Der Wahlsieger, das ist bekanntlich der Politiker, der am Wahlabend vor die Kameras tritt und seinen Wahlsieg verkündet. Er hat die meisten Stimmen bekommen. Das aber ist noch lange nicht die Mehrheit der Stimmen. Die meisten Stimmen bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am Sonntag in Serbien gingen an die pro-europäische Demokratische Partei des aus dem Belgrader Intellektuellen-Milieu stammenden Präsidenten Boris Tadic. (Wir verzichten an dieser Stelle auf die Frage, was pro-europäisch im Detail heißt.)
Die Demokraten haben zwar die meisten Stimmen bekommen, sie verfügen aber nicht über die Mehrheit der Parlamentssitze. Auch eine Koalition mit den Liberaldemokraten, der Partei der Bürgerrechtsgruppen, ergibt keine Mandatsmehrheit. Die anderen drei Parteien des parlamentarischen Spektrums verkörpern mehr oder weniger das Gegenlager. Die größte unter ihnen, die Radikale Partei, gilt als Bannerträgerin der Nationalisten und Kriegsschuldleugner, ihr Vordenker Seselj sitzt in Den Haag, beim Internationalen Gerichtshof, in U-Haft. Die Partei von Ex-Premierminister Kostunica, die bisher eine eher dubiose Stellung zwischen Demokraten und Nationalisten einnehmen konnte, vertritt mit ihrem Vorsitzenden Kostunica einen die Rechtstaatlichkeit betonenden Nationalismus und die Sozialisten des während seines Verfahrens in Den Haag verstorbenen Diktators Milosevic sind die Erben der in den serbischen Nationalismus gewendeten Tito-Partei. Ex-Nomenklatura mit Amselfeld-Nostalgie und Mafia-Neigung. Wie viel Nationalismus braucht eine Gesellschaft und wie viel Nationalismus verträgt ein Staat heute, auf dem Balkan?
Serbiens Krise ist gewaltig, bei jeder Frage geht es scheinbar ums Ganze. Das macht Realpolitik unmöglich. Die Ideologie des pro und kontra Europa verstellt die tatsächlichen Dringlichkeiten. Die Frage ist nämlich längst beantwortet. Ohne die EU bleibt Serbien von der allgemeinen Entwicklung abgeschnitten. Es kann schließlich nicht die Schweiz sein, dazu fehlen ihm alle Voraussetzungen und was bliebe dann? Die Funktion eines Moskauer Brückenkopfs? Das wäre im Interesse Moskaus, um die EU gelegentlich zu stören, aber was hätte Belgrad davon? Um wieder eine Rolle spielen zu können, muss Serbien mit seiner Balkannachbarschaft neu ins Geschäft kommen. Das wäre als vorgeschobener Moskauer Kordun kaum möglich. Serbien muss dazugehören wollen, nicht Abstand nehmen.
Das Kosovo, das in der aktuellen serbischen Politik und damit auch in Wahlkämpfen eine zentrale Rolle spielt, ist als politische Realität nicht nur verschwunden, es ist auch völlig bedeutungslos für alles weitere. Die Kosovo-Frage hat sich zum reinen Symbol für die Verteidigung serbischer Größe verflüchtigt und verallgemeinert. Das Kosovo wurde zum Placebo des Nationalgefühls. Verloren aber ist es, so oder so. Auch eine Ahnlehnung an Russland ändert daran nichts. Wie sich die Beziehungen zum Kosovo gestalten werden, kann eher noch die EU mit bestimmen, denn nur sie hat die Möglichkeit auf die albanischen Clans Druck auszuüben.
Serbien hatte, nicht zuletzt in der eigenen Wahrnehmung, seine große Zeit im 20.Jahrhundert. Diese Zeit der hegemonialen Stellung in den beiden jugoslawischen Staatsgebilden war jeweils gegen Mitteleuropa erstritten wurden. Aber in keinem der Fälle mit Hilfe Moskaus, sondern durch die Zustimmung der Westmächte. Den alten Gegensatz zwischen Mittel- und Westmächten gibt es, seit der deutsche Kulturraum in das atlantische Bündnis integriert wurde, nicht mehr. Der Balkan hat geostrategisch nicht die Bedeutung von früher, außer vielleicht als Auftankzwischenstation für Interventionen im Nahen Osten. Diese Bedeutungsverminderung muss die serbische Öffentlichkeit noch verarbeiten, um sich bei der Wahl der Waffen orientieren zu können.
Der Wahlsieger steht zwar fest, wer aber die Regierung bilden wird, ist offen. Vieles ist möglich. Die drei nationalistischen Gruppen könnten sich zusammentun, aber eine der beiden kleinen, Kostunicas Legalisten oder die Sozialisten, könnten auch die Fronten wechseln. Beide könnten sich mit der nationalen Karte im pro-europäischen Lager sogar besser profilieren als bei den Radikalen. Dort wären sie bloß Juniornationalisten, bei den Pro-Europäern hingegen käme ihnen die Rolle von Maximal-Autochthonen zu.