Herrschaft wird von oben nach unten ausgeübt, doch Legitimität erhält sie von unten nach oben, durch den willigen Gehorsam der Beherrschten – erläuterte Guglielmo Ferrero 1943 in seinem staatsphilosophischen Meisterwerk “Pouvoir”. Auch in Demokratien wird Herrschaft ausgeübt, und auch in ihnen braucht sie freiwilligen Gehorsam, um so zu funktionieren, dass sich das Getriebe staatlicher Macht gut und zum Nutzen aller geräuschlos dreht. So war es ab Mitte der 1950er Jahre in Westeuropa, einige Jahrzehnte lang erblühte zum ersten Mal in der Geschichte des Abendlandes seit dem Untergang Roms zumindest in weiten Teilen Westeuropas demokratische Legitimität und Rechtsstaatlichkeit. Doch in dieses Getriebe ist seit den späten 1990ern Sand gekommen, und nun knirscht es. Um zu verstehen, wie und warum, schauen wir uns mit Ferrero an, wie demokratische Legitimität entsteht und erhalten wird. Wir werden sehen, dass wir es heute mit prä-revolutionären Regierungen, wenn auch im Tarnmantel der Demokratie, zu tun haben – der Sorte von Herrschaft, die auf Dauer niemand haben will.
Alle Demokratien in modernen Massengesellschaften, selbst die Schweizerische, haben dominierende repräsentative Anteile oder sind gänzlich repräsentativ. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass Gesetzgebung (Legislative) und deren politische Anwendung (Exekutive) in einer solchen Massengesellschaft hochkomplex sind und nur in Vollzeit erfolgen können – wenn auch nicht unbedingt durch Berufspolitiker. Diese repräsentative Machtausübung führt zu einer sehr großen Distanz zwischen den politischen Wünschen des Einzelnen und der politischen Willensbildung auf der obersten Ebene des Staates.
Damit sich trotzdem die meisten Bürger einer Demokratie im Gefühl, jeder ein ganz klein wenig an der Souveränität beteiligt zu sein, freiwillig der Macht beugen können, müssen folgende Legitimitätsbedingungen möglichst gut erfüllt sein:
- Echte Mehrheitsregierung, d.i. eine Regierung, die wirklich die Mehrheit der Bevölkerung und deren politische Wünsche repräsentiert, sich nicht verselbstständigt und sich nicht auf die Durchsetzung von Minderheitsinteressen kapriziert. Die Regierung muss sich bewusst sein, dass sie bei jeder Wahl abgelöst werden kann, wenn sie nicht mehr in der Lage ist, die Mehrheit zu repräsentieren. Sie muss die Opposition respektieren und fair behandeln, im Ton und in der Wahrung der Verfahrensnormen.
- Echte Opposition, d.i. eine parlamentarische Minderheit als reale Alternative zur Regierung, die die Regierung zwar kritisiert, aber als legitimen Teil der Repräsentation des Volkswillens ansieht und sich ihrer temporären Macht beugt.
- Politische Freiheit: Die politische Willensbildung muss sich frei und ungehindert sowie nicht durch staatliche politische Propaganda beeinflusst vollziehen können.
- Relativ breite Verteilung des Eigentums an Sachwerten, damit genug Eigenständigkeit zur Artikulation des politischen Willens besteht – mit anderen Worten: eine durch Eigentum abgesicherte relativ breite gesellschaftliche Elite.
- Einhaltung der Normen zur Beschränkung staatlicher Macht: Isonomie (Gleichheit vor dem Gesetz), unveränderliche Normen (Grundrechte), Gewaltenteilung, Besetzungsnormen für Staatsämter, Verfahrensnormen der Ausübung von staatlicher Gewalt (von Zivilprozessordnung bis zur Haftordnung).
