Mit einer Kürzestdefinition ließe sich sagen, die 68er sind die, die das Jahr 1968 erfolgreich besetzt halten. Ihr Lebensinhalt scheint, neben dem langen Marsch durch die Institutionen, die Selbstfeier in allen Jubeljahren zu sein, die die Tradition der runden Zahl mit sich bringt, so auch in diesem. Da sie aber Meister der Dialektik sind, abgenabelte Adorniten, haben sie auch die Kritik an sich selbst fest im Griff.
Jetzt, vierzig Jahren danach, stellen sie die kritischen Bücher zu 68. Als Meister der 68er Kritik treten Götz Ali und Peter Schneider an. Was macht es schon, dass die beiden unter den Rädelsführern waren, dass Peter Schneider die Brandrede gegen Springer hielt und Ali an der Drangsalierung des Professors Alexander Schwan am OSI, an die er sich nur noch vage zu erinnern vermag, teilgenommen hat? Jetzt, nach vierzig Jahren haben sie einen Abstand zur Bewegung. Aber auch zu sich selbst? Wahr ist, sie beherrschen immer noch den öffentlichen Diskurs. Und so bleibt alles ausgeblendet, was 68 sonst noch geschah. Und was überhaupt noch wichtig gewesen wäre, vielleicht sogar wichtiger als die 68er selbst.
Zum Beispiel in Ostmitteleuropa, in Polen und in der Tschechoslowakei. Der Prager Frühling und die Studentenproteste in Warschau und Danzig. Über den Prager Frühling ist, zumindest in den Frühjahrsprogrammen, kein einziges Buch in einem deutschen Verlag angekündigt. Über die Studentenproteste in Polen, auf die die kommunistische Regierung damals mit einer antisemitischen Kampagne antwortete, erschienen jetzt, in den ersten Märztagen, immerhin einige Zeitungsartikel.
Wahr ist, dass das Interesse der 68er an den Freiheitsbestrebungen in Ostmitteleuropa schon seinerzeit gering war. Man beschäftigte sich lieber mit Vietnam als mit Polen und der Tschechoslowakei. Vietnam war weit genug entfernt, um die Phantasie der 68er nicht weiter mit seiner Realität zu stören. Ein Blick auf die Nachbarn im Osten hätte zum Nachdenken über das eigene Weltbild führen können.
Diese Gefahren wusste man gekonnt auszublenden. Brachte man es doch selbst in Westberlin fertig, gegen die Vereinigten Staaten zu agitieren, wobei diese der einzige Garant für die freie Existenz der von Sowjettruppen umstellten Stadt war. Die Sowjetunion war aber nicht der Gegner. Gegner waren das Land der Eltern und die Vereinigten Staaten. Die Bundesrepublik, die den verhängnisvollen deutschen Sonderweg verlassen hatte, um sich in die westliche Welt einzuordnen, und die Vereinigten Staaten, die die Demokratie wie kein anderer Staat symbolisierte.
Und das ist auch der Grund, warum das Interesse der 68er an den Protesten und Reformen in Ostmitteleuropa so gering war. Während man in Prag und Warschau für die Freiheit eintrat, bekämpfte man sie im Westen ausgerechnet mit Marx und Mao und pries die chinesische Kulturrevolution, eine der größten Gewaltorgien des 20. Jahrhunderts. Während sich in Prag ein Jan Palach im Januar 1969 aus Verzweiflung über die Niederlage der Freiheitskämpfer auf dem Wenzelsplatz verbrennen wird, nimmt im Westen die Herrschaft der 68er über den Diskurs seinen Anfang.
Sie dauert bis heute an. Zu ihren Merkmalen gehört, neben dem Antiamerikanismus und der Israelkritik, neben Antikapitalismus und kollektiver Selbstbezichtigung, auch das Ausblenden der ostmitteleuropäischen Freiheitsbewegungen. Man marschiert immer noch, zumindest rhetorisch, in die Gegenrichtung, oder auch nur um sich selbst herum. Aus der „Rebellion gegen die Freiheit“, wie sie der Philosoph Helmut Kuhn bereits 1968 nannte, ist eine permanente Revision der Rebellion geworden. Die Revisoren aber sind die Rebellen von einst.