Vera Lengsfeld / 20.10.2018 / 13:00 / Foto: André Zehetbauer / 7 / Seite ausdrucken

Die Republik der freien Geister: Jena 1800

Deutschland war in längst vergangenen Zeiten tatsächlich einmal führend auf vielen Gebieten: der Literatur, der Poesie, der Philosophie, der Medizin, den Naturwissenschaften, der Erforschung der Meere und fremder Kontinente, der Mathematik, der Geodäsie, der Astronomie. Ich rede von der Goethezeit. Damals lebte nur ein Viertel der heutigen Bevölkerung – obwohl Deutschland bis nach Königsberg reichte, das der Philosoph Immanuel Kant nie verlassen hat und dennoch für Generationen von Philosophen der Leitstern war. Die damalige Zauberformel lautete: Freiheit des Denkens. Dort, wo aufgeklärte Monarchen herrschten, bildeten sich Cluster aufgeklärter, kreativer Männer und Frauen.

Um 1800 war es die kleine thüringische Stadt Jena, die für ein paar kurze Jahre zum Anziehungspunkt für die Geistesgrößen jener Zeit wurde. Fast alle, bis auf Kant, waren hier: Fichte, Hegel, Schelling, die nacheinander den philosophischen Lehrstuhl der Universität zierten. Goethe, Schiller, Novalis, Tieck, die Gebrüder Schlegel schufen hier Meisterwerke. Clemens Brentano, noch einfacher Student der Medizin, kam, um zu bewundern. Johann Wilhelm Ritter und Alexander von Humboldt vertraten die Naturwissenschaften. Damit sind nur die heute noch bekannten Personen genannt.

Die Wallenstein-Triologie entstand hier, Goethe schrieb am Faust und am Wilhelm Meister, nebenbei entdeckte er den menschlichen Zwischenkieferknochen im Anatomischen Turm, Friedrich Schlegel quälte sich mit dem zweiten Teil seiner „Lucinde“ und August Wilhelm nahm seine berühmten Shakespeare-Übersetzungen in Angriff. Novalis legte „Die Christenheit oder Europa“ vor, das ein Fragment bleibt.

Man traf sich zum Mittagessen, das Caroline, verwitwete Böhmer, verheiratete Schlegel und zukünftige Frau Schelling bereitete, um zu diskutieren. Dabei wurden kontroverse Meinungen ausgetauscht, ohne dass der Kreis auseinander flog.

In einem Dachstübchen schrieb Dorothea Schlegel, geschiedene Veit, ihren ersten Roman, der noch anonym erschien und ihre Schriftstellerkarriere begründete, mit der sie sich, Schlegel und ihren Sohn Philipp Veit – später ein berühmter Maler – finanziell über Wasser hielt.

Eine kleine Insel der Glückseligkeit im Sturm der Zeit

In Peter Neumanns Buch „Jena 1800: Die Republik der freien Geister“ wird diese illustre Gesellschaft anschaulich beschrieben. Es ist fast, als schaute man den Akteuren zu. Es ist aber alles andere als eine Schlüsselloch-Geschichte. Eher erfahren wir, wie Ideen, Kreativität und gegenseitiges Beflügeln die Mitglieder des Kreises bereicherten und zu Höchstleistungen trieben.

Es handelt sich um einen echten Bildungsroman. Zu jeder Person gibt es eine Kurzdarstellung ihrer wichtigsten Positionen. Wer in nuce wissen will, was die klassische deutsche Philosophie ausmacht, oder wie Schiller Geschichte für sein Werk verarbeitet, ist mit Neumann gut bedient. Wissensdurstige wird es zum Weiterlesen ermutigen. Vielleicht bekommt der eine oder die andere auch Lust, die Originaltexte zu lesen. Das ist sicher im Sinne des Autors, der selbst Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität lehrt.

Natürlich erfahren wir auch etwas über die welterschütternden Ereignisse, angefangen von der französischen Revolution, über die Mainzer Republik – dem deutschen Versuch, mit den Franzosen gleichzuziehen – bis hin zur Schlacht bei Jena und Auerstedt, die von den Experten, bis sie stattfand, für unmöglich gehalten wurde. Im Ergebnis sieht Hegel den Weltgeist in Form des Imperators Napoleon durch Jena reiten, während die französischen Truppen in der Stadt marodieren. Im zeitlichen Ablauf liegt das einzige Manko des Romans. Neumann springt hin und her. Das erschwert die geschichtliche Orientierung.

Es waren weder ruhige, noch friedliche Zeiten. Jena war eher eine kleine Insel der Glückseligkeit im Sturm der Zeit. Der Kreis zerfiel auch sehr bald an inneren und äußeren Widersprüchen. Die Mitglieder zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen: Nach Paris, nach Berlin, nach Süddeutschland, nach Wien oder Weimar. Manche, wie Novalis, starben früh. Nur der Impuls, den diese Runde der deutschen Kultur und Wissenschaft gegeben hat, ist unsterblich.

