Wladimir Putin ist aus dem Schatten getreten. Drei Monate vor der Präsidentschaftswahl in Russland hat er sich von einer Wählerinitiative statt von der eigenen Partei für die Abstimmung am 17. März 2024 nominieren lassen. Wolodymyr Selenskyj hat sich unterdessen zum Jahresabschluss über die Zukunft der Ukraine geäußert.
Im Verlauf von Wladimir Putins langer Karriere dürfte das Jahr 2023 als eines der entbehrungsreichsten in die Geschichte eingehen. Mit einem stagnierenden Krieg, der Suche nach alternativen Bündnissen und der Stabilisierung einer sanktionierten Wirtschaft standen immense Herausforderungen bevor. Für Wahlkampf blieb keine Zeit. Bis zum Schluss wurde spekuliert, wann Putin seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr verkünden würde. Auch blieb unklar, ob angesichts des Krieges überhaupt Wahlen stattfinden würden. In der Ukraine wurden beispielsweise die ins Frühjahr 2024 fallenden Präsidentschaftswahlen aus diesem Grund abgesagt.
In Moskau hat eine Wählergruppe nun offiziell Putins Nominierung bekanntgegeben. Dabei wird er als „unabhängiger Kandidat" antreten. Im Konzertsaal „Zarjade“ fand eine Versammlung von Unterstützern statt. Sie wollen das Protokoll im Zentralen Wahlkomitee registrieren und eine Unterschriftensammlung starten. Die Erfolgsaussichten sind bestens. Putins Team gehören zahlreiche Prominente an. Wenig überraschend, hat die Wählerinitiative die Selbstnominierung von Wladimir Putin für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Russland befürwortet. Die Frage „Wer ist bereit, die Kandidatur von Wladimir Wladimirowitsch Putin für das Amt des Präsidenten Russlands zu unterstützen?“ wurde vor laufenden Kameras vom Leiter des Exekutivkomitees der „Volksfront“, Michail Kusnezow, gestellt und erhielt ein einstimmiges positives Ergebnis.
Laut eines Berichts des „Kommersant“ waren auf der Versammlung 700 Personen anwesend, bei einem erforderlichen Quorum von 500. Im Konzertsaal traten hochrangige Persönlichkeiten wie der Erste Stellvertreter des Föderationsrats, Andrej Turtschak, der Vorsitzende der Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“, Sergej Mironow, das Mitglied des Zentralkomitees der Volksfront, Elena Schmelewa, sowie das Mitglied des Staatsrates, Julia Belechowa, auf.
Inszenierung für den „einzigen mächtigen Führer der Weltpolitik“
Am 16. Dezember 2023 veröffentlichte der Kreml sodann die Liste von Putins Mannschaft. Diese umfasst bekannte Stars wie die Musikerinnen Nadeschda Babkina, Polina Gagarina, Larisa Dolina, Julia Tschitscherina, Stas Michailow, den Sänger SHAMAN, den Regisseur Nikita Michalkow, die Eiskunstläufer Tatjana Nawka und Jewgenij Pluschenko sowie den Dirigenten Walerij Gergijew.
Aber auch Schauspieler wie Wladimir Maschkow, Dmitrij Pewtsow, Iwan Okchlobystin, die Moderatoren Julia Baranovskakja und Maria Kisiljowa sind mit dabei. Ebenfalls vertreten sind der Chirurg Leonid Roschal, der Blogger Dmitrij Puchkow, der Vorsitzende des Volksrates der Volksrepublik Donezk Artem Schoga, der Putin im Kreml um die Kandidatur gebeten hatte (Achgut berichtete), sowie der ehemalige MMA-Kämpfer Jeff Monson, der kürzlich seine US-amerikanische Staatsbürgerschaft zugunsten der russischen aufgegeben hat.
