In den USA fahren einige der publizistischen Harris-Unterstützer ihren Aktivismus plötzlich zurück. Offenbar wollen sie im Falle eines Trump-Wahlsiegs unabhängiger wirken, als sie bislang waren.
„Etwas von dem, was wir tun, funktioniert offensichtlich nicht“ – dieser Satz von Jeff Bezos, dem Eigentümer der Washington Post, leitet eine lange und sicher nur widerwillig verfasste Erklärung dafür ein, warum die „WaPo“ in diesem Jahr darauf verzichtete, ihren Lesern eine Empfehlung für die Präsidentschaftswahl zu geben. Das Vertrauen in die Medien und den Journalismus war nie hoch, so Bezos, sei aber in der diesjährigen Gallup-Umfrage noch hinter die der Politik auf den letzten Platz gefallen. Wenn man nur wüsste, warum das so ist!
Bezos verwendet passend zum Anlass die Analogie der Wahlmaschine, welche genau zwei Aufgaben habe: erstens die Stimmen genau zu zählen und zweitens die Wähler im Glauben zu bestärken, dass die Maschine richtig zählt. Beides sei gleichermaßen wichtig, und die Medien – darunter auch seine WaPo – erfüllten diese zweite Aufgabe gerade nicht.
Was wie ein Offenbarungseid mit Besserungsabsicht klingen will, ist in Wirklichkeit nichts davon. Über die Ursache für den Unglauben des Publikums sagt der Artikel nämlich leider wenig. Der könnte – nur mal angenommen – ja auch daher rühren, dass es schon mit dem „genauen Zählen der Stimmen“ in der Wahlmaschinen-Analogie gewaltig hapert. Denn aus ihrer Voreingenommenheit zugunsten der Demokraten hat die WaPo seit Jahrzehnten kein Geheimnis gemacht. Auch für 2024 waren die Empfehlungen bereits verfasst, und die Autoren fielen als allen Wolken, als Bezos deren Veröffentlichung untersagte. Keine Wahlempfehlung also für Harris. Zumindest keine explizite!
Die gerade vollzogene „Wiederentdeckung“ journalistischer Neutralität kostete die WaPo 200.000 Abonnenten, und einige „Autoren“, die eigentlich Aktivisten sind, kündigten empört ihre Jobs. Doch der wirtschaftliche Erfolg der WaPo dürfte ohnehin noch nie eine Rolle gespielt haben bei der Entscheidung des Gründers von Amazon und BlueHorizon, im Jahr 2013 für 250 Millionen Dollar das defizitäre einstige Flaggschiff des amerikanischen Journalismus zu übernehmen. Es gibt wahrlich lukrativere Geschäftsfelder! Man muss die Übernahme eher als Geste der Freundlichkeit an ein bestimmtes Milljöh verstehen, für welches Bezos ein liebgewonnenes Sprachrohr am Leben erhielt. Nichts auf Gegenseitigkeit, versteht sich! Aber man verhandelt so oft mit dem politischen Establishment in der Hauptstadt, Regulierungen müssen abgewendet oder Genehmigungen eingeholt werden. Aufträge im Bereich Raumfahrt, Logistik und IT wollen abgeschlossen oder verlängert sein… Sie verstehen schon.
In alle Richtungen anschlussfähig bleiben
Was wäre da hilfreicher und philanthropischer, als die Washington Post zu kaufen? 2016 empfahl die WaPo die Wahl von Hillary Clinton, 2020 hatte Joe Biden die Ehre. Irgendetwas muss 2024 jedoch zwischen dem Nominierungsparteitag der Demokraten – der in Wirklichkeit mehr einer Krönungsmesse glich – und Ende Oktober passiert sein, dass Bezos plötzlich aktiv in die Blattlinie eingriff und den von emsigen Journalisten in Richtung Harris geworfenen Brautstrauß in letzter Sekunde noch aus der Luft fischte. Die Washington Post gibt keine Empfehlung ab und antizipiert damit die Erwartung ihres Besitzers: Harris wird es – vielleicht – nicht schaffen. Man möchte anschlussfähig bleiben, in alle Richtungen. Gewinnt sie doch, verweist man auf die elegischen Artikel zu ihren Gunsten. Gewinnt Trump, verweist man auf die teuer erkaufte „Neutralität“ und zeigt die finanziellen Wunden, die man „für die Meinungsfreiheit“ ertragen musste. Ich denke nicht, dass Trump in solchen Dingen sehr nachtragend wäre, wenn ein guter Deal zu machen ist, springt er gern über den eigenen Schatten. Aber da ist ja noch dieser andere Rocketman, der nun Trumps Ohr hat, und Elon ist mehr auf „f*** you“ als auf Kompromiss gebürstet.
