Darf man jemandem, der bereits am Boden liegt, noch die Leviten lesen? Oder sollte man ihn lieber mitleidig ableben lassen, statt ihn noch mit unerfreulichen Wahrheiten zu quälen? Doch ach, ein Liebender gibt nicht auf. Und die SPD muss man wohl lieben, um sie noch zur Ordnung rufen zu wollen. Holger Fuß jedenfalls will ihr Bestes, und deshalb geißelt er die Partei, ehrlich, rückhaltlos, rücksichtslos.
Lohnt sich das denn? Die SPD ist doch schon längst keine Volkspartei mehr – geht man nach aktuellen Wahlergebnissen und Umfragen. Dabei war die dienstälteste deutsche Partei einst so mächtig, dass man mit Ralf Dahrendorf vom „sozialdemokratischen Jahrhundert“ gesprochen hat. Und der Werdegang dieser Partei war ja in der Tat beeindruckend: vom Arbeiter- oder besser Handwerkerverein zu einer Kraft, die in den Jahren zwischen 1890 und 1914 den deutschen Reichstag zum lebhaftesten Parlament europaweit gemacht hat. Wir verdanken es der SPD, August Bebel und dem „Vorwärts“, dass im Deutschen Reich jedes Kolonialverbrechen bekannt und geahndet wurde. Das unterschied die deutschen Kolonialherren von den Engländern, Franzosen und insbesondere dem belgischen König. Und in der Weimarer Republik musste die SPD die Suppe auslöffeln, die andere dem Land eingebrockt hatten.
Doch der sozialdemokratische Mythos ist längst verflogen, den SED und SPD so lange und so unermüdlich gehegt und gepflegt haben. Friedrich Ebert, Otto Wels, Kurt Schumacher und selbst Willy Brandt sind blasse Schemen aus der Vergangenheit, die Partei heute siecht vor sich hin, verschleißt einen Vorsitzenden nach dem Nächsten und bietet statt Spitzenpersonal nur noch Parteibeamte auf, die um ihre Pfründen zittern. Und das, obwohl zwar das sozialdemokratische Jahrhundert hinter uns liegen mag, „Ich mach was mit Sozialismus“ aber längst wieder in Mode gekommen ist. Woran liegt‘s?
Holger Fuß seziert Partei und Personal ohne Gnade und Rücksicht. War sie nicht von Anfang an zerrissen zwischen Vision und Interessenspolitik oder, wie es einst hieß, zwischen Revolution und Reform? Hat sie nicht schon mehr als einmal die Macht zugunsten der reinen Lehre preisgegeben? Und wer hat uns verraten...?
„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“
Dabei war es doch die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, die sich nie als bloße Interessen- oder Klientelpartei verstanden hat, sondern in der man glaubte, im Menschheitsinteresse zu handeln. Eine bewährte Behauptung, Gattungsinteressen sind bekanntlich nicht verhandelbar, das macht unangreifbar. Doch mit diesem Trick hat die nach links gerückte Klima-Kanzlerin der SPD längst den Rang abgelaufen. Merkel weiß, wie man sich alternativlos macht: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“
Was bleibt da der SPD, außer Genderfeminismus und linkem Biedermeier? Hat sich die Partei also zu Tode gesiegt? Die SPD sei eine Partei der Aufsteiger, möge aber die Aufgestiegenen nicht, diagnostiziert Fuß, denn sie lebe von der Verheißung, nicht von der Einlösung des Versprechens. „Wer das Ziel (...) tatsächlich erreicht, zerstört (...) den Zauber der Verheißung, zerreißt den Schleier des Versprechens und lässt die Möglichkeit zum Zweck schrumpfen.“ Und das mögen all jene nicht, die sich mit dem Halluzinieren begnügen. „Missgunst frisst Solidarität“.
Fuß weiß sich da einig mit alten sozialdemokratischen Haudegen wie Buschkowsky und Dohnanyi, mit denen er ganz nebenbei Thilo Sarrazin verteidigt. Wäre die SPD heute womöglich noch immer eine große Partei, wenn sie Sarrazin zum Vorsitzenden (und Otto Schily zum Innenminister) hätte, anstatt sich erfolglos zu bemühen, ihn rauszuschmeißen? Oder wenn sie Helmut Schmidt in seiner Kritik an Multikulti gefolgt wäre?
