Am 29. September 2023 ließ der Kreml die Annexion seiner neuen Provinzen mit einem Konzert auf dem Roten Platz feiern. Wladimir Putin hielt eine Ansprache. Wie das Regime die Bürger mit seiner Politik versöhnen will.
Jeder Krieg hat eine Heimatfront. Im Falle von Russlands Invasion der Ukraine verläuft diese quer durch Moskau. Seit dem Beginn des Feldzugs vor 19 Monaten haben die Behörden hier drei Kundgebungskonzerte organisiert: am 18. März 2022 im Luschniki-Stadion zum Jahrestag der Krimannexion; am 30. September 2022 auf dem Roten Platz, diesmal mit Bezug auf die Inkorporation der vier beanspruchten ukrainischen Oblaste; und am 22. Februar 2023, dem Tag des Vaterlandsverteidigers.
Auf all diesen Veranstaltungen ist Wladimir Putin aufgetreten. Und hat eine flammende Rede gehalten. Diese Praxis hat zum Ziel, eigenmächtig geschaffene Fakten mit staatlicher Hilfe zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund hat Putin den 30. September nun zum „Tag der Wiedervereinigung“ erklärt. Am 28. September zeichnete er ein Dekret, welches Artikel 11 des Föderalgesetzes „Über die Tage des militärischen Ruhms und die Gedenktage Russlands“ erweitert.
Der Begriff „Wiedervereinigung“ ist irreführend, bezieht er sich doch auf Regionen, die Russland im vergangen Jahr gewaltsam aus der Ukraine herausgelöst hat. Gemeint sind die Volksrepubliken von Lugansk und Donezk sowie die Oblaste Cherson und Saporischschja – Territorien, in denen erbittert gekämpft wird. Wladimir Putin hat das wenig gekümmert.
Am 30. September 2022 hatte er mit den Führern der Volksrepubliken und den von Moskau ernannten Leitern für die Regionen Saporischschja und Cherson im Kreml Vereinbarungen über den „Anschluss an Russland“ unterschrieben (Achgut berichtete). Dies war international auf Kritik gestoßen. Kaum ein Staat erkennt den Landraub an.
„Ein Land, eine Familie, ein Russland“
In Russland interessiert das niemanden. Die Menschen folgen weiterhin dem Regime. Und zeigen sich empfänglich für dessen Eingebungen. Gemäß einer Meinungsumfrage von Juni 2023 erklärten 69 Prozent der Befragten, der Krieg stärke das Ansehen Russlands in der Welt. 58 Prozent bezeichneten seinen Verlauf als Erfolg. Angesichts dieser Daten nimmt nicht wunder, dass anlässlich des neuen Feiertages landesweit Festivitäten stattgefunden haben. Sie standen unter dem Motto „Ein Land, eine Familie, ein Russland“. Der Slogan dürfte vielen Deutschen bekannt vorkommen. Das ist kein Zufall. Er erinnert an den Wahlspruch „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“.
Das ist allerdings nicht die einzige Parallele. So hatten die Nationalsozialisten ihn im Zusammenhang mit dem Referendum vom 10. April 1938 verwendet. Damals ging es um den Anschluss der „Ostmark“ an das Deutsche Reich. Mit der Inkorporation Österreichs hatte Hitler ein staatliches Gebilde geschaffen, dessen Existenz seiner Ansicht nach einem Naturgesetz gleichkam – Großdeutschland.
Die Idee, wonach alle Russen in einem Staat vereint leben, steht auch für Wladimir Putin nicht zur Disposition. Ihre Umsetzung soll seine historische Tat sein. Um diesen Gedanken in die Köpfe der Menschen zu peitschen, bedient sich die russische Staatsführung ihrer virtuosen Fähigkeit zur Verführung der Massen. Aus diesem Grund hat sie das vierte Kundgebungskonzert akribisch vorbereitet. Wie schon im Vorjahr wurden Haushaltsangestellte, Studenten und bezahlte Statisten engagiert. Um der Veranstaltung die nötige Vitalität zu verleihen, wurde die Altersgrenze auf 35 Jahre festgelegt.