Wie der Generalsekretär des Parteirates, Andrej Turtschak, versicherte, würden über 3,5 Millionen Mitglieder und Unterstützer der Partei „Einiges Russland“ Putins Wahlkampagne unterstützen. „Und natürlich werden sich unsere gesamte Parteimaschine, alle unsere regionalen, lokalen, primären Abteilungen, mehr als 3,5 Millionen Mitglieder und Anhänger der Partei sich aktiv am Wahlkampf beteiligen.“
Der Filmregisseur Nikita Michalkow bezeichnete Präsident Putin gar als den „einzigen mächtigen Führer der Weltpolitik“ und behauptete, dass das Land dank ihm in den schwersten Zeiten der Sanktionen überlebt habe. „Niemand sollte sich darüber wundern, dass ihn so viele Menschen unterstützen wollen. Denn diejenigen, die ihn nicht unterstützen, sind entweder nicht klug oder defätistisch“, sagte Michalkow im Fernsehsendersender „Rossija 24“.
Nach Ansicht des Regisseurs hat das Land dank Putin und seinem Team zu einem bestimmten Zeitpunkt den Rand des Abgrunds verlassen, neue Kraft geschöpft und sich in den schwersten Momenten der Sanktionen behauptet. Deshalb – so Michalkow – habe das russische Volk keinen anderen Führer und solle auch keinen anderen haben.
Inszenierung als Volkstribun
Bereits in der vergangenen Woche hatte Wladimir Putin angekündigt, dass er an den nächsten Wahlen teilnehmen werde. Bislang hat er die russischen Präsidentschaftswahlen viermal gewonnen, und zwar 2000, 2004, 2012 und 2018. Nach von Putin durchgesetzten Verfassungsänderungen hindern ihn diese früheren Amtszeiten jedoch nicht an einer erneuten Kandidatur. Ein regulärer Regierungswechsel ist damit ausgeschlossen. Stattdessen steht zu vermuten, dass Putin bis zu seinem Lebensende im Amt bleiben wird.
Dass der russische Präsident seine Kandidatur nicht durch seine Partei „Einiges Russland“, sondern durch eine zivile Wahlinitiative vortragen lässt, mag auf den ersten Blick überraschen. In Wirklichkeit hat Putin jedoch bereits bei den letzten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 diesen Weg gewählt und dabei offiziell knapp 77 Prozent der Stimmen erhalten.
Putins Team soll den Eindruck einer breiten Verankerung in der Gesellschaft erwecken und ihn nicht nur als Kandidaten der Eliten, sondern als Volkstribun inszenieren. Die Aussichten, dass diese Strategie aufgeht, sind äußerst positiv. Nach einer Telefonumfrage des Instituts WZIOM, die vom 4. bis 10. Dezember 2023 durchgeführt wurde, sollen fast 80 Prozent Wladimir Putin vertrauen und insgesamt 76 Prozent seiner Arbeit zustimmen.
Gemäß den ermittelten Daten äußerten 79,3 Prozent der Befragten Vertrauen in den Präsidenten. Misstrauen wurde nur von 16,8 Prozent erklärt. Im Gegensatz dazu missbilligten 14,6 Prozent der Bürger die Arbeit des Staatsoberhaupts. Zuvor war berichtet worden, dass mehr als zwei Drittel der Befragten des Fonds „Öffentliche Meinung“ der Ansicht waren, dass Wladimir Putin 2024 an den Präsidentschaftswahlen teilnehmen sollte.
Selenskyjs Dezember-Auftritt
Während der russische Präsident erfolgreich seine „Volksfront“ hinter sich vereint, hat Wolodymyr Selenskyj am 19. Dezember 2023 eine eigene Pressekonferenz gegeben. Dabei teilte er mit, dass die Einberufung neuer Rekruten in der Ukraine schon bald erheblich ausgeweitet werde. Das ukrainische Militär habe bereits um die Mobilisierung von 450.000 bis 500.000 Menschen ersucht.
Allerdings schlug Selenskyj vor, den Plan zu überarbeiten, um nicht nur neue Soldaten zu rekrutieren, sondern auch die Demobilisierung derjenigen zu berücksichtigen, die bereits etwa zwei Jahre gedient haben. Mittlerweile ist klar, dass das Verteidigungsministerium vor allem wehrpflichtige Männer im Alter von 25 bis 60 zum Kriegsdienst einziehen will, die sich gegenwärtig in der EU aufhalten. Allein in Deutschland sind bis zu 197.000 Ukrainer davon betroffen.
