Burkhard Müller-Ullrich / 02.02.2016 / 16:02 / 5 / Seite ausdrucken

Die Skandalisierung des Selbstverständlichen

„Aber der Kaiser ist ja nackt“, ruft das Kind in Hans Christian Andersens 179 Jahre altem Märchen und dadurch fällt es den Leuten wie Schuppen von den Augen: der Kaiser hat tatsächlich keine Kleider an. Das war eindeutig vor der Zeit der modernen Massenmedien. Denn heute werden die einfachsten Wahrheiten von ungeheuren Empörungsventilatoren in Presse, Funk und Fernsehen weggepustet. Heute kann jedes beliebige Wort zu einem Unwort erklärt werden, und weil die Journalisten so viel Freude daran haben, wird auch die jährliche Wahl irgendwelcher Unwörter, die meistens gar keine sind, von vielen Medien so gross gefeiert. Die Schulmeisterei im Vokabular ist eine Art Ausgleichssport für diejenigen Kollegen, die mit der Sprache sowieso auf Kriegsfuss stehen. Lassen wir ihnen den Spass.

Aber denken wir daran, dass es ihnen vor allem darum geht, anderen den Mund zu verbieten. Zum Beispiel dem Kind, das die Kleiderlosigkeit des Kaisers benennt. „Minderjähriger verweigert Kaiser Respekt“, würde die erste Schlagzeile lauten. Dann: „Nacktheit und Jugend – Hintergründe eines Zwischenfalls“. Dann: „Unsittliches Gedankengut in Kinderköpfen – Hat das Elternhaus versagt?“ Und so weiter, wie eine Lawine.

Moment, hat nicht der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble unlängst von einer Flüchtlingslawine gesprochen? Zehn Wochen ist es her, und was für ein Sturm brach damals in den Redaktionen aus! Schon die blossen Meldungen über die Tatsache, dass Schäuble Lawine gesagt hatte, troffen vor kaum verhohlener Journalisten-Entrüstung; erst recht überschlugen sich die Kommentatoren. Der ‚Spiegel‘ schrieb: „Das ist die Sprache der Aufwiegler und Fremdenfeinde. Das ist schlicht: eine Entgleisung.“ Schäuble hätte auch Welle oder Strom oder Flut sagen können, die Medienmeute hätte auf genau dieselbe absurde Weise reagiert.

Dabei weiss jeder, dass der Vergleich mit einer Lawine vollkommen realitätsadäquat war. Es ist eben völlig egal, worum es geht, denn eines der liebsten Hobbies vieler Journalisten besteht in der Skandalisierung des Selbstverständlichen. Dazu genügt es, im Kommandoraum der Medienmaschine Ohnmachtsanfälle vor Abscheu zu simulieren und die Trompete des moralischen Entsetzens zu blasen.

Die AfD-Vorsitzende Frauke Petry hat gerade gefordert, die Landesgrenzen zu sichern, notfalls mit Waffengewalt. Die Banalität dieses Satzes ist eigentlich keine Meldung wert, da jedes Land der Welt seine Grenzen von bewaffneten Kräften schützen lässt – sogar der Vatikan. Aber weil die Forderung von dem weiblichen Gottseibeiuns der deutschen Politik ausging, überschlagen sich Redaktoren schier, um die Nachricht: ‚sie hat Pistole gesagt‘ unters Volk zu bringen. Sogar das Schweizer Radio stammelt vor Entsetzen: Will man wirklich Gewalt an Europas Grenzen? Nein, man will sie weder an den Grenzen noch im Landesinneren, deshalb entwaffnen wir am besten gleich die ganze Polizei.

Solche diskursiven Verpönungs-Strategien funktionieren natürlich bei Völkern mit einem so starken Gruppendrucks-Gen, wie es die Deutschen haben, besonders gut. Doch auch bei uns haben es viele Medienleute drauf, einen beliebigen Sachverhalt rhetorisch einzurussen, sodass er tiefschwarz und böse erscheint. Es genügt, ihn stirnrunzelnd und augenrollend mit der Frage „Will man wirklich…?“ zu begleiten.

Will man wirklich über etwas so Abstossendes und Unappetitliches wie Leitkultur debattieren? – Mit dieser Haltung ist es Journalisten anderthalb Jahrzehnte lang gelungen, die inhaltliche Erörterung der deutschen Leitkultur zu unterbinden. Und weil dies unterblieben ist, konnte ein Bundespräsident dann leichthin den fatalen Satz: „Der Islam gehört zu Deutschland“ aussprechen.