Den Besuchern des Konzerts, das von 17:30 bis 19:30 Uhr dauerte, wurden Fahnen und andere Utensilien bereitgestellt. Für eine feierliche Stimmung sorgten zahlreiche prominente Künstler. Nur wenige Menschen dieses Berufsstands haben Russland den Rücken gekehrt. Die veröffentlichte Liste enthält ausschließlich Musiker, die als linientreu gelten. Auch Dima Bilan, Gewinner der Eurovision 2008, trat auf.
Konzerte, Kundgebungen, Auto-Rallyes und Fotoausstellungen
Wie für vom Kreml inszenierte Veranstaltungen üblich, gab es auch diesmal wieder eine finanzielle Vergütung. Im Gegensatz zur Feier, die vor einem Jahr auf dem Roten Platz ausgerichtet und noch mit 1500 Rubel bezahlt worden war, betrug die Zuwendung diesmal nur 600 Rubel. Haushaltsangestellte gingen sogar völlig leer aus. Studenten konnten sich ihre Teilnahme auf ihr Studium anrechnen lassen.
Zu den patriotischen Events, die im ganzen Land abgehalten wurden, zählten Konzerte, Kundgebungen, Auto-Rallyes und Fotoausstellungen. Alle von ihnen wurden von der Partei „Einiges Russland“ und ihrer Jugendorganisation „Junge Garde“ organisiert und durchgeführt. In Tscheljabinsk etwa wurde in dem nach Jurij Gagarin benannten Zentralpark ein kostenloses Konzert mit Beteiligung führender regionaler Bands sowie eine Ausstellung von Militärausrüstung und Oldtimern des militärhistorischen Klubs „Division“ ausgerichtet. Den Zuschauern wurde auch gezeigt, wie Trockenrationen hergestellt und Uniformen für die Armee genäht werden.
In Krasnojarsk indes sind Junggardisten mit der symbolischen Nummer 89 angetreten. Das entspricht der Anzahl der russländischen Föderationssubjekte einschließlich der vier annektierten ukrainischen Regionen. Ferner reisten Aktivisten von „Einiges Russland“ aus den Regionen Tula, Woronesch und Belgorod in die Provinz Lugansk, wo sie eine Ausstellung veranstalteten, Lebkuchen an Kinder verteilten und Bändchen mit der russischen Trikolore an die Anwohner ausgaben.
All das zeigt, dass das Regime bemüht ist, die Bevölkerung mit ihrer Kriegspolitik zu versöhnen, deren Folgen längst spürbar sind. Am kritischsten für die russische Wirtschaft war der Anstieg der Preise für Rohstoffe, Ausrüstungen und Komponenten, die sich aus den westlichen Sanktionen ergaben. Im November 2022 hatten sich 64,6 Prozent der an der Umfrage „Die Folgen der Sanktionen für das russische Business“ teilnehmenden Unternehmen entsprechend geäußert.
Die immensen personellen Verluste des Heeres
Hinzu kommen die immensen personellen Verluste des Heeres – ein Thema, zu dem sich der Kreml schon lange nicht mehr äußert. Erst im August 2023 hatten US-Behörden neue Schätzungen veröffentlicht. Demnach soll die russische Armee bereits 300.000 Mann verloren haben, darunter 120.000 Tote und 180.000 Verletzte. Auf die Dauer des Krieges hochgerechnet, wären das 512 pro Tag.
Zwar konnte die BBC gemeinsam mit dem russischen Oppositionsmedium „Media Zone“ bislang nur den Tod von 33.236 Soldaten belegen. Das liegt aber daran, dass die russischen Behörden nicht öffentlich Auskunft erteilen. In dieser Diskrepanz dürfte das wohl größte Paradoxon des Krieges liegen. Obwohl kaum ein Feldzug medial je so granular begleitet worden ist, liegt das Schicksal Hunderttausender Rekruten im Dunkeln.
