Zwei Seelen wohnen, ach, in der deutschen Brust. Eigentlich sogar drei, aber die dritte kommt erst später dran. Hier die ersten zwei: Die eine Seele sehnt sich nach lokaler, regionaler und landsmannschaftlicher Unabhängigkeit und Eigenverantwortung. Es ist die föderale Seele, die sagt: Was vor Ort besser geregelt werden kann, soll vor Ort geregelt werden. Die andere Seele ist die Ordnungsseele. Sie sehnt sich nach Einheitlichkeit und Stromlinienform. Das ist die zentralistische Seele. Im Kampf gegen Corona hat die zentralistisch gesonnene Ordnungsseele die individualistisch gesonnene Vor-Ort-Seele ziemlich an die Wand gedrängt. Deswegen sind wir Kontaktverbots-Weltmeister und Impf-Totalversager.
Interessanterweise ist Markus Söder, der Herr über das eigenwillige und besonders föderal gesonnene Bayern, in der Corona-Krise zum Chef-Zentralisten mutiert. Ein notorischer Oberbayer wird sagen: Was soll man von einem Franken auch anderes erwarten. Der eigentliche Grund für den in München amtierenden Neuzentralisten Söder aber dürfte nicht sein fränkischer Migrationshintergrund sein, sondern sein verdeckter, aber nur schwer zu unterdrückender Blick nach Berlin.
Ein erster Bayer im Kanzleramt – das wäre fast so revolutionär wie eine erste Frau im Kanzleramt. Und dazu die Aussicht, 16 Jahre und mehr in der preußischen Zentrale die Zügel in der Hand zu halten. Im Übrigen stimmt der – wenn auch fränkische – Bayer auf seine ganz spezielle Weise in den Gesang der Einheitlichkeit ein: Er preist den bayerischen Weg als den Königsweg für ganz Deutschland an. Man könnte von einem Scheinföderalismus mit zentralistischer Invasionsneigung sprechen.
Mehr Flickenteppich wagen!
Dabei wäre ein Sieg der individualistisch gesonnenen Föderalisten-Seele keineswegs abwegig. Abgesehen davon, dass er der deutschen Geschichte entspräche, hätte er praktische Vorteile. Warum nicht mehr Flickenteppich wagen, angepasst an die Lage vor Ort? Warum nicht mehr individuelle Lösungen wagen, angesichts der Tatsache, dass die Leute nach Alter und Wohnort völlig unterschiedlich gefährdet sind? Warum Schulen und Kindergärten in ein Corona-Korsett stecken, anstatt sie lagegerecht atmen zu lassen? Warum Gaststätten und Geschäften nicht die Chance eröffnen, sich – coronagerecht präpariert – wenigstens eine Rumpfkundschaft zu erhalten?
Nun gut, es gibt noch individuelle Strömungen in einzelnen Bundesländern. Aber sie werden von Berlin aus missbilligend beäugt und eingedämmt. Die Schönheit des Flickenteppichs in der Krise wird verkannt und nur in Ansätzen geduldet. Der zentral gesteuerte Rasenmäher mäht durch, ohne Rücksicht auf die Blumen, die dabei ihre Köpfe lassen müssen. So wird ganz Deutschland zum Golfplatz-Green. Ganz Deutschland? Ein kleiner Ort im Südwesten Deutschlands mit einem Bürgermeister, der gerne vom Zaubertrank der Eigenverantwortung schlürft, wagt es, in Tübingen eigene Wege zu gehen. Mal sehen wie weit Boris Palmer, der Asterix im Corona-Land, damit kommt.
So viel zum weitgehenden Sieg der einen Seele, der Stromlinienseele über die andere, die Individualisten-Seele. Doch wie eingangs erwähnt, schlagen nicht nur zwei Seelen in der deutschen Brust, sondern, ach, auch noch eine dritte Seele. Das ist die Europa-Seele. Es ist die Seele, die zum Luther-Spruch passt: Aus einem verzagten Arsch kommt selten ein fröhlicher Furz.
England – die Alternative zur europäischen Alternativlosigkeit
Diese dritte Seele, getragen von nationaler Verzagtheit und übernationaler Gesinnungstüchtigkeit, sagt, wenn es brenzlig wird: Europa geh du voran. Diese Seelenübertragung nach Brüssel – so edel und frei von Egoismus sie anmutet – führt dann auf den Gipfel des Zentralismus, gegen den individuellere Wünsche und Lösungen gar keine Chance haben. So gesellte sich zur zentral gesteuerten Kontaktverbotsmeisterschaft auch noch die zentraleuropäische Impfpleite.
Dass dies alles nicht nur Theorie ist, können wir am Beispiel Englands ablesen, das seit dem Brexit gleich vor unserer Haustür eine Alternative zur angeblichen europäischen Alternativlosigkeit bietet. Die Briten sind, nachdem sie sich vom europäischen Dickschiff losgelöst haben, ihren eigenen Kurs in der Corona-Krise gefahren. Im Besitz eines eigenen Schnellboots haben sie sich zunächst in ein Unwetter manövriert, dann aber den Vorteil des eigenen Kapitänspatents genutzt.
Da man – personifiziert durch Boris Johnson – zu einem gewissen Unernst und Phlegma neigt, waren die Briten anfangs dem Anschlag des Virus fast schutzlos ausgeliefert. Mit dramatischen Folgen. Dann tauchte der Lichtblick des Impfstoffs auf. Und da hat man, von den Solidaritätsfesseln Europas befreit, in eigenverantwortlicher Entscheidung ohne Zögern zugeschlagen. Boris Johnson, der Unordentliche, hat jetzt die Impfstoffe, die die ordentlichen und verzagten Europäer gerne hätten. Europa-Chefin Ursula von der Leyen wollte dem frechen Briten noch durch die Hintertür ein paar Impfstoffe abluchsen, hat sich aber nur den Ruf einer schlechten Verliererin eingehandelt.
Jedenfalls sind uns die Briten beim Impfen zügig vorausgeeilt. 13 Prozent Geimpfte gegen unsere nicht mal drei Prozent. Sind sie also Sieger im Impfstoff-Rennen? Nur im Vergleich mit den lahmenden Kontinentaleuropäern, unter denen sich die Deutschen noch als besonders lahm auszeichnen. Nein, im Vergleich mit Impf-Weltmeister Israel (über 50 Prozent Geimpfte) sind auch die Briten noch hoffnungslos abgeschlagen. Aber sie haben wenigstens in der Impf-Krise die Genugtuung, sagen zu können: Da hat sich der Brexit schon mal gelohnt. Ein positives Anglo-Gefühl, das man in Brüssel und im europatreuen Berlin fürchtet wie der Teufel das Weihwasser.