Die klassische Münchner Schickeria ist mehr oder weniger tot. Jetzt geben Öko-Schickimickis den Ton an. Statt großer Sause ist „Achtsamkeit“ angesagt.
Samstagvormittag in der Türkenstraße. Eine lange Schlange zieht sich von einer Bäckerei um die Ecke in die Adalbertstraße. Viel wokes Volk, kunstvoll tätowiert, mit Skateboard unterm Arm und wiederverwendbaren Isolierbechern in den Händen, teure Cargofahrräder („Lorenz und Lena an Bord“) parken vor der Glastür mit der Aufschrift „Julius Brantner Brothandwerk“. Manchmal hält ein Tesla in zweiter Reihe, dessen Fahrer „nur kurz mal rausspringen“ möchte, um ein paar Ökosemmeln fürs Frühstück zu kaufen.
Vor zwei Jahren hat der gebürtige Schwarzwälder in einem Eckhaus im Univiertel seine Biobäckerei eröffnet. Mittlerweile ist der Laden ein Hotspot der Münchner Ökoschickeria. Manufactum war einmal, jetzt ist Brantner angesagt, obwohl die Auswahl überschaubar ist. Nur drei bis vier Sorten dunkles Brot gibt es, zwei Sorten Semmeln, pro Sorte wird ein Exemplar zur Ansichtnahme auf dem Tresen präsentiert wie ein sakrales Objekt. Dafür wird man bei Popmusikgewummere von einer Multikulti-Equipe notorisch geduzt, das Mehl stammt aus einer voralpinen Biomühle, das Wasser „aus dem Mangfalltal“ – sprich dem Wasserhahn, weil München sein hervorragendes Trinkwasser bekanntlich aus Mangfall- und Isartal bezieht.
Askese und Minimalismus auf höchstem Niveau
Schon am Nachmittag oder frühen Abend sind die Brot-Stellagen oft leergefegt. Die Angebotsverknappung nach dem Motto „Verkauf bis zum letzten Brot“ ist dem ökologischen Anspruch geschuldet, nichts wegzuwerfen, aber funktioniert auch als Marketingtrick, weil Dinge, die rar sind, attraktiver erscheinen. Die schöne, neue Ökowelt erinnert manchmal frappierend an die verflossene DDR. Und wenn der Patron unangekündigt seine zugegebenermaßen köstlichen Zimtschnecken offeriert und man zufällig zur Stelle ist, darf man sich fühlen wie im HO-Laden, in dem gerade eine Lieferung Bananen eingetroffen ist.
Doch die saturierte Öko-Bourgeoisie lässt sich's gerne gefallen, schließlich will man nicht in Verdacht kommen, der verpönten „Wachstumsideologie“ zu huldigen. Askese und Minimalismus allerorten, freilich auf höchstem Niveau. Das spiegelt sich auch in der Inneneinrichtung von Brantners Brot-Tempel, der in seiner auffällig-unauffälligen Edelanmutung nur von einem Innenarchitekten entworfen worden sein kann.
„Die Prominenz“ ist weg
In den glorreichen Zeiten als heimlicher Hauptstadt der Bonner Republik war München für seine Schickeria bekannt, der Helmut Dietl in „Kir Royal“ ein satirisches Denkmal setzte. Doch die alten Kämpen haben längst das Zeitliche gesegnet wie Rudolf („Mosi“) Moshammer, Gerd Käfer, Mundschenk der Prominenz, oder August Everding. Manche von ihnen sind mehr oder weniger desavouiert wie der von Skandalen gebeutelte „Kaiser“ Franz Beckenbauer oder der jüngst wieder einmal in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratene Alfons Schuhbeck. Allein Uschi Glas schlägt sich wacker und taucht hier und da noch in den Schlagzeilen auf.