Selenskyj nutzte die Gelegenheit, um Russlands Invasion als gescheitert darzustellen. Er wies darauf hin, dass Moskau bislang keinen einzigen Sieg errungen habe, und er betonte, dass die Ukraine nicht in Gefahr sei, zu verlieren. Fragen zur aktuellen Frontsituation und möglichen personellen Veränderungen im Militärkommando beantwortete Selenskyj jedoch eher ausweichend und ohne klare Festlegung. Auf die Frage nach der Dauer des Krieges, sagte er: „Ich denke, dass niemand die Antwort kennt, auch nicht unsere Kommandeure oder westlichen Partner. Sie wissen es nicht. Das sind nur Gedanken, und Gedanken unterscheiden sich oft von der Realität.“
Trotzdem äußerte der Präsident Zuversicht hinsichtlich einer zusätzlichen militärischen Unterstützung seitens der USA und betonte, dass die NATO die Ukraine bisher noch nicht eingeladen habe. Gespräche über eine mögliche teilweise NATO-Mitgliedschaft und bilaterale Verträge über Sicherheitsgarantien entwickelten sich langsamer als erhofft.
Mitgehen im Erschöpfungskampf
Selenskyj betonte, dass die Ukraine ihre langfristige Ausrichtung nicht ändern könne, jedoch offen für taktische Anpassungen nach einer gründlichen Analyse der Ereignisse im Jahr 2023 sei. Fragen zum angeblichen Konflikt mit Walerij Saluschnyj wurden gestellt, aber der Präsident vermied eine klare Antwort bezüglich einer möglichen Entlassung. Er erklärte lediglich, ein professionelles Verhältnis zum Generalstabschef zu unterhalten.
Es ist schwer zu sagen, wohin Kiew im kommenden Jahr steuern wird. Fest steht lediglich, dass der Konflikt nach 22 Monaten endgültig in die Phase eines Positionskriegs übergegangen ist. Keine der Konfliktparteien kann eine umfangreiche Operation durchführen, ohne inakzeptabel viele Ressourcen, darunter Technologie, Munition und vor allem Menschen, zu investieren.
In Diskussionen über die zukünftige Strategie der ukrainischen Streitkräfte wird daher mittlerweile vermehrt der Begriff „strategische Verteidigung“ statt „Gegenangriff“ verwendet. Die Notwendigkeit dieses Übergangs wurde auch vom ehemaligen Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Wiktor Muschenko, betont. Er erklärte, dass Kiew die potenzielle Möglichkeit habe, die Besatzungstruppen auf dem Territorium der Ukraine zu besiegen, wenn es in der Lage sei, eine solche Strategie sorgfältig zu entwickeln und umzusetzen.
Wie die New York Times Anfang Dezember berichtete, arbeiten die Ukraine und die USA gemeinsam an einer Strategie, die von den ukrainischen Streitkräften kontrollierten Gebiete zu behalten. Dem Bericht zufolge schlagen die Amerikaner vor, sich auf dieses Ziel konzentrieren, während die Ukrainer aktivere Kampfhandlungen mit dem Einsatz von ferngesteuerten Präzisionswaffen führen wollen.
Derzeit gewinnt die Idee, den von Russland aufgezwungenen Erschöpfungskampf mitzugehen, an Zustimmung, anstatt sich auf eine neue umfassende Offensive vorzubereiten. Dies erscheint logisch, da faktisch keine Alternative erkennbar ist. Der US-Kongress wird in diesem Jahr nämlich keine neuen Finanzmittel für die Ukraine mehr beschließen (Achgut berichtete).
Auch der zuletzt zunehmend als politischer Kontrahent Selenskyjs wahrgenommene Saluschnyj vertritt die Auffassung, dass die Ukraine ihre territoriale Integrität nur mithilfe militärischer Gewalt wiederherstellen könne. Gleichzeitig konzidiert er, dass der Krieg einen positionellen Charakter angenommen habe, und viele Kommentatoren sagen, dass es für die Ukraine während der „strategischen Verteidigung“ vor allem darum geht, nicht noch mehr Land zu verlieren.
Dieses Kriegsziel ist sinnvoll, wird aber nur durchsetzbar sein, wenn die Ukraine 2024 auch weiterhin massive militärische Unterstützung aus dem Westen erhält. Die bis heute von Selenskyj ausgegebene Direkte einer vollständigen Befreiung der besetzten Gebiete erscheint dagegen eher unrealistisch.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.