Die Verteidigung von Sarrazin und die Erinnerung an Schmidt dürfte vielen Genossen weh tun, allerdings eher den Funktionären als den Parteimitgliedern, die „mit wachsendem Unbehagen nicht länger bereit sind, die Kollateralphänomene von Masseneinwanderung in Europa zu ignorieren und moralisch zu verschleiern.“ Denn nicht nur sie dürften sich fragen, warum lebenslange Bürgschaften für wildfremde Einwanderer eine großartige Sache sein sollen – aber Patenschaften für Mitbürger aus der einheimischen Unterschicht niemandem in den Sinn kommt. Klar: Derlei würde „antifaschistischen Nationalverklemmten“ nicht einfallen, die schon beim Gedanken an die Nationalhymne ins Zittern geraten – und die, wie Fuß meint, schlicht übersehen haben, dass ausgerechnet die Unternehmer die Flut billiger Arbeitskräfte begrüßten. Ist die Willkommenskultur womöglich „Verschleierungspropaganda zugunsten der Interessen des globalisierten Turbokapitalismus“? Nun, das ist doch eine Sprache, die Linke verstehen!
Wie er genüsslich mit Torten schmeißt
Doch Holger Fuß lässt nichts aus und nimmt sogar die AfD in Schutz. Sind nicht auch SPD-Wähler zur Rechtspartei gewechselt? „Womöglich hat dies weniger mit einem Rechtsruck bei einer Million Wählern zu tun als mit einer Linksenttäuschung. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass zwischen 2013 und 2017 im SPD-Milieu eine halbe Million Gesinnungs-Nazis herangereift sind?“ Schließlich: „Wie wirklichkeitsfremd müssen Menschen sein, die sich in Deutschland von heute vor einer Gefahr von rechts fürchten? In einem Land, dessen Mainstream sich kulturell linksliberal gebärdet?“
Die SPD sei der liberalen Elite auf den Leim gegangen:
„Die Willkommenskultur ist ein Milieuphänomen der sozial privilegierten Kosmopoliten, die mit dem gemeinen Gemütsdeutschen wenig anfangen können, weil er ihm zu selten auf den Flughäfen dieser Welt begegnet. Dass die SPD eine Zielgruppe immer weniger erreicht, die aus Menschen von herzerweichender Normalität besteht, von provinzieller Einspurigkeit und alltagsroutinierter Verlässlichkeit, der Gegenentwurf also zum irisierenden Kulturkreativen in den Metropolen, das macht der Partei derzeit am meisten zu schaffen.“
Man muss ihn schon zitieren, den Holger Fuß, wie er genüsslich mit Torten schmeißt und „Bätschi, in die Fresse!“ murmelt. Doch keine Sorge, liebe Menschen, deren Herz für die Sozialdemokratie schlägt: hier spricht keiner, der von der SPD zur AfD gewechselt ist. Höchstens einer, der die SPD eher durch Kurt Schumacher und Helmut Schmidt repräsentiert sieht als durch Andrea Nahles oder Martin Schulz und der mit Fug und Recht die Symbolpolitik der Genderista oder den besinnungslosen Salonsozialismus humorloser Weltretter anprangert.
Wer soviel Ehrlichkeit nicht verträgt, dem sei empfohlen, die ersten drei Kapitel zu überschlagen und sich bei Kapitel 4 wieder einzufinden. Denn jetzt verlässt Fuß die Kultur- und Konsumlinken mitsamt ihrem Neoliberalismus und fährt linke Klassik auf: Gerechtigkeit für die weniger Betuchten statt Gleichstellungsgedöns. Steuern rauf. Turbokapitalismus runter. Weg mit Wachstumszwang und Konsum. Statt dessen: „Gemeinwohl-Ökonomie, Bedingungsloses Grundeinkommen, Bürgerversicherung.“
Vielleicht ist die Aussicht auf ein Programm, in dem die SPD „Ökologie, Ökonomie und Gerechtigkeit“ miteinander versöhnt, Balsam auf die Herzen geschundener Liebhaber der ältesten Altpartei. Für den von Fuß geforderten „gesunden Menschenverstand“ würde ich allerdings dann doch empfehlen, die ersten drei Kapitel dieses Buchs nicht auszulassen. Liebe muss manchmal weh tun.
Holger Fuß: Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt. Über das Ende einer Volkspartei, München 2019