Auch von den kulinarischen Orten, wo sich zu Zeiten von Baby Schimmerlos „die Prominenz“ traf, ist nicht viel übrig geblieben. Boettner weg, Königshof abgerissen, Aubergine längst Geschichte, Tantris harrt nach längerer Schließung und Wechsel der Küchenchefs der Wiedererlangung seiner Michelinsterne. Der versprengte Rest der klassischen Schickeria aus Adelsrestbeständen, Business, Kultur und Politik trifft sich in der Käfer-Schenke an der Prinzregentenstraße, im Käfer-Zelt auf der Wiesn, so sie denn stattfindet, bei Schumanns, im Trader Vic’s im Bayerischen Hof oder im P1, wo man dem Ökokult mit je einer vegetarischen und veganen Pizza Tribut zollt.
CO2-„Ausgleich“ für den Hin- und Rückflug auf die Malediven
Die neue Ökoschickeria definiert sich weniger über Promis und Locations als über Netzwerke und Lebensstile. Schlüsselwort und Türöffner für den Eintritt in die Welt der Grünen und Weichen ist, neben der allgegenwärtigen „Wertschätzung“, die „Achtsamkeit“. Der Begriff hat das sperrige Unwort der Nachhaltigkeit abgelöst und umfasst auch die sozialen und zwischenmenschlichen Komponenten eines „grünen“ Lebensstils. Wer sich zu allseitiger Achtsamkeit bekennt, pflegt aufkommende Konflikte im öffentlichen oder privaten Bereich gerne mit der Beschwichtigungsformel „Alles gut“ zu kalmieren, die zunehmend an die Stelle der klassischen Entschuldigung getreten ist.
Niemand aus dem Achtsamkeits-Milieu würde es heute noch in den Sinn kommen, sich von Käfer oder Dallmayr eine Sause auf der Hochalm oder einer Karibikinsel organisieren zu lassen. Schließlich herrscht in München seit Dezember 2019 der vom Stadtrat ausgerufene „Klimanotstand“, weswegen bei Reisen und Events aller Art größtmögliche Zurückhaltung gefordert ist. Wenn überhaupt, fährt beziehungsweise fliegt man nur noch einmal im Jahr in den Urlaub und frequentiert idealerweise eine Eco-Lodge wie das schwimmende Via Kudadoo Maldives Private Resort, gebaut aus „ethically sourced timber“ und, dank Solaranlage, „100% Eco-powered“. Der CO2-„Ausgleich“ für den Hin- und Rückflug auf die Malediven über 15.400 km ist pro Person schon für 62 Euro zu haben.
„Luxus des Einfachen“
Wer Fernreisen aus ökologischen Erwägungen grundsätzlich ablehnt, für den bietet das Bio- und Wellnessressort Stanglwirt in Kitzbühel eine akzeptable Alternative. Die Liste ökologischer Errungenschaften reicht hier von baubiologischen Details über den eigenen Bio-Bauernhof (100 Hektar!) bis zum mit regionalen Rindenabfällen beschickten Biomasse-Heizkraftwerk und eigener Wasserquelle. Sie ist so umfangreich, dass man sich nicht vorstellen möchte, wie lang das ökologische Sündenregister sein muss, für das man sich mittels Buchung eines Aufenthalts beim Stanglwirt Ablass erhofft.
Leider ist Kitzbühel in den vergangenen Jahren mehrfach in die Schlagzeilen gekommen, weil die dortigen Bergbahnen nicht davon ablassen wollten, die Skisaison schon im Oktober auf einer eigens durch grüne Wiesen präparierten Piste einzuläuten. Ökologisch sei man auf der sicheren Seite, argumentiert der Chef, weil man Depotschnee des letzten Winters verwende und die Skifans dann nicht mehr so weit in die Gletscherskigebiete fahren müssten, die einen weitaus größeren ökologischen Fußabdruck besäßen.
