Markus Vahlefeld / 23.11.2018 / 06:29 / Foto: Pixabay / 41 / Seite ausdrucken

Die schwarze Katze des Migrationspakts

Zu meiner Studentenzeit (Studierendenzeit?) gab es einen wunderbaren Witz und der ging folgendermaßen: Was ist der Unterschied zwischen Philosophie, Metaphysik und Religion? Die Philosophie sucht in einem komplett abgedunkelten Raum nach einer schwarzen Katze. Die Metaphysik sucht in einem komplett abgedunkelten Raum nach einer schwarzen Katze, die gar nicht da ist. Und die Religion sucht in einem komplett abgedunkelten Raum nach einer schwarzen Katze, die gar nicht da ist, und ruft: Ich hab sie!

Nun ist dieses Stochern im Nebel wirklich das herausragende Merkmal der Geisteswissenschaften. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die sich mit den Erscheinungen der materiellen Welt beschäftigen und deswegen etwas leichter verifizierbar erscheinen, beschäftigen sich die Geisteswissenschaften mit dem Unsichtbaren, dem Sein, den Ideen, der Seele, den Denk- und Sprachstrukturen. Selbstverständlich würde ein Geisteswissenschaftler es nie auf sich sitzen lassen, dass es diese schwarze Katze, nach der er sucht, nicht geben soll. Aber selbstverständlich würde ein Geisteswissenschaftler auch nie laut schreien, dass er diese schwarze Katze nun gefunden hat.

Die wissenschaftliche Methode der Geisteswissenschaften ist es, die schwarze Katze (über deren Existenz noch gar nichts ausgesagt ist) einfach mal vorauszusetzen und zu sehen, ob der dunkle Raum verständlicher wird, wenn man die Existenz der schwarzen Katze annimmt. Und wenn der Raum nach Katze riecht, ab und an ein Miauen zu hören ist und man an den Beinen ein weiches Fellbüschel entlangstreichen spürt, dann ist die Annahme einer Katze durchaus gerechtfertigt. Die etwas pragmatischer orientierten Amerikaner nennen es schlicht den "duck test": If it looks like a duck, swims like a duck, and quacks like a duck, then it probably is a duck.

„Die Tat ist die Wahrheit der Absicht“

Mit der Politik verhält es sich ähnlich. Es wird viel geredet, es werden viele Nebelbomben geworfen und ein guter Politiker, der an der Macht bleiben will, wird die Grundlagen und Ziele seines Handelns nie ganz preisgeben. Vor allem bei der Bewertung von Politikern scheint der Ausspruch des großen deutschen Philosophen Friedrich Wilhelm Hegel zu passen: Die Tat ist die Wahrheit der Absicht.

Wenn sich nun deutsche Politiker – allen voran die Bundeskanzlerin – kurz vor der Hessen-Wahl vor vier Wochen hinstellen und befinden, um jeden Preis Diesel-Fahrverbote verhindern zu wollen, so ist diese Absicht durchaus ehrenhaft. Nur konnte man sich bereits im Oktober der Erinnerung nicht erwehren, dass eben jene Bundeskanzlerin im Jahr 2016 Abschiebungen, Abschiebungen, Abschiebungen eingefordert und sie zur "nationalen Kraftanstrengung" erklärt hatte. Mit dem Resultat, dass nichts weiter passierte und die Abschiebezahlen unter Merkel so niedrig waren wie noch nie. Die Tat ist die Wahrheit der Absicht.

Inzwischen haben die Medien vermeldet, dass die Bundesregierung in Kürze ein Gesetz in den Bundestag einbringen wolle, um die flächendeckende Kontrolle von Diesel-Fahrverboten auch durchsetzen zu können. Die Zauberformel lautet: Kameraüberwachung mit automatisiertem Datenabgleich. Nun steht dieser Gesetzesentwurf in durchaus augenfälligem Widerspruch zu der Aussage, Diesel-Fahrverbote um jeden Preis verhindern zu wollen. Oder anders ausgedrückt: Diesel-Fahrverbote verhindern zu wollen und gleichzeitig eine flächendeckende Kameraüberwachung für Dieselfahrzeuge vorzubereiten, ist eine jener schwarzen Katzen, über deren Existenz Geisteswissenschaftler gerne trefflich streiten dürfen. Man kann es da aber auch wieder mit Hegel halten: Die Tat ist die Wahrheit der Absicht.

So viel „win-win“ war selten

Die These, alle Geheimnisse liegen offen vor einem und man muss nur genau hinschauen, ist ja nicht gänzlich von der Hand zu weisen, auch wenn man schnell Gefahr läuft, bei Verschwörungstheorien zu landen. Man sollte sich deswegen davor hüten, ständig zu schreien, dass man die schwarze Katze nun endlich hätte. Aber die Existenz einer schwarzen Katze vorauszusetzen, hilft allemal, die untergründigen Strömungen, die an den bestehenden Verhältnissen ihr Werk verrichten, benennen zu können.