Zum Buch: Jena 1800: Die Republik der freien Geister

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Leserpost

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Werner Arning / 20.10.2018

Oh Wahnsinn, diese Zeit. Welch geistiger Reichtum. Welche Gedankenwelt. Welche Fragen gestellt wurden. Die Romantik. Wer sich dafür interessiert, wird fündig. Der wird geistig satt. Der findet jeden Denkansatz. Der trifft nicht nicht auf Borniertheit, nicht auf Denkverbote. Es wurde gedacht, gefühlt, erahnt, spekuliert, wahrhaft philosophiert. Den Griechen ebenbürtig. Ein Feuerwerk an Geistigkeit. Welch geistig arme Zeit dazu heute im Vergleich. Was gäbe ich für ein Belauschen eines kurzes Gespräches mit Teilnehmern wie Goethe, Novalis, Schiller, Brentano. Und vor allen Anderen mit Goethe. Goldene Epoche. Unvorstellbar eine Zusammenkunft dieser Leute zu etwa gleicher Zeit an einem Ort. Dieses war die Hochzeit des geistigen Lebens in Deutschland. Es gäbe danach nur noch wenige würdige Nachfolger. Aber es gab sie.

Sabine Drewes / 20.10.2018

Danke, Frau Lengsfeld, endlich mal etwas Erbauliches… Nicht nur Frau Özoguz sollte das lesen, sondern auch die Kanzlerin und ihre Paladine. Denn, wie Sie schreiben: „Die damalige Zauberformel lautete: Freiheit des Denkens. Dort, wo aufgeklärte Monarchen herrschten, bildeten sich Cluster aufgeklärter, kreativer Männer und Frauen.“ Und: „Man traf sich zum Mittagessen… Dabei wurden kontroverse Meinungen ausgetauscht, ohne dass der Kreis auseinanderflog.“ Das klingt heute wie ein Märchen. Dabei wäre genau dies ein wunderschönes Beispiel dafür, was wir im positiven Sinne aus unserer Geschichte lernen könnten und zugleich ein ECHTER Beitrag zur angekündigten, verschärften „Demokratieerziehung“, die in Wahrheit das exakte Gegenteil darstellt, weil sie die freie Meinungsbildung im Keim erstickt. Die Unterdrückung der freien Geister hat aber höchstens zu einem (freilich bewundernswerten) Improvisationstalent, aber noch nie zu wirklichen Höhenflügen und Fortschritten einer Nation geführt. Gerade Leute wie Frau Merkel sollten das eigentlich wissen.

Dietmar Blum / 20.10.2018

Nicht zu vergessen: Die Gründung der “Urburschenschaft” am 12. Juni 1815. “ZEIT” vom 23.07.15 “Still senken sich vor dem Gasthaus die Fahnen der Landsmannschaften zum Zeichen ihrer Auflösung. Dann verliest der Theologiestudent Karl Horn die Verfassung der Burschenschaft, die nach demokratischer Abstimmung angenommen wird. Die Schrift ist nicht revolutionär, doch sie enthält Passagen, die aufhorchen lassen. Alle Mitglieder der Burschenschaft seien gleich, es gebe keine Unterschiede qua Geburt. Für die “Freiheit und Selbstständigkeit des Vaterlands” wollen die Studenten einstehen. Das deutsche Volk solle geschützt werden “gegen die schrecklichste aller Gefahren, gegen fremde Unterjochung und Despotenzwang”. Nur vier Tage nachdem die Bundesakte auf dem Wiener Kongress verabschiedet worden ist, der die feudalen Strukturen in Deutschland zementieren soll, strebt hier eine Avantgarde nach politischer Mitbestimmung.”

Lutz Muelbredt / 20.10.2018

Sehr geehrter Herr Wohlan Precht, der Wind of Change wird über Größen wie die der Ex von Ex Kulturstaatsminister Naumann (!!!) hinweggehen und nur wenig Notiz nehmen. Dafür mehr die Menschen, die künftig mit ihr zu tun haben müssen. Unwissenheit ist heilbar, Dummheit nicht.

Bernhard Maxara / 20.10.2018

Herzlichen Dank, Frau Lengsfeld, für diese interessante Leseempfehlung. Geben Sie sie bitte auch an alle erreichbaren Deutschlehrer weiter, denen Goethe oft nur noch als Namensgeber ihrer Schulen flüchtig bekannt ist. Und in einer Talkrunde mit Herrn Sarazzin nach dessen erster verrufener Bucherscheinung rühmte sich Herr Friedmann öffentlich, das Gedicht “Wanderers Nachtlied” nicht zu kennen. Voller Stolz über das eigene Unwissen blendete man eine Reihe von Deutschlehrern an verschiedenen Goethegymnasien ein, die dieses weltberühmteste Gedicht des weltberühmtesten Deutschen noch nie gehört hatten. Auf diese Weise meinte man Herrn Sarazzins Einstellung zur deutschen Bildungsmisere konterkariert zu haben! - Auch der trostlose Zustand der Allgemeinbildung gehört zum Erbe der Achtundsechziger und zum Sündenregister der verblasenen Salonlinken im Bildungs- und Kulturbereich.

Emmanuel Precht / 20.10.2018

Dann sollte man diesen Roman Frau Özoguz, gefesselt an einen Stuhl, zur Erweiterung des Kleingeistes, vorlesen. Wohlan…

Marc Blenk / 20.10.2018

Liebe Frau Lengsfeld, vielen Dank für den Literaturhinweis. Bücher anschaulich vorstellen können Sie also auch. Und zwar hervorragend. Da werde ich mir das Buch wohl kaufen müssen.

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