Dass sich die russische Öffentlichkeit dafür nicht interessiert, liegt auch an der Willfährigkeit, mit der sie sich den Eingebungen ihres Präsidenten hingibt. So war die Rede Wladimir Putins denn auch der Höhepunkt dieses Abends. Im Gegensatz zu den bislang ausgerichteten Konzertkundgebungen trat der Oberbefehlshaber, wie ihn seine Untergebenen ehrfürchtig nennen, jedoch nicht persönlich auf.
Stattdessen ließ sich der Präsident lediglich zuschalten. Vom Kreml aus wandte er sich mit folgenden Worten an die Teilnehmer:
„Liebe Freunde, liebe Bürger Russlands!
Ich gratuliere Ihnen zum Tag der Wiedervereinigung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie der Regionen Saporischschja und Cherson mit Russland.
Vor einem Jahr, am 30. September 2022, fand ein entscheidendes, wahrhaft historisches und bedeutsames Ereignis statt: die Verträge über die Aufnahme von vier neuen Föderationssubjekten in Russland wurden unterzeichnet. Millionen von Einwohnern der Oblaste Donbass, Cherson und Saporischschja haben sich für ihr Vaterland entschieden.
Die Menschen haben diese bewusste, lang erwartete, lang erduldete und wahrhaft volksnahe Entscheidung gemeinsam in Volksabstimmungen und in voller Übereinstimmung mit internationalen Normen getroffen und dabei Mut und Unbeugsamkeit bewiesen.
Man hat versucht, sie einzuschüchtern, ihnen das Recht zu nehmen, ihre Zukunft und ihr Schicksal selbst zu bestimmen, ihnen das zu nehmen, was jedem Menschen lieb und teuer ist: die Kultur, die Traditionen und die Muttersprache – alles, was den Nationalisten und ihren westlichen Gönnern verhasst war, die 2014 einen Staatsstreich in Kiew inszenierten und dann einen regelrechten Bürgerkrieg, Terror gegen Dissidenten, eine Blockade, ständigen Beschuss und Strafmaßnahmen im Donbass entfesselten.
Aber nichts und niemand kann den Willen von Millionen von Menschen, ihren Glauben an die Wahrheit und die historische Gerechtigkeit brechen. Das russische Volk hat die freie und eindeutige Entscheidung unserer Brüder und Schwestern von ganzem Herzen unterstützt, es hat die Hauptsache verstanden und tief empfunden.
Indem wir unsere Landsleute im Donbass und in Neurussland verteidigen, verteidigen wir Russland selbst, kämpfen wir gemeinsam für unsere Heimat, für unsere Souveränität, unsere geistigen Werte, unsere Einheit und für den Sieg. Ich danke allen Bürgern des Landes für diese Einigkeit und diesen patriotischen Geist.
Heute bauen wir auch gemeinsam an unserer Zukunft, indem wir Schulen und Krankenhäuser, Häuser und Straßen, Museen und Denkmäler restaurieren oder gleich neu errichten. All unsere Regionen leisten den Städten und Dörfern im Donbass und in Neurussland echte brüderliche Hilfe. Freiwillige, öffentliche und religiöse Organisationen, parlamentarische Parteien, Geschäftsleute und Arbeitskollektive tragen zu dieser Arbeit, die unsere gemeinsame Sache ist, bei; das ganze große, vereinte Land hat daran Anteil.
Die jüngsten Wahlen in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk, in den Regionen Saporischschja und Cherson waren ein wichtiger Schritt zur Stärkung unseres gemeinsamen staatlichen, politischen und rechtlichen Raums. Wie schon vor einem Jahr haben die Menschen in historischen Referenden erneut ihren Willen zum Ausdruck gebracht und bekräftigt, zu Russland zu gehören, und ihre Landsleute unterstützt, die sich das Vertrauen des Volkes durch ihre Arbeit und reale Taten verdient haben.