Die Stimmung in den Unterstützerkreisen der Demokraten – und das sind in der Hauptstadt so gut wie alle „Kreise“ – könnte kaum schlechter sein. Dabei hat man sich solche Mühe gegeben, der Vizepräsidentin einen faktenfreien Teppich auszurollen, hatte auf ihr Lächeln gebaut und ihr das Lachen abtrainiert. Ein Wahlkampf voller Freude, bei dem sich die Energie des Publikums auf die Wähler übertragen sollte. Am Geld kann es nicht liegen, doch dem tönenden „turning the page“ Wahlkampf geht inhaltlich die Puste aus. Jeder Auftritt der Kandidatin lässt ein Stück der netten Fassade abbröckeln, und den Wählern scheint immer weniger zu gefallen, was sie da zu sehen bekommen.
Manchmal sind sie auch einfach nur völlig konsterniert, wie bei dem jüngsten Auftritt in Michigan, als Harris dem Chor der „Ka-ma-la! Ka-ma-la! Ka-ma-la!“ Rufe lachend antwortete: „Jetzt möchte ich, dass jeder von euch seinen eigenen Namen ruft. Macht das mal.“ Das verwirrte Publikum verstummte sofort. Von Enthusiasmus auf Eiszeit in nur fünf Sekunden und offenbar das Ergebnis eines weiteren misslungenen Versuches, spontan zu wirken und im Moment zu leben. „Unburdend by what has bin“ möchte man ergänzend kalauern. Es will einfach nichts mehr gelingen, und während Trump bei seinen Auftritten geradezu fröhlich wirkt und ikonische Bilder in Serie abliefert, werden die Gegenangriffe von Harris immer verzweifelter.
Die Gleichsetzung des politischen Gegners mit dem größten anzunehmenden Feind stellt natürlich eine nicht mehr zu steigernde Form der Verachtung dar, und es liegt eine gewisse Ironie darin, dass man in den Staaten denselben dummen Fehler macht wie die Entdecker der „Zweiten Wannseekonferenz“ bei Correctiv und aus einer belanglosen Lokalität eine Staatsaffäre zu machen versucht. Anlässlich Trumps Rallye im New Yorker Madison Square Garden, wo 1939 eine recht unappetitliche Veranstaltung amerikanischer Hitler-Fans stattfand, ziehen die Presse und Harris‘ Kampagne eine armdicke direkte Linie zwischen Adolf und Donald. Dazwischen: nichts! Faschisten allesamt! Trump ist Hitler 2.0! Und was der Orange Man nicht alles vorhabe mit Amerika: Verfassung aufheben, Wahlen abschaffen, Journalisten verhaften, Frauen umbringen und alle politische Gegner in Internierungslager stecken! Mindestens! Das glaubt zumindest die Abgeordnete Debbie Dingell oder gibt vor, dies zu tun.
Doch ist der Panik-Knopf erst mal gedrückt, lässt sich das Entsetzen beim Publikum nicht mehr steigern, und mittlerweile kommen selbst dem Personal von CNN, in deren Köpfen Trump seit Jahren mietfrei wohnt, erste Zweifel. „Internierungslager? Wirklich?“ stichelt der Moderator leicht genervt zurück, und es folgt das, was seit Jahren als zuverlässiges Symptom für TDS (Trump Derangement Syndrom) gilt: „Er habe das ganz sicher gesagt. Irgendwo. Zu irgendwem. Ich weiß gerade nicht genau, wo und zu wem. Aber ich kann es sicher finden, wenn ich noch mal danach suche. Und er war auch sehr klar, dass er genau das meinte, als er irgendwas sagte, und ich werde das auch nie vergessen und überhaupt: Trump! Trump! Trump!“ Unterdessen haben die selbsternannten Retter Amerikas gerade North Carolina aufgegeben: Harris’ Kampagne, die finanziell so gut ausgestattet ist wie keine zuvor, sieht dort offenbar keine Chancen mehr und beendet das Schalten von Ads. Versuchen Sie mal, darüber etwas in den deutschen Medien zu finden!
Ein Müllproblem
Ich habe keine Ahnung, wer auf die Idee kam, einen für seine heftigen Beleidigungen bekannten Comedian als Geschmacksverstärker zu einer Trump-Rallye einzuladen, wenn die zu jeder Empörung bereite Journallje nur darauf wartet, einen Witz falsch zu verstehen. Und dieser kam besonders flach: Puerto Rico, die Müllinsel im Ozean! Im Madison Square Garden wurde es schlagartig zwei Grad kälter. Umso heißer die Nadeln, die diesen misslungenen Witz sofort Trump an den Schlips nähten. Er hat Latinos beleidigt! How dare you!