Die Delegitimierung der Herrschaft
Diese Bedingungen sind sehr schwer zu erfüllen, sie halbwegs einzuhalten, erfordert ein hohes Zivilisationsniveau mit tiefer Normenverinnerlichung und langer Partizipationstradition – bei uns ist sie 2.500 Jahre alt und war nur kurze Zeit, im Frühmittelalter vom 6. bis zum 11. Jahrhundert, unterbrochen. Die Bedingungen werden nie ganz erfüllt, doch wenn ein bestimmtes Niveau unterschritten wird, schwindet die Legitimität der Herrschaft. Diesen Prozess beobachten wir im Westen schon eine Weile lang, in Deutschland in verschärfter Form etwa seit 20 Jahren – wichtige erste Meilensteine der Delegitimierung waren die Verträge von Maastricht, Nizza und Lissabon, der einvernehmliche Bruch des Vertrags von Maastricht durch Schröder und Chirac, das EEG-Gesetz mitsamt Atomausstieg sowie die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft. Man kann achgut.com als Chronisten dieser Entwicklung auffassen, da wir etwa dann gegründet wurden, als der Delegitimierungsvorgang für immer mehr Journalisten offensichtlich wurde.
Unter Merkel hat sich die Delegitimierung der Herrschaft verschärft. Die verantwortungslose Teilrücknahme der Schröder’schen Agenda 2010, die Verweigerung einer echten Rentenreform, der beschleunigte Atomausstieg, die Abschaffung der Wehrpflicht, die Zersetzung der Verbrennungsmotor-Industrie, aber vor allem die verfassungswidrige „Eurorettung“, der Versuch zur Wiedereinführung der Zensur mit Hilfe des NetzDG und die Entstaatlichung mit der Grenzöffnung seit 2015 sind die wichtigsten Beiträge ihrer Regierung zur Delegitimierung – sie verstoßen offensichtlich gegen die Legitimitätsbedingungen 1, 3, 4 (vor allem durch die Auswirkungen der „Eurorettung“ auf die Eigentumsverhältnisse) und 5.
Als infolgedessen eine neue Oppositionspartei entstand, begann die Bundesregierung mit allen Mitteln, gegen die berechtigte Opposition zu kämpfen, unter Verstoß gegen Bedingungen 1, 3, und 5. Diese Opposition verstößt teilweise auch gegen Bedingung 2, was allerdings angesichts des Drucks, unter dem die AfD steht, zumindest erklärbar, wenn auch nicht verständlich ist.
Mittlerweile ist die Legitimität der Herrschaft so stark abgesunken, dass man von einer prä-revolutionären Regierung sprechen muss. Was ist das?
Eine revolutionäre Herrschaft ist eine Regierung ohne Legitimität, die vom Volk nicht akzeptiert wird und totalitär mit Hilfe von Staatsterror ihre politischen Vorstellungen durchsetzt. Die erste solche Regierung der Neuzeit, die systematisch aufgebaut wurde und das Gewaltmonopol eine längere Zeit halten konnte, war die Regierung Napoleons von 1799 bis 1814. Sie war weder monarchisch-aristokratisch noch demokratisch legitimiert, sondern totalitär im modernen Sinne. Die gesamte Staatsmacht hatte der illegitime Usurpator Napoleon auf sich vereinigt. Mit Hilfe von Staatsterror und massiver, systematischer Propaganda nach Innen und krassen Aggressionskriegen nach Außen hielt er seine Herrschaft eine halbe Generation lang aufrecht. Sein Modell fand dann in Europa und auch weltweit zahlreiche Nachfolger wie Mussolini, Lenin, Stalin, Hitler, Mao, Franco oder Ulbricht, um nur ein paar bekannte zu nennen. Solche Regierungen hinterlassen nur Schaden und Schrecken, der Schaden kann sehr lange nachwirken, wie man an der westdeutschen Nachkriegszeit ablesen kann.
Das Grundproblem revolutionärer Regierungen ist der Glaube an die Machbarkeit und Durchsetzbarkeit pseudorationaler politischer Maßnahmen, die einige Wenige für richtig halten, konzipieren und dann gegen den Willen und zum Schaden der Mehrheit umsetzen. Zwar erlauben die Mittel des modernen Staates – Steuereintreibung, Exekutivbehörden, Massenmobilisierung und Technologie – in der Tat die Umsetzung solcher Maßnahmen, wie beispielsweise den Plan Napoleons zur Eroberung Europas, die Stalin’schen Säuberungen, seine Umsiedlungs- und Vernichtungsprogramme, den Plan Hitlers zu Eroberung Europas, den in Deutschland geplanten und organisierten Holocaust oder das Euthanasieprogramm zu systematischen Vernichtung Geisteskranker und Oligophrener. Doch hinterlassen solche revolutionären Pläne immer nur riesige Mengen von Opfern und eine erhebliche Zahl von Tätern, Mitläufern und Zuschauern, die für den Rest ihres Lebens mit schwerer Schuld beladen sind. Denn illegitimes politisches Handeln, das von revolutionären Regierungen mit Gewalt durchgesetzt wird, wirkt auf eine Gesellschaft wie eine inzestuöse chronische Vergewaltigung, die ein Vater seiner Tochter antut, in einer Familie, die das eine längere Zeit miterlebt und sich dem Terror des Vaters beugt.