Wem dies zu recht als billige Ausflucht erscheint, kann aus Protest schon vor den Toren Münchens in Georg Schweisfurths elegantem, ökologischem Seminarhotel Sonnenhausen Halt machen und dem laut Eigenwerbung „Luxus des Einfachen“ frönen, unweit den nahe Glonn beheimateten Herrmannsdorfer Landwerkstätten, die sein Zwillingsbruder Karl bewirtschaftet, zusammen mit Sophie, der Enkelin des 2020 verstorbenen Landwerkstätten-Gründers und Öko-Pioniers Karl Ludwig Schweisfurth. Georg war Erfinder der schicken „Basic“-Biosupermärkte, der vor 20 Jahren dem Schrumpelmöhren-Ambiente aus ökologischen Urzeiten den Kampf ansagte und der Münchner Ökoschickeria den grünen Teppich ausrollte.
Alles, nur kein Fleisch, igitt!
Die trifft sich immer noch gerne im Bio-Tagesbistro in der „Herrmannsdorfer“-Filiale am Viktualienmarkt, doch scheint die Zeit ein wenig über die Schweisfurths hinweggerollt zu sein, wirkt deren Anspruch, man solle wenig, aber gutes und ökologisch korrekt produziertes Fleisch konsumieren, gegenüber der sprunghaft wachsenden Vegetarier- und Veganer-Fraktion schon etwas verzopft. Jedenfalls droht ihnen das Organic Garden-Projekt des Unternehmers Martin Wild und des Promikochs Holger Stromberg den Rang abzulaufen, zumindest, was den Hippness-Faktor anbelangt.
„Signature“-Produkt ist ein von Stromberg kreierter pflanzlicher Hotdog, bislang erhältlich in der angesagten „Aroma-Bar“ im Glockenbachviertel, um die herum man außerhalb von München und andernorts innovative Biofarmen samt „Food-Lab“ gruppieren möchte, wo in einem umweltfreundlichen Kreislaufsystem Gemüse, Algen, Fisch und Pilze produziert werden sollen. Alles, nur kein Fleisch, igitt!
Auf die vegane Schiene setzt auch Thomas Bartu, Gründer und Inhaber der ökologisch zertifizierten Eismanufaktur gleichen Namens, der vom „Münchner Schuhkönig“ auf Eismacher umsattelte und dessen Filiale in der Schwabinger Wilhelmstraße einer der beliebtesten Treffpunkte der Münchner Ökoschickeria ist, deren Angehörige den stattlichen Preis von zwei Euro pro ökologisch korrekter und effektvoll mittels Spachtel aufgeschlagener Portion anstandslos zu zahlen bereit sind.
Auf der anderen Seite der Isar in Haidhausen tummeln sich gut situierte Ökos gerne in der Gastwirtschaft „Zum Kloster“ in der Preysingstraße, die die „Süddeutsche Zeitung“ zutreffend als „Münchner Bullerbü“ beschrieb. Hier wähnt man sich inmitten der Großstadt wie auf dem Land. Vorne Alpen, hinten Maximilianstraße, so könnte man, frei nach Kurt Tucholsky, die zwischen den naturfernen Annehmlichkeiten und Freiheiten der Stadt und einer imaginierten Landidylle changierenden Lebensentwürfe der Ökoschickeria wohl charakterisieren.
Dem offensichtlichen Niedergang der Schickeria von einst zum Trotz versuchen deren letzte Protagonisten, den Anschluss nicht zu verlieren. Jüngst eröffnete Michael Käfer in der Schuhmannstraße in Bogenhausen unter dem Namen „Green Beetle“ sein erstes vegetarisch-veganes Restaurant. Das ganze Restaurantkonzept sei auf Nachhaltigkeit ausgerichtet, jedes Detail bis zur Arbeitskleidung des Teams unter die Lupe genommen worden, heißt es in der Presseeinladung. Doch „bei allem Fokus auf Umwelt und Gesundheit“ solle das Green Beetle, und da schimmert wieder die gute, alte, hedonistische München-Schickeria durch, „vor allem eines sein: Ein Ort des entspannten Genusses, der Verbundenheit mit Familie und Freunden, eine Bar, in der man isst, trinkt und erlebt.“