Beim Migrationspakt verhält es sich ähnlich: Die Bundeskanzlerin sagt, dass er für Deutschland eine „Win-win-Situation“ sei – und am Ende sei er rechtlich gar nicht bindend. So viel "win-win" war selten: Zum einen bekommt man Verpflichtungen, zum anderen völlige Verpflichtungslosigkeit. Und das ist historisch schon eine selten zu beobachtende Erscheinung. Da klärt es vielleicht den Blick, wenn man bedenkt, dass es Deutschland war, das federführend an diesem Migrationspakt wirkte. Aber natürlich nicht allein. Eine weitere treibende Kraft ist die ehemalige Hochkommissarin für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen, Louise Arbour. 2017 ist sie, ganz sicher unter tätiger Mithilfe Deutschlands, zur UN-Sonderbeauftragten für Internationale Migration ernannt worden. 

Die Kanadierin Louise Arbour ist eine dieser interessanten Nornen-Persönlichkeiten, die im Hintergrund viele der Schicksalsfäden weben, ohne dass sie sich je dem Votum von Wählern stellen mussten. Louise Arbour erwarb sich zweifelsohne Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts große Verdienste als Chefanklägerin der Tribunale zum Völkermord in Ruanda, sie scheint aber außerhalb des juristischen Rahmens etwas ungelenk zu agieren, wenn es darum geht, ihre politische Agenda elegant zu verbergen. 

Dummköpfe oder Lügner

So begrüßte sie 2008 die Arabische Charta der Menschenrechte, die den Zionismus als Rassismus brandmarkt, Israel dementsprechend des Rassismus bezichtigt und überhaupt meint, den Zionismus "eliminieren" zu müssen. Erst nach heftiger Kritik westlicher Staaten distanzierte sich Arbour von einigen Aussagen dieser Erklärung, stand jedoch fortan als Hochkommissarin für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen nicht mehr zur Wahl.

Louise Arbour – oder wie sie liebevoll auch gerufen wird: Comrade Arbour, also Genossin Arbour – hat eine dieser für westliche Linke nicht ganz unüblichen Obsessionen mit dem Staat Israel. Dass sie daher für deutsche Diplomaten eine geeignete Ansprechpartnerin darstellt, gehört halt zu den Begleiterscheinungen dessen, was man gemeinhin den "Marsch durch die Institutionen" nennt. Denn dass deutsche Diplomaten, wenn es um Israel geht, sich nicht mit den Falschen einlassen, etwas Zurückhaltung an den Tag legen und sich einer gewissen historisch wachen Verantwortung bedienen, diese Zeiten sind, spätestens, seit das Außenamt erst in grünen und nun fest in roten Händen ist, schlicht vorbei. Dass Israel am 17. November 2018 achtmal mithilfe der Bundesregierung im UN-„Sonderausschuss für Politik und Entkolonialisierung“ verurteilt wurde, spricht eben auch eine Sprache, die auf die Existenz einer schwarzen Katze hinweist.

Den Migrationspakt verteidigt Genossin Arbour mit fast identischen Worten wie ihre Genossin Merkel. So wie die Bundeskanzlerin nun "Fake-News" im Zusammenhang mit dem Migrationspakt entgegentreten will – freilich ohne es zu tun –, so konstatiert Arbour, dass Länder, die den Pakt nicht unterzeichnen wollen, den "Text entweder falsch verstanden haben oder unaufrichtig sind". Im Klartext: Dummköpfe oder Lügner sind sie.

So versucht man es halt über die Hintertür

Weiterhin sagt Arbour (genau wie Angela Merkel): "Der Pakt ist kein Vertrag, er ist rechtlich also nicht bindend." Die naheliegende Frage stellt mal wieder keiner: warum ist der als so überaus wichtig gefeierte Migrationspakt dann nicht als rechtlich bindendes Vertragswerk konzipiert worden?

Die Antwort ist einfach: Ein rechtlich bindendes Vertragswerk wäre ein so unerhörter Eingriff in die nationalen Souveränitätsrechte, dass in den Unterzeichnerländern jahrelange demokratische Abstimmungsverfahren notwendig würden, um diesen Vertrag abzuschließen. So versucht man es halt über die Hintertür und erklärt den Pakt für unverbindlich, wissend, dass sich eh nur demokratische Rechtsstaaten mit sozialstaatlicher Ausprägung an diesen Pakt werden halten können. Allen anderen Ländern dürfte er als willkommenes Druck- und Erpressungsmittel dienen, um Ausgleichszahlungen und Migrationshilfen einfordern zu können. 

