Gerald Wolf, Gastautor / 12.12.2020 / 06:15 / Foto: Lange / 36 / Seite ausdrucken

Die Quer- und die Längsdenker

Politisch abwägendes Denken war bei uns DDR-Bürgern üblich. Man mischte das, was da über die eigenen Medien von oben herabrieselte, mit dem, was es im West-Fernsehen gab. Im Regelfall dachte man schräg, mitunter auch quer zu der vom „Arbeiter- und Bauern-Staat“ vorgegebenen Linie. Dass es der damaligen Obrigkeit gar nicht um die Arbeiter und die Bauern ging, sondern um den Erhalt ihrer Macht, wussten die Arbeiter und Bauern selbst am besten. Dennoch existierten auch sie, die bornierten Längsdenker, Menschen, die selbst im engeren Kreis die Verlautbarungen des DDR-Staates nachbeteten, in der Familie und unter Freunden und Kollegen.

Nach außen hin aber gab sich fast jeder stromlinienförmig, einigermaßen wenigstens. Sich dem Strom entgegenzustellen oder gar quer zu dessen Richtung zu schwimmen, kostete Kraft, und man lief Gefahr, anzuecken und abgetrieben zu werden. Auch Schlimmeres drohte. Den Ausdruck „Mainstream“ gab es noch gar nicht, nicht mal im Westen. Wozu auch? Drüben konnte man ohnehin denken, sagen und schreiben, was man wollte. Oder? Wie befreiend es sich anfühlte, mit dem Mauerfall auf einmal in aller Öffentlichkeit kreuz und quer reden und schreiben zu dürfen!

Sich aus der Selbsterfahrung heraus ein Bild von den damaligen Umständen zu machen, verlangt, heute mindestens 45 Jahre alt zu sein, besser noch älter. Und wer bis zum heutigen Tag im Osten gelebt hat, darf sich eines besonderen Vorzugs rühmen: Er kennt sich aus in der Politik, allzumal in der Zeitgeschichte. Feixend gedenkt er der Zeit, als sich mit dem Systemwechsel die bisherigen Längsdenker im neuen Längsdenken übten, längs zu dem bisherigen Querdenken. Viele von ihnen behaupteten damals, sie hätten schon immer anders gedacht. Wenn vielleicht nicht gerade quer, dann doch oft schräg. Und überhaupt, nun ja ...

Stiftung Medientest

Auch in der jetzigen Zeit finden sich die meisten Querdenker im Osten. Was ihnen fehlt, ist das Westfernsehen und mit ihm die alternative Sichtweise. Zwar gibt es die Social Media, was aber stimmt von dem, was dort geboten wird, was ist verlässlich? Empfindlich reagieren die heutigen Quer- und Schrägdenker auf Manipulationsversuche durch die staatsnahen Medien, und erst recht auf die Verpönung Andersdenkender, allzumal die der Opposition.

Aus tiefverwurzelter Erfahrung heraus wissen sie, dass Demokratien ohne eine starke Opposition gesetzmäßig in die Diktatur abrutschen. Die politisch gereiften Alt-Ossis kriegen Pickel, wenn die Opposition diffamiert oder ausgegrenzt wird. Oder wenn bestimmte Auffassungen immerzu wiederholt werden, ohne sie ausreichend zu begründen. „Der Sozialismus siegt!“, hieß es zur DDR-Zeit. Überall war das zu lesen und zu hören. Solche Losungen noch im Ohr, gemischt mit denen von heute, fragen sich die chronischen Skeptiker, warum gibt es nach dem Vorbild der „Stiftung Warentest“ keine „Stiftung Medientest“? Einfach, um der demokratiegefährdenden Mediokratie ein Ende zu bereiten? Wie naiv! Der Mensch ist zwar lernfähig, aber in Grenzen. 

