Richard Wagner / 14.05.2008 / 12:09 / / Seite ausdrucken

Die serbische Wahl der Waffen

Der Wahlsieger, das ist bekanntlich der Politiker, der am Wahlabend vor die Kameras tritt und seinen Wahlsieg verkündet. Er hat die meisten Stimmen bekommen. Das aber ist noch lange nicht die Mehrheit der Stimmen. Die meisten Stimmen bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am Sonntag in Serbien gingen an die pro-europäische Demokratische Partei des aus dem Belgrader Intellektuellen-Milieu stammenden Präsidenten Boris Tadic. (Wir verzichten an dieser Stelle auf die Frage, was pro-europäisch im Detail heißt.)

Die Demokraten haben zwar die meisten Stimmen bekommen, sie verfügen aber nicht über die Mehrheit der Parlamentssitze. Auch eine Koalition mit den Liberaldemokraten, der Partei der Bürgerrechtsgruppen, ergibt keine Mandatsmehrheit.  Die anderen drei Parteien des parlamentarischen Spektrums verkörpern mehr oder weniger das Gegenlager. Die größte unter ihnen, die Radikale Partei, gilt als Bannerträgerin der Nationalisten und Kriegsschuldleugner, ihr Vordenker Seselj sitzt in Den Haag, beim Internationalen Gerichtshof, in U-Haft. Die Partei von Ex-Premierminister Kostunica, die bisher eine eher dubiose Stellung zwischen Demokraten und Nationalisten einnehmen konnte, vertritt mit ihrem Vorsitzenden Kostunica einen die Rechtstaatlichkeit betonenden Nationalismus und die Sozialisten des während seines Verfahrens in Den Haag verstorbenen Diktators Milosevic sind die Erben der in den serbischen Nationalismus gewendeten Tito-Partei. Ex-Nomenklatura mit Amselfeld-Nostalgie und Mafia-Neigung. Wie viel Nationalismus braucht eine Gesellschaft und wie viel Nationalismus verträgt ein Staat heute, auf dem Balkan?

Serbiens Krise ist gewaltig, bei jeder Frage geht es scheinbar ums Ganze. Das macht Realpolitik unmöglich. Die Ideologie des pro und kontra Europa verstellt die tatsächlichen Dringlichkeiten. Die Frage ist nämlich längst beantwortet. Ohne die EU bleibt Serbien von der allgemeinen Entwicklung abgeschnitten. Es kann schließlich nicht die Schweiz sein, dazu fehlen ihm alle Voraussetzungen und was bliebe dann? Die Funktion eines Moskauer Brückenkopfs? Das wäre im Interesse Moskaus, um die EU gelegentlich zu stören, aber was hätte Belgrad davon? Um wieder eine Rolle spielen zu können, muss Serbien mit seiner Balkannachbarschaft neu ins Geschäft kommen. Das wäre als vorgeschobener Moskauer Kordun kaum möglich. Serbien muss dazugehören wollen, nicht Abstand nehmen.

Das Kosovo, das in der aktuellen serbischen Politik und damit auch in Wahlkämpfen eine zentrale Rolle spielt, ist als politische Realität nicht nur verschwunden, es ist auch völlig bedeutungslos für alles weitere. Die Kosovo-Frage hat sich zum reinen Symbol für die Verteidigung serbischer Größe verflüchtigt und verallgemeinert. Das Kosovo wurde zum Placebo des Nationalgefühls. Verloren aber ist es, so oder so. Auch eine Ahnlehnung an Russland ändert daran nichts. Wie sich die Beziehungen zum Kosovo gestalten werden, kann eher noch die EU mit bestimmen, denn nur sie hat die Möglichkeit auf die albanischen Clans Druck auszuüben.