(Basler Zeitung, 02.02.2016)
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Dieter Faulenbach da Costa / 03.02.2016

Eine Lawine verhindert man nicht im Tal. Einen Strom legt man nicht an seiner Mündung trocken. Natürlich ist es ein Skandal die Forderung zu erheben einen Grenzübertritt mit Waffengewalt zu verhindern. Da erfolgt die späte Rechtfertigung des Grenzregimes von Ulbricht/Honecker. Aber, da ging es doch um die freie Ausreise! Ja. Was aber nutzt die freie Ausreise, wenn die Einreise ins Nachbarland mit Waffengewalt verhindert wird? Schließlich überzieht der Autor, wenn er unterstellt, dass auch die Polizei entwaffnet werden soll. Es hat Zeiten gegeben, da war die Polizei in GB unbewaffnet. Dass die Kriminalität in GB durch die Bewaffnung der Polizei rückläufig war, hat bisher niemand behauptet. Die Bewaffnung der Polizei dient ja nicht der Bekämpfung der Kriminalität, sondern zuerst der Sicherheit des Polizisten. Das ist etwas anderes als die Parole auszugeben, die Waffe gezielt z.B. gegen Flüchtlinge einzusetzen.

Rolf Ahlers / 03.02.2016

“Die AfD-Vorsitzende Frauke Petry hat gerade gefordert, die Landesgrenzen zu sichern, notfalls mit Waffengewalt. Die Banalität dieses Satzes ist eigentlich keine Meldung wert, da jedes Land der Welt seine Grenzen von bewaffneten Kräften schützen lässt – sogar der Vatikan.” Schon klar. Wenn Tausende von Flüchtlingen in Europa unterwegs sind, ist die unschuldige Forderung nach Schusswaffengebrauch an den Landesgrenzen (nur notfalls selbstverständlich) banal. Keine Meldung wert! Steht doch im Gesetz. Macht sogar der Vatikan. Nur der Libanon schafft es nicht, seine Grenzen ausreichend mit bewaffneten Kräften zu sichern und muss nun mit 2 Millionen syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen leben. Fehlt dem Libanon eine Frauke Petry?

Max Wedell / 02.02.2016

Erstklassig! Schade bloß, daß in deutschen “Qualitätsmedien” solche Texte so rar sind, daß man offensichtlich Erzeugnisse aus der Schweiz abonnieren muß. Nochmal zu den genannten Wörtern: Flüchtlingslawine, Flüchtlingswelle, Flüchtlingsstrom, Flüchtlingsflut… alle natürlich pfui. Wie wäre es mit Flüchtlingsregen? Färbt da nicht ein wenig vom Geldregen ab? Müsste daher doch OK sein! Oder Flüchtlingsfülle. Fülle ist immer gut (Außer vielleicht bei Frauen, wenns eindeutig zu viel wird). Flüchtlingserguß? Nee, lieber nicht, erinnert irgendwie an Dingens praecox. Flüchtlingsschwall? Nein, ist wieder zu strom-, flut- und wellen-affin. Außerdem negativ besetzt: “Schwall hier nicht dumm rum”! Flüchtlingsandrang? Mensch, wir sind hier doch nicht beim Sommerschlußverkauf, denke ich jedenfalls. Wenn die Flüchtlingszahlen in die Höhe gehen, könnte man das doch Flüchtlingsaufschwung nennen. Klingt voll in Ordnung. Genehmigt! Flüchtlingszulauf… nee, sind doch keine Haustiere. Oder sollte man sich am Wetterbericht orientieren? An den Grenzen ist mit einer erhöhten Neigung zu Flüchtlingstendenzen zu rechnen. Nein ich habs. Flüchtlingserfolg. Alle sollten ab morgen, statt eine Flüchtlingslawine o.ä. zu beklagen, einen Flüchtlingserfolg bejubeln. Von Erfolg kann man ja auch nie genug kriegen. Alternativ: Unser Flüchtlingsglück!

Gerd Kistner / 02.02.2016

Zur Lektüre empfehle ich Klemperers scharfsinnigen Analysen der Sprache des dritten und des vierten Reiches (s. Victor Klemperer: LTI sowie Tagebücher 1945-1959). Bei künftigen Publikationen zur deutschen Sprache im 21. Jahrhundert bitte ich von Titeln wie LQuiI oder LQI-2 aus ästhetischen Gründen abzusehen. Wie wäre es mit ” Lingua Quintii Imperii- eine Analyse der Sprache des sich entwickelnden mediokratisch-ökologistischen Sozialismus?”

Thomas Schmied / 02.02.2016

“Diskursive Verpönungs-Strategien” Da haben Sie etwas wundervoll ausgedrückt, für das ich bisher keine Worte hatte. Mir stellt sich oft die Frage, ob das gegenwärtige politische Geschnatter überhaupt noch Diskurs genannt werden kann. Es kommt mir immer öfter so vor, wie das vorbereitete Zünden der immer gleichen Wortböller gegen politisch Unerwünschte. Am Ende dröhnen einem immer von der Wirkung der Böller die Ohren und man hat mal wieder verstanden, was man glauben soll.

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