Ob längs oder quer, was nicht alles wird gedacht, geredet, geschrieben und, vor allem, behauptet! Weit gedämpfter geht es zu, wenn Fakten gefragt sind. Harte Fakten, solche, die jeder Prüfung standhalten. Der Weg zu ihrer Erkenntnis ist oft unbequem, er kostet Mühe und Zeit, meist auch Geld. Nicht selten liegt man damit quer zur Auffassung Anderer. Doch wen kümmert’s außer ein paar Spezialisten, wenn man zum Beispiel den Nachweis für eine bislang unbekannte Spezies innerhalb der Gattung Rubus (Brombeere, Himbeere) erbringen will. In Deutschland sind davon etwa 400 Arten gelistet. Oder wenn es sich um einen bisher noch unbekannten Planeten außerhalb unseres Sonnensystems handelt oder um die Analyse der Navier-Stokes-Gleichungen. Für die Sauberkeit der Beweisführung sorgen Diskurse unter den Fachleuten, und gut.

Ganz anders ist die Interessenlage, wenn sie die Politik betrifft, zumal die große Politik. Wenn es also um die der Wirtschaft und die der Energie-Erzeugung geht, um die Erderwärmung, um die Corona-Pandemie, um die Einwanderung, um den Zustand der Bundeswehr, der Polizei, um das Bildungsniveau der Jugend und der übrigen Bevölkerung oder – was ist mehr? – um die Zukunft Deutschlands. Da dreht es sich nicht einfach nur um Fakten, viel, viel wichtiger ist in solchen Fällen, die Richtigkeit eines Weges zu belegen, um ein anstehendes Problem zu meistern. Und wenn schon Fakten, dann geht es in der Politik darum, wie man sie interpretiert, erforderlichenfalls uminterpretiert oder vertuscht. Zumal wenn Querdenker die Stabilität mühsam installierter Interpretationsweisen gefährden. Besonders problematisch wird es, wenn sich herausstellt, dass „die da oben“ falsch liegen, und die Querdenker richtig. Diktaturen verordnen dann Längsdenken und lassen – o tempora, o mores! – die Querdenker durch die Sicherheitsorgane des Staates beaufsichtigen. Und die Querdenker werden leiser und leiser, ab und an noch ein Aufschrei.

Stabil ist der Abwärtstrend

Das Denken, gleich ob längs oder quer, ist ohnehin so ein Problem. Denn: Es macht Mühe. Mit bildgebenden Verfahren lässt sich das in den für das Denken zuständigen Hirnregionen demonstrieren. Sobald das Denken anstrengt, wird aus anfänglichem Spaß Ernst, und die Lust lässt nach. Immer ist das so, nicht nur beim Denken. Beim Fußballspielen zum Beispiel, oder dem Klavierspiel. Die meisten gucken oder hören daher lieber zu. Oder sie konsumieren, ohne viel darüber nachzudenken, was Andere produzieren. Besonders fern liegt den meisten das Denken, wenn es um die sogenannten exakten Wissenschaftsdisziplinen (hard science) geht, um die Natur- oder Technikwissenschaften also und die Mathematik.

Früher gaben die Deutschen auf vielen solchen Feldern den Ton an. Nunmehr haben hier andere Nationen das Sagen (siehe World Reputation Ranking 2020). Und unsere Wissenschaftler? Die stemmen sich, machen aber mit. Unerwünschte Forschungsziele lassen sie beiseite, entsprechenden Diskursen, weil erst recht unerwünscht, weichen sie aus.

Welche Nationen heutzutage den Ton in der Wirtschaft angeben, hat sich längst herumgesprochen. Und welche in der Zukunft, lässt sich den Ergebnissen internationaler Schulleistungsstudien (PISA, TIMMS) entnehmen. Hierzulande stabil ist der Abwärtstrend.

Natürlich kann man alles so belassen, wie es nun mal ist. Immer schön längs gedacht und nicht quer. Für die Entwicklung in der Welt wird auch ohne uns gesorgt, ohne Deutschland. Dann wenigstens kann von unserem Boden niemals wieder ein Krieg ausgehen. Fast alles hat eben auch eine positive Seite. 

Gerald Wolf ist emeritierter Magdeburger Universitätsprofessor, Hirnforscher und Institutsdirektor. 