Serbien hatte, nicht zuletzt in der eigenen Wahrnehmung, seine große Zeit im 20.Jahrhundert. Diese Zeit der hegemonialen Stellung in den beiden jugoslawischen Staatsgebilden war jeweils gegen Mitteleuropa erstritten wurden. Aber in keinem der Fälle mit Hilfe Moskaus, sondern durch die Zustimmung der Westmächte. Den alten Gegensatz zwischen Mittel- und Westmächten gibt es, seit der deutsche Kulturraum in das atlantische Bündnis integriert wurde, nicht mehr. Der Balkan hat geostrategisch nicht die Bedeutung von früher, außer vielleicht als Auftankzwischenstation für Interventionen im Nahen Osten. Diese Bedeutungsverminderung muss die serbische Öffentlichkeit noch verarbeiten, um sich bei der Wahl der Waffen orientieren zu können.

Der Wahlsieger steht zwar fest, wer aber die Regierung bilden wird, ist offen. Vieles ist möglich. Die drei nationalistischen Gruppen könnten sich zusammentun, aber eine der beiden kleinen, Kostunicas Legalisten oder die Sozialisten, könnten auch die Fronten wechseln. Beide könnten sich mit der nationalen Karte im pro-europäischen Lager sogar besser profilieren als bei den Radikalen. Dort wären sie bloß Juniornationalisten, bei den Pro-Europäern hingegen käme ihnen die Rolle von Maximal-Autochthonen zu.

Achgut.com ist auch für Sie unerlässlich?
Spenden Sie Ihre Wertschätzung hier!

Hier via Paypal spenden Hier via Direktüberweisung spenden
Leserpost

netiquette:

Test 45: 6343

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Richard Wagner / 09.03.2016 / 20:00 / 1

Femme Fatal und Landtagswahl

Noch nie war die Politik in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs so weichenverstellt. Es ist das späte Ergebnis des langen Aufstiegs und noch…/ mehr

Richard Wagner / 19.11.2014 / 10:51 / 0

Krieg um die Fifth Avenue?

“Für das Individuum mit seinen Wünschen nach Unversehrtheit und Glück ist der Krieg immer sinnlos.  Aber während er das individuelle Leben zerstört, kann er das…/ mehr

Richard Wagner / 12.09.2014 / 11:33 / 4

Von allen guten Geistern

Früher, als die Kirche noch für die öffentliche Moral zuständig war, und damit auch für die Identifikation des Bösen, war im Gegenzug auch die Zuständigkeit…/ mehr

Richard Wagner / 28.01.2013 / 20:48 / 0

Der Zweite Weltkrieg gewinnt die Präsidenten-Wahl in Tschechien

Wer Ostmitteleuropa und dessen kulturhistorisch gewachsene Idiosynkrasien kennt, brauchte sich über den Ausgang der Präsidenten-Stichwahl vom Wochenende in Tschechien keine Illusionen zu machen. Den Sieg…/ mehr

Richard Wagner / 30.05.2012 / 12:25 / 0

Die Israel-Predigt

An dem neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck wird in der Regel sein dem Diplomatenjargon konträres Pathos gelobt. So, wenn er in Israel dem dortigen Staatsoberhaupt und…/ mehr

Richard Wagner / 29.04.2012 / 05:45 / 0

Holocaust, Ölpreis, Vermischtes

Vor drei Tagen erschrieb sich Elisabeth Kiderlen in der Süddeutschen Zeitung einen Vergleich zwischen Israel und dem Iran, aus ihrer Sicht sogar eine Gemeinsamkeit, die…/ mehr

Richard Wagner / 04.04.2012 / 16:32 / 0

Dichtender Ostermarschierer Grass entwaffnet Israel

Günter Grass hat ein Gedicht geschrieben. Ein Gelegenheitsgedicht. Gelegenheitsgedichte sind oft literarisch getarnte Manifeste. Der Meister des deutschen Gegenwartsgelegenheitsgedichts ist und bleibt Erich Fried. Er…/ mehr

Richard Wagner / 08.03.2012 / 07:57 / 0

Cabaret Voltaire im Kreml

Es war Churchill, der Russland ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses nannte, umgeben von einem Mysterium. Ob das nun bloß britischer Humor war oder auch russische…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com