Es liegt noch viel Arbeit vor uns und die Lösung komplexer Aufgaben, die Umsetzung eines groß angelegten Programms zur Wiederbelebung und sozioökonomischen Entwicklung unserer historischen Regionen. Wir werden unsere Ziele definitiv erreichen.
Ich möchte einen besonderen Appell an die Einwohner der Volksrepublik Donezk, der Volksrepublik Lugansk, der Regionen Saporischschja und Cherson richten. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie trotz aller Widrigkeiten die Liebe zum Vaterland bewahrt und an Ihre Kinder weitergegeben haben. Dank Ihnen, Ihrer Standhaftigkeit und Entschlossenheit ist Russland noch stärker geworden. Wir sind eine Nation, und gemeinsam werden wir alles überwinden und alle Herausforderungen meistern.
Einen schönen Feiertag, liebe Freunde, einen schönen Tag der Wiedervereinigung!“
Enthusiasmus der geladenen Künstler
Bis auf das Versprechen zum Wiederaufbau bot die Rede des russischen Präsidenten in programmatischer Hinsicht keine neuen Erkenntnisse. Wohl aber zeigt sie, dass man im Kreml bislang keinen Millimeter von der eigenen Sichtweise abgerückt ist. Inwieweit das damit verbundene Narrativ tatsächlich noch in der Bevölkerung zu verfangen vermag, ist unklar. Fest steht lediglich, dass Russland den Krieg auch nach 19 Monaten nicht für sich entschieden hat.
Dem Enthusiasmus der geladenen Künstler, die sich allesamt dem Regime dienstbar machten, schien das jedenfalls keinen Abbruch zu tun. Der bekannte TV-Moderator Artem Schamilow (38) huldigte das Regime gleich mit folgender Erklärung:
„Dieser Tag, der 30. September 2022, ist bereits in die jüngere Geschichte Russlands eingegangen. Vor genau einem Jahr unterzeichnete Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin Dokumente über die Wiedervereinigung der russischen Heimatgebiete mit der Russischen Föderation. Die Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie die Gebiete Saporischschja und Cherson wurden zu einem vollwertigen Teil Russlands. Die historische Gerechtigkeit hat gesiegt!“
Ob Alexander Solschenizyn, Wladimir Wyssozki oder Jurij Schewtschuk – in der Sowjetunion bildeten Künstler und Intellektuelle das Reservoir politischer Dissidenten. Heute stellt dieses Milieu keine Gefahr für die Herrschenden mehr dar. Nach 22 Jahren unter Wladimir Putin ist es nicht mehr als ein Ort, an dem opportunistische Menschen in Einklang gebracht werden.
Den Abschluss des Tages markierte schließlich Dmitrij Medwedew. Auf seinem Telegramkanal veröffentlichte der stellvertretende Vorsitzende des nationalen Sicherheitsrates ein kryptisches Statement, das aufhorchen ließ.
So erklärte er, die Bewohner der neuen Provinzen hätten in Volksabstimmungen eine schicksalhafte Entscheidung getroffen und sich für ihr Vaterland entschieden. Ihr Votum sei nicht nur zu einem Symbol für die Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit, sondern auch für die Einheit des russischen Volkes, seinen kolossalen Willen und seine Selbstlosigkeit geworden.
Die spezielle Militäroperation werde bis zur vollständigen Vernichtung des nazistischen Kiewer Regimes und der Befreiung der russischen Heimatgebiete vom Feind fortgesetzt. Danach werde Russland weitere neue Regionen erhalten.
Was auch immer Medwedew beim Schreiben dieser Zeilen im Sinn gehabt haben mag. Er hätte gut daran getan, sich jener Erkenntnisse zu erinnern, die die Welt der großen russischen Literatur zu verdanken hat. Dazu gehört auch folgender Aphorismus aus der Feder Leo Tolstois:
„Wisset, dass man nichts Edles aus Hochmut schaffen kann“.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.