Eine prä-revolutionäre Regierung hingegen ist eine staatliche Herrschaft, die ihre Legitimitätsbasis verlassen hat, aber im Gegensatz zur revolutionären Regierung nicht zum offenen Totalitarismus übergegangen ist. Ihre Projekte sind zwar megaloman und zum Scheitern verurteilt, führen aber nicht zu Massenvernichtung wie die Projekte der echten Revolutionäre. Genau in diesem Stadium befindet sich unsere Regierung.
Absurde Wohlstandsvernichtungsprogramme
Ihre pseudo-rationalen Pläne sind nicht mit den Plänen Napoleons, Stalins oder Hitlers zu vergleichen. Doch sind es immerhin politische Großprojekte, die in ähnlicher Weise megaloman und zum Scheitern verurteilt sind: Eine Währungsunion in einem Währungsraum mit Handelsbilanzungleichgewichten ohne Verschuldungsschranke ist genauso unmöglich wie ein Sozialstaat ohne Staatsgrenzen oder eine “Weltklimarettung” bei gerade einmal knapp 2% des Weltausstoßes an CO2 (ganz abgesehen von der zweifelhaften Bedeutung des Spurengases für den Klimawandel) oder maximale Mobilität ohne Verbrennungsmotor (Stand heute, das E-Auto mit bleigekühltem Kernreaktor im Kleinformat muss ja erst noch entwickelt und zugelassen werden). Doch haben wir für diese und ähnliche Schildbürger-Vorhaben bisher etwa 5–8 tausend Milliarden Euro aufgewendet oder verliehen, das ist mehr als zweimal das Jahresbruttosozialprodukt der Bundesrepublik – es sind echte Großprojekte. Und diese Projekte können aus Gründen der Gültigkeit der Gesetze der Physik und der Funktionsweise moderner Volkswirtschaften nur scheitern. Sie richten einen riesigen Schaden an und wurden alle gegen die Mehrheit der Bevölkerung geplant und umgesetzt. Denn eine Mehrheit der Deutschen war gegen die Euro-Einführung und -Rettung, gegen die Grenzöffnung genauso wie gegen die “Klimarettung” und gegen die Abschaffung des Verbrennungsmotors – all dies sind Minderheitenprojekte.
Auf diese Weise setzen die Eliten unseres prä-revolutionären Staates absurde Wohlstandsvernichtungsprogramme um, die mittlerweile an die Substanz des Staates gehen.
Ähnlich wie eine revolutionäre Regierung muss die Bundesregierung bereits einen erheblichen Propagandaaufwand treiben – von den absurden Verrenkungen der abgabenfinanzierten Medien über den freiwilligen Konformismus privater Medien bis hin zu Aktionen wie „Wir sind Rechtsstaat” oder Aufrufen unserer höchsten Staatsrepräsentanten zu Rockkonzerten mit offen linksextremistischen Akteuren. Doch wir befinden uns erst im prä-revolutionären Modus, daher sind Propaganda und Repression noch vergleichsweise milde – all das ist noch deutlich steigerungsfähig.
Viele Kritiker unserer prä-revolutionären Regierung (manche nennen das Phänomen auch Post-Demokratie) fragen sich, warum die Opposition nicht schneller an die Macht kommt, wenn die Legitimität ja offensichtlich Tag für Tag abnimmt. Doch das ist gut erklärbar.