Foto: Lange

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Wolf von Fichtenberg / 12.12.2020

Ein kurzer Blick in die gezeigte Verlinkung “World Reputation Ranking 2020” . Aha. - Wo finden wir denn da was von “Germany”. Oh. Scrollen. Immer noch nichts. Weiterscrollen. Immer noch nix. Niente. Nada.  - Halt! Gefunden. Platz 42. - Na, da fällt mir doch sogleich etwas ein. Suggestiv: Wie beantwortete der Autor Douglas Adams in “Per Anhalter durch die Galaxis” die Frage nach dem Sinn des Lebens? Erinnern Sie sich?  Die Antwort war “42”. Und genau da finden wir die erste Uni aus Germany. Das passt, denn “wir” wussten schon immer auf alles eine bessere, belehrend-alternativlose Antwort. Eine ultimative Antwort. So wie die Zahl 42 und diese gleicht - in diesem Sinne - einer Realsatire,  Ja, sie hält uns bildlich den Spiegel vor. - Der Autor scheint in die Zukunft gesehen zu haben, träumte sich wohl nach Berlin und ein Schemen huschte durch seine Gedanken. 42. So schrieb er diese Zahl nieder.-  Er selbstbezeichnete es später als einen Scherz. - Kein Scherz ist jedoch das Jetzt,  ist PISA, ist TIMSS…  Doch das ist lösbar. Wie? Nun: Kniebeugen, Händeklatschen… Und dann? Na 42 ...

Rainer C. Ment / 12.12.2020

Sehr geehrter Herr Wolf, leider kann ich Ihrem, wenn auch sarkastisch gemeinten, vorletzten Satz nur bedingt zustimmen. Dass die ent-eierte Bundeswehr sich gegen einen anderen Staat wendet, halte ich auch für eher unwahrscheinlich. Für wahrscheinlicher halte ich einen Bürgerkrieg, dessen molekulare Anfänge (siehe Enzensberger) sich seit längerem abzeichnen. Hier könnte sogar die Bundeswehr in ihrer aktuellen Verfassung noch eine Rolle spielen. Vor einem Jahr waren die aktuellen Entwicklungen, Einschränkungen und Grundrechtsbeschneidungen noch weit jenseits unserer Vorstellung. Der “stabile” Abwärtstrend kann sich auch stark beschleunigen, mit den gerade genannten Folgen. Die sich der Politik andienenden “Wissenschaftler” sind Karrieristen und Mietmäuler. Da geht es um Aufmerksamkeit und schnelle Erfolge, statt um exakte Wissenschaft. Mit Ihren bildgebenden Verfahren würden Sie in den Köpfen dieser Leute wenig Anstrengung feststellen, dafür umso mehr weiße Flecken oder Hohlräume. Eignung, Leistung und Befähigung sind längst durch Tertiärtugenden wie Haltung und Unterwürfigkeit abgelöst worden. Denken ist allen erlaubt, doch den meisten bleibt es erspart.

Carsten Bertram / 12.12.2020

Die letzten Sätze fassen es zusammen. Das ist der Wunsch gewisser Kreise und der wird erfüllt. Zumindest wird kein expansiver Krieg mehr von uns ausgehen, aber bürgerkriegsähnliche Zustände im Inneren werden wahrscheinlicher. Das nimmt man aber in kauf oder kann es sich nicht vorstellen.

Matthias Braun / 12.12.2020

” Man kann den Menschen nicht verwehren, zu denken, was sie wollen. “ ( Friedrich von Schiller )

Albert Pflüger / 12.12.2020

Wenn man sich die Probleme anschaut, die Deutschland zu bewältigen hat, dann handelt es sich um die Folgenden: Rassismus, Mangel an Sichtbarkeit von Obdachlosen, Zwittern und sexuell Indifferenten, das Wetter der Zukunft, Hass und Hetze, immer mehr Nazis und sehr viele Phobien, sowie die Ausbreitung einer gefährlichen Erkältungskrankheit und die mangelnde Repräsentanz von Frauen in Vorstandsjobs, Wissenschaft und Politik. Woran erkennt man, wer die Macht hat? Es sind nicht die, die Probleme lösen. Es sind die, die darüber bestimmen, was überhaupt das Problem ist! Niemals darf man die Lösung solcher Probleme von denen erwarten, die sie geschaffen haben.

Peter Groepper / 12.12.2020

Vielen Dank für diese klare, komprimierte Analyse.

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