Der Migrationspakt ist eben kein rechtlich verbindliches quid pro quo, sondern ähnlich wie die Klimaabkommen ein weiteres globales Transformationsinstrument, um den Reichtum der Wohlstandszonen an die Armutszonen umzuverteilen. Das kann man schön und sozial finden, man kann es aber auch im Hinblick auf Vernunft und eigene Interessen schlicht ablehnen. Das nennt sich im demokratischen Spiel: Alternativen haben.

Nur hat sich inzwischen ein Politikverständnis Bahn gebrochen, das der SPON-Redakteur Arno Frank aufs Vorzüglichste repräsentiert. Sein Beitrag, der hart mit den Gegnern des Migrationspakts ins Gericht gehen will, trägt den Titel „Wollen wir Schwerkraft? Stimmen Sie jetzt ab!“ Sie ahnen es: Arno Frank vergleicht Migration mit einem Naturgesetz, gegen das der Mensch machtlos ist. Eine demokratische Abstimmung hält er deswegen für aberwitzig. 

„Ich hab sie, ich hab sie!“

Selten hat ein Journalist mit solchem Stolz nach der schwarzen Katze gegriffen und inbrünstig gebrüllt: Ich hab sie, ich hab sie! Abgesehen von der Tatsache, dass der Mensch recht erfolgreich in der Überwindung der Schwerkraft ist, indem er Flugzeuge und Raketen baut – man also durchaus darüber abstimmen können sollte, ob man sich der Schwerkraft nun bedingungslos hinzugeben habe oder mit ihr nach Maßgabe der eigenen Interessen umzugehen gedenke –, so weist dieser krude Vergleich auf eine Verwirrung hin, die sich in den letzten Jahren in den politischen Debatten Deutschlands immer mehr Bahn brach.

Ob es daran lag, dass Deutschland 13 Jahre von einer Naturwissenschaftlerin regiert wurde, müssen Psychiater und Psychologen entscheiden. Denn während der Mensch die Gesetze der Natur immer weiter und tiefer auszuhebeln imstande ist, werden nun diese im Verschwinden begriffenen Naturgesetze auf die Politik angewandt. Man mag hierin das schlechte Gewissen des naturwissenschaftlichen Menschen und Beherrschers der Welt erkennen, an der Tatsache, dass Politik die Sphäre der menschlichen Gestaltungskraft definiert, ändert es nichts. In ihr herrschen Freiheit und Verantwortung. 

Ob es nun die Landesgrenze ist, die man nach momentaner politischer Lesart nicht schützen könne, oder ob es Terroranschläge sind, die regelmäßig damit kommentiert werden, dass es hundertprozentige Sicherheit nicht geben werde (ganz so als hätte das je irgendjemand gefordert): Deutsche Politik hat sich damit abgefunden, dass sie sich schadlos hält und ähnlich der Schwerkraft nichts mehr aufzuhalten gedenkt. Im März dieses Jahres verfasste Wolfgang Schäuble einen Gastartikel für das Handelsblatt, in dem er in Bezug auf dem Islam behauptete: „Wir können den Gang der Geschichte nicht aufhalten.“

Es ist die Lust an der Selbstaufgabe

Bisher galt es als Aufgabe der Politik, den Gang der Geschichte den Interessen des eigenen Landes gemäß zu beeinflussen und zu formen. Dass Politiker, Journalisten, selbst Historiker nun meinen, den Gang der Geschichte eben nicht mehr aufhalten zu können, ist eine Bankrotterklärung des bis dato herrschenden Politikverständnisses. Es ist die Lust an der Selbstaufgabe und die Anbetung eines größeren und mächtigeren Willens, der irgendwo in den ewigen Jagdgründen zu suchen ist. 

Nur: Im Gegensatz zur Schwerkraft gibt es keinen Gang der Geschichte. Wer diesen Gang der Geschichte zu kennen meint, ähnelt der Witzfigur, die auf der Suche nach der nicht existenten Katze ist und ruft: Ich hab sie!

Das und noch viel mehr behandelt Markus Vahlefeld in seinem neuen Buch: Macht Hoch die Tür – Das System Merkel und die Spaltung Deutschlands, Oktober 2018, erhältlich hier: www.markus-vahlefeld.de

Update zum Stand der ablehnenden Länder (21. November 2018): USA, Ungarn, Österreich, Bulgarien, Tschechien, Estland, Australien, Polen und Israel.

In Kroatien, Dänemark, Norwegen und Schweden wird über den Migrationspakt noch debattiert; über das Abstimmungsverhalten von China, Japan und Südkorea ist momentan nichts Verbindliches bekannt.

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Viola Heyer / 23.11.2018

Immerhin hält Hillary Clinton das nicht für eine win-win-Situation und spricht sich gegen eine weitere Zuwanderung nach Europa aus. Man höre und staune. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.

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