Doch wie kommt man eigentlich auf die Idee, dieser Witz könnte irgendwie landen? Wo ist der Kern der Geschichte, der es offensichtlich nicht in die allgemeine Wahrnehmung geschafft hat? In der Tat hat Puerto Rico, ein amerikanisches Überseegebiet ohne Rang eines Bundesstaates, seit Jahren ein großes Müllproblem. Die Deponien werden schlecht geführt, einige mussten wegen Umweltauflagen geschlossen werden. Dazu kommen unbewältigte Müllberge, die durch den Schaden anfallen, den Hurrikane auf der Karibikinsel angerichtet hatten. Das ist allerdings kein „Latino-Problem“, sondern ein durch und durch administratives. Lustig ist es wohl eher nicht. Allgemein bekannt wohl aber auch nicht.
Was jedoch eine mediale Steilvorlage im Kampf gehen Orange Hitler hätte werden können, kam in Form eines im Zorn gesprochenen Kommentars von Präsident Biden als Bumerang zurück. Puerto Rico? Müll? Der einzige Müll, den er, Biden, herumschwimmen sehe, seien die Unterstützer von Trump! Eilig waren die Medien bemüht, der Aussage die Spitze zu nehmen. Das Weiße Haus änderte sogar die Abschrift von Bidens Aussage so ab, dass sie sich nicht mehr auf alle Wähler Trumps bezog – womöglich ein klarer Verstoß gegen den Presidential Records Act.
Harris beeilte sich, den angerichteten Schaden zu begrenzen, während Trump auch aus dieser Situation politisches Kapital schlagen konnte, indem er mit Warnweste in ein eilig herbeigeholtes Müllauto stieg und auf dem Rollfeld einige Runden drehte. Trumps Wähler seien Müll? Nein! Sie, Harris, würde nie so etwas sagen! Sie wolle schließlich Präsidentin für alle Amerikaner sein! Nicht nur für jene, die sie wählen werden! Da ist nur ein winziges Problem: Wenn man gerade höchstselbst und in letzter Verzweiflung die Trump-Supporter zur Leibstandarte „Orange Hitler“ aufgeblasen hat, wie kann die Injurie „Müll“ dann unpassend sein? Harris will doch sicher nicht Präsidentin von Faschisten werden, oder?
Ein weiteres Mal hat sich Harris in die unmögliche Lage gebracht, gleichzeitig vorwärts und rückwärts laufen zu müssen. Sie ist Teil der aktuellen Regierung und will gleichzeitig „den Wechsel“ verkörpern. Nun will sie sich von Bidens „Müll“-Aussage distanzieren und gleichzeitig die Angstkampagne fahren, Trump werde das Vierte Reich und eine faschistische Diktatur errichten. An der Unmöglichkeit, das alles gleichzeitig und plausibel zu vertreten, könnte Harris‘ Kampagne letztlich scheitern. Nur noch wenige Tage, bis wir es wissen. Vielleicht.
Doch zurück zu Jeff Bezos und seiner Selbstbezichtigung, die eigentlich eine Versicherungspolice ist. Die könnte gegen alle Erwartungen letztlich doch noch zu etwas Gutem führen, auch wenn ich das selbst für extrem unwahrscheinlich halte. Doch da gibt es etwas, dass offensichtlich am Bezos-Ego nagt. Weiter unten in seinem Text heißt es: „Der Mangel an Glaubwürdigkeit ist nicht nur bei der Washington Post zu beobachten. […] Viele Menschen wenden sich Podcasts, Social-Media-Posts und anderen ungeprüften Nachrichtenquellen zu, die schnell Fehlinformationen verbreiten und die Spaltung vertiefen können. Die Washington Post und die New York Times gewinnen Preise, aber wir sprechen zunehmend nur mit einer bestimmten Elite. Immer häufiger sprechen wir nur mit uns selbst.“
Aus Bezos spricht der Neid, wenn er zwar allgemein von „Social-Media-Posts“ spricht, aber sicher vor allem eine Plattform meint. Und das ist natürlich X, die Akquisition seines erklärten Erzkonkurrenten Elon Musk, die mittlerweile für Amerikaner die Nachrichtenquelle Nummer eins ist. Ein privatwirtschaftliches Wettrennen mit Ansage zwischen Musk und Bezos um so leicht verderbliche Güter wie Glaubwürdigkeit, Transparenz und Relevanz der politischen Berichterstattung, welches den Staat nichts kostet und ganz ohne Regulierung und Geheimdienste auskommt…? Das könnte etwas sein, das einem Präsidenten Trump 2.0 gut gefallen würde.
Roger Letsch, Baujahr 1967, aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, als dieses noch in der DDR lag und nicht so hieß. Lebt in der Nähe von und arbeitet in Hannover als Webdesigner, Fotograf und Texter. Sortiert seine Gedanken in der Öffentlichkeit auf seinem Blog unbesorgt.de