ein Auszug aus Patrick Süskinds "Das Parfüm":

„Zu der Zeit, von der wir reden, herrschte in den Städten ein für uns moderne Menschen kaum vorstellbarer Gestank. Es stanken die Straßen nach Mist, es stanken die Hinterhöfe nach Urin, es stanken die Treppenhäuser nach fauligem Holz und nach Rattendreck, die Küchen nach verdorbenem Kohl und Hammelfett; die ungelüfteten Stuben stanken nach muffigem Staub, die Schlafzimmer nach fettigen Laken, nach feuchten Federbetten und nach dem stechenden Duft der Nachttöpfe. Aus den Kaminen stank der Schwefel, aus den Gerbereien stanken die ätzenden Laugen, aus den Schlachthöfen stank das geronnene Blut. Die Menschen stanken nach Schweiß und nach ungewaschenen Kleidern; aus dem Mund stanken sie nach verrotteten Zähnen, aus ihren Mägen nach Zwiebelsaft und an den Körpern, wenn sie nicht mehr ganz jung waren, nach altem Käse und saurer Milch und nach Geschwulstkrankheiten. Es stanken die Flüsse, es stanken die Plätze, es stanken die Kirchen, es stank unter den Brücken und in den Palästen. Der Bauer stank wie der Priester, der Handwerksgeselle wie die Meistersfrau, es stank der gesamte Adel , ja sogar der König stank, wie ein Raubtier stank er, und die Königin  wie eine alte Ziege, sommers wie winters.“

Ja, so war sie, die gute alte Zeit. Wer hat unseren stinkenden Vorfahren nur ein Lebensmodell aufgezwungen, nach dem waschen und gut riechen erste Bürgerpflicht sind? Gewiss kein Liberaler. Tja, was kann ich der Stuttgarter Dame am Ende mit auf den Weg geben? Ach ja, vielleicht dieses arabische Sprichwort: „Du bist der Herr des Wortes, das du für dich behalten hast, aber du bist Sklave des Wortes, das du ausgesprochen hast.“

„Ich kann auf alles verzichten, nur nicht auf Luxus“

Kehren wir zurück zu Christoph Lövenichs Beitrag. Da gibt es offenbar einen Gesinnungsgenossen unserer Bürgermeisterin, der meint „Die Tiere waschen sich auch nicht.“ Mein Gott, da lebt der Mensch, Lövenich nennt ihn liebevoll „Zausel“, im Wald und redet so einen Stuss. Natürlich waschen sich die Tiere. Außer der Waschbär vielleicht, der wäscht nur seine Nahrung. Und natürlich die, die sowieso im Wasser leben. Aber sonst: Tiere verbringen ihre Zeit mit Nahrungsaufnahme, Aufzucht ihres Nachwuchses, Schlafen und, jawohl, Körperpflege. Was habe ich vergessen? Sex? Stimmt, aber nicht ganz: Der Akt selbst ist häufig ziemlich kurz, das Vorspiel (der Männchen) dafür meistens umso länger. Eine Ausnahme bilden die Bonobos, die haben durchschnittlich alle 90 Minuten Sex. Respekt.

Was das Waschen betrifft, so muss ich allerdings einen gewissen Rückzieher machen. Da las ich kürzlich, dass der Chemie-Professor David Whitlock, 55, seit zwölf Jahren nicht mehr geduscht hat und trotzdem kein „dirty old man“ ist, also in einem Stuttgarter Männerwohnheim sofort auffallen würde. Sein Geheimnis? Ein Körperspray – mit Bakterien aus dem Hühner-, Schweine- oder Kuhstall!  Zu häufiges Duschen kann nämlich ungesund sein, wie wir seit Semmelweis wissen (siehe oben). In meiner Jugend hörte ich mal den Satz: Ich bade mindestens einmal im Jahr, auch wenn es nicht nötig ist.

Nachdem ich eine Weile über die „Apostel der Askese“ nachgedacht hatte, von denen in Lövenichs Artikel die Rede ist, stellte ich mir die Frage, die schon Tausende und Abertausende vor mir gestellt haben: Was unterscheidet den Menschen eigentlich vom Tier? Als ich diese Frage kurz nach der Wiedervereinigung am Abend nach einer Bund-Länder-Tagung mit einer Kollegin aus Dresden im Bremer Ratskeller erörterte, verärgerte ich sie sichtlich mit meiner (bei Oscar Wilde geklauten) Bemerkung: „Ich kann auf alles verzichten, nur nicht auf Luxus“. Denn das unterscheidet uns letztlich von jedem Tier: Luxus.

