Von Gabor Steingart.
Als ich gestern 45 Minuten vor Eröffnung des Handelsblatt Energiegipfels im Berliner Hotel Intercontinental eintreffe, ist ein prominenter Gast schon da: Sigmar Gabriel. Lesend sitzt er - ganz allein - in der Marlene Bar. Seine Bewacher sichern die Tür. Ich setze mich zu ihm. Er legt sein Redemanuskript zur Seite. Wir trinken schwarzen Kaffee. Er wirkt wach und aufgeräumt. Die großen Problemlagen der Gegenwart interessieren ihn nun: der Zustand Europas, die abtrünnigen Briten, der zornige neue US-Präsident. Gabriel nimmt Fahrt auf.
Wir reden auch über das zur Lösung verfügbare Personal - von Merkel über Schulz bis zu ihm selbst. Er ist nicht niedergeschlagen, sondern nachdenklich. Er lästert nicht, er analysiert - schonungslos vor allem sich. Es gibt nicht viele Politiker, die in der Lage sind, sich selbst zu durchschauen. Er klingt wie jemand, der mit sich im Reinen ist. Später bei seinem Vortrag vor 1200 Managern plädiert er für Wahrhaftigkeit in der Politik: „Gebrochene Wahlversprechen sind kleine Verbrechen an der Demokratie“, sagt er. Wenig später zieht er die Reißleine.
Gabriel tritt dreifach zurück
Sigmar Gabriel verlässt damit die Erwartungsspirale, die er selbst in Gang gesetzt hatte. Er tritt als Parteivorsitzender, Wirtschaftsminister und Anwärter für die Kanzlerkandidatur zurück. Ob ihm die Schuhe der SPD-Kanzler Brandt, Schmidt oder Schröder zu groß sind, werden wir jetzt nie erfahren. Gabriel schlüpft gar nicht erst hinein. Er steigt aus den eigenen Ambitionen aus, bevor er den Schuhschrank erreicht hat.
Aus der SPD hatte Gabriel zum Schluss kaum noch Ermunterungen erfahren. Die Partei nahm es ihm übel, dass er regieren und nicht protestieren wollte. Immer wieder hat man ihn gedrängt, sich von der Agenda 2010 loszusagen. Gabriel weigerte sich. Seine Erfolge - wie zuletzt die Unterzeichnung eines Freihandelsabkommens mit Kanada - wurden von der SPD-Basis nicht als Erfolge, sondern als Demütigungen empfunden. SPD-Kanzlerkandidat ist unter diesen Bedingungen nur ein anderes Wort für Schmerztherapie. Die SPD ist Deutschlands unglücklichste Partei, denn sie weiß nicht, was sie will. Sie weiß vor allem, was sie nicht will. Aber das ist nicht dasselbe.
Das Leiden beginnt meist schon am Tag der Regierungsübernahme, wenn in der Zeitung schreckliche Worte auftauchen:Koalitionsvertrag, Kompromiss, Verantwortung. Lieber liest das gewöhnliche Mitglied etwas ganz anderes über sich: Widerstand, Opposition, Gegenantrag.
Gestern wurde die Amtszeit von Angela Merkel verlängert
So begann denn die Partei, kaum dass die Nachricht von Gabriels Rückzug sie erreicht hatte, zu vibrieren. Die Funktionäre lieben frische Rücktritte wie der Hai das Blut. Vielleicht trägt die Partei deshalb so gerne rot.
Nach außen sieht alles nach einem freiwilligen Rückzug des Parteichefs aus. Doch wir sollten uns nicht täuschen lassen. In ihrer nunmehr über 150-jährigen Geschichte hat die SPD eine große Fingerfertigkeit darin entwickelt, Morde wie Unglücke aussehen zu lassen. Von Brandt über Schröder bis zu Müntefering sind die Vorsitzenden immer freiwillig gesprungen - nachdem man ihnen zuvor den Weg abgeschnitten hatte. Die SPD weiß nicht, wie man Wahlen gewinnt, aber sie weiß, wie man den eigenen Chef um die Ecke bringt.
Ein Parteitag muss nach dem politischen Ableben des Vorsitzenden Gabriel nun auch über den künftigen Kanzlerkandidaten befinden. Der Name Martin Schulz wird auf dem Wahlzettel stehen. Aber das ist nur eine weitere Täuschung, die die SPD an sich selbst begeht. Gestern wurde die Amtszeit von Angela Merkel verlängert.
Zuerst erschienen im Handelsblatt.