Na klar, typisch Wessi! Mit Hilfe des wunderbaren Weins, der an diesem ehrwürdigen Ort serviert wurde, haben wir uns aber am Ende doch verständigt. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, sagt schon das Buch der Bücher. Und was machten die Leningrader während der mehr als zweijährigen Blockade ihrer Stadt (heute wieder St. Petersburg) durch deutsche und finnische Truppen im Zweiten Weltkrieg: Sie hungerten und verhungerten (rund 1 Million Menschen), aber sie gingen auch ins Theater und besuchten Konzerte und hörten die 7. Sinfonie von Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch, die Leningrader Sinfonie, die dieser seine Heimatstadt widmete. Welches Tier käme in dieser Situation auf so eine verrückte Idee?!

Richtig ist allerdings, dass viele Menschen mit dem Konsumangebot unserer Tage nicht vernünftig umgehen können. Warum das so ist, hat der Ameisenforscher Edward O. Wilson auf unnachahmliche Weise beschrieben: „Wir haben steinzeitliche Gefühle, mittelalterliche Institutionen und eine gottgleiche Technik.“ Diese unvereinbaren Gegensätze stellen uns täglich vor enorme Herausforderungen. Zurück in die Steinzeit ist dabei keine Option. Jedenfalls nicht für mich. Frei nach Oscar Wilde: “Let me be surrounded by luxury, I can do without the necessities!” („Man umgebe mich mit Luxus. Auf alles Notwendige kann ich verzichten.“)

Foto: Jacques Lameloise Arnaud 25 CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Winfried Sautter / 18.07.2017

Der Mensch ist ein olfaktorisches Wesen. Wenn der Geruch nicht stimmt, kann es auch sonst zu nichts kommen. Nicht umsonst heisst es “sich nicht riechen können”. Da gibt es keine Abhilfe, nur Versuche und Palliativbemühungen. Nicht umsonst deswegen die jahrtausendalten Versuche und Bemühungen der Parfüm- und Kosmetikindustrie.  Fast schon ein Grundanliegen der menschlichen Geschichte, das Defizit des unerwünschten, unkontrollierten Geruchs zu meistern. Bei “nicht hören können” und “nicht sehen können” gibt es Hilfen zur Ersetzung und Ergänzung dieser Sinne - aber es bleibt dennoch der Geruch, unhintergehbar, untrüglich, unausweichlich.

mike loewe / 17.07.2017

Nicht viel hinzuzufügen. Außer dass die Beziehung zwischen Gewaschenen und Ungewaschenen eine maximal asymmetrische ist: die Ungewaschenen belästigen die Gewaschenen, aber nicht umgekehrt. Und dass die Römer, z.B. in Pompeji, in den Waschhäusern ihre Wäsche mangels Waschmitteln in Becken voller Urin gewaschen haben, der angeblich auch eine gewisse Waschkraft besitzt, aber vermutlich in seinen olfaktorischen Qualitäten nicht ganz mit einem “Frühlingsduft” von Perwoll mithalten kann.

Andreas Rochow / 17.07.2017

Kultur eben! Aber gehört das Nicht-Stinken zu unsere Leitkultur? Ich gebe zu: Ich bin verunsichert.

Ulla Smielowski / 17.07.2017

Danke für das Zitat aus Patrick Süsskinds “Das Parfüm”...  In den 50iger Jahren hatten auch die meisten Haushalte in Deutschland kein Badezimmer und die Wäsche wurde jeden Samstag gewechselt. Es gab auch Öfen und Kamine, die mit Bricketts zu heizen waren. Eine ganz neue Denkrichtung macht sich hier in Hannover breit “Die Humanisten”... Es ist eine merkwürdige Richtung, die da propagiert wird und durch Journalisten und Moderatoren verbreitet wird. Mein Eindruck ist, dahinter stecken die Grünen.. Wenn ich Jutta Ditfurth oder Ströbele reden hören, dann erweckt das bei mir diesen Eindruck..  Welch ein verschwurbeltes Denken…

Wilhelm Lohmar / 17.07.2017

Meiner Ansicht nach gibt es durchaus etwas, das man vielleicht als ästhetische Eigenveranwortung bezeichnen könnte. Wilhelm Lohmar

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