Wenn sich einmal ein Legitimitätsprinzip etabliert hat, mit dem die Massen gut leben können, richten sich die Menschen darauf ein. Denn die Mehrheit möchte gern im Einklang mit dem Herrschaftssystem leben, unter dem sie sich befindet. Durch die Akzeptanz von Autorität erfährt der Mensch Anerkennung – Heinrich Popitz nennt das autoritative Macht. Es ist angenehm, in einem Herrschaftssystem zu leben, das man akzeptieren kann – nur so ist ein angstarmes Leben möglich, die Angstquellen sind dann rein privat, der Staat macht einem keine Angst. Die Akzeptanz legitimer Herrschaft wird in allen Institutionen gepflegt und tradiert – in Familien, Kindergärten, Schulen, Jungendzentren, Kirchen, Universitäten, in den Ämtern und Behörden und am Arbeitsplatz. So war es auch in den Zeiten legitimer monarchischer Herrschaft, wie beispielsweise im deutschen Kaiserreich ab 1871. Für uns alle war es ein Segen, dass seit den 1950er Jahren in Westeuropa eine stabile Phase demokratischer Legitimität begann. Nun war es – anders als unter der revolutionären Diktatur Hitlers – wieder möglich, sich der Herrschaft guten Gewissens zu beugen und sein Leben in Ruhe zu führen.
Nur ungern möchten wir uns eingestehen, dass die Legitimität heute schwindet und wir wieder Angst vor dem Staat haben müssen, gerne möchten wir an der Illusion eines segensreichen, legitimen Staates festhalten. Dies erklärt, warum die Menschen in Westdeutschland nur zu einem geringen Teil in die Opposition zur Regierung gehen. Sie haben alle den größten Teil ihres Lebens in einer legitimen Demokratie gelebt und tun sich schwer damit, sich klar zu machen, wie schlimm die Lage bereits ist – zumal viele noch auf einem guten Wohlstandsniveau leben. Die Ostdeutschen hingegen haben das Leben im illegitimen, revolutionären Staat noch im kollektiven Kurzzeitgedächtnis – 30 Jahre sind noch in dessen Intervall, es hält etwa zwei Generationen. Ihr Sinn für illegitimes, prä-revolutionäres staatliches Handeln und die Gefährdung des eigenen Lebens im revolutionären Staat ist aus leidvoller Erfahrung gut ausgebildet. Daher spüren sie ganz genau, dass wir in einem prä-revolutionären Staat mit großem Legitimitätsdefizit leben, und sie beginnen sich zu wehren.
Wie kann eine prä-revolutionäre Herrschaft beendet werden? Entweder, indem sie in eine revolutionäre Unordnung übergeht oder den Weg zurück in die legitime Ordnung findet.
Derzeit sind die Chancen noch gut, dass wir zur legitimen Ordnung zurückkehren, indem die Wähler an der Urne für Parteien stimmen, die versprechen, die legitime Ordnung zu restaurieren. Die Restauration in Frankreich ab 1814 ist dafür ein ganz gutes Beispiel. Denn Frankreich war 1814 zur demokratischen Legitimität noch nicht bereit, die Rückkehr zur modifizierten monarchischen Legitimität verschaffte dem Land nach 25 Jahren Revolutionschaos und ständigem Leben in Angst und Krieg endlich Ruhe. Allerdings lag die Überwindung des monarchischen Legitimitätsparadigmas in der Luft und erfolgte dann schließlich auch 1870 – während wir heute keine Alternative zur nationalstaatlich-demokratischen Legitimität haben, auf die wir hinarbeiten können. Deren Restauration ist also der einzig mögliche Weg zur Wiederherstellung von Legitimität.
Die schlechtere Alternative wäre der Übergang zu einer wahrhaft revolutionären Regierung, wie sich dies Teile der Grünen, die SED-Nachfolger und wohl auch die in weiten Teilen ihrer sozialdemokratischen Werte beraubte SPD zu wünschen scheinen. Doch wird dies nur mit viel Gewalt möglich sein, denn wenn es zur Wirtschaftskrise kommt und die Westdeutschen ihren Scheinwohlstand verlieren, werden auch sie Parteien wählen, die eine Restauration des demokratischen Nationalstaats versprechen. In vielen europäischen Staaten hat dieser Prozess schon begonnen. In Dänemark beispielsweise haben dies inzwischen auch traditionelle Parteien wie die Sozialdemokraten erkannt und gewinnen wieder Wahlen, indem sie für die Verteidigung des souveränen demokratischen Rechtsstaats und die Grenzen der Solidargemeinschaft zur Bewahrung des Sozialstaats eintreten. Nur wir Deutschen marschieren prä-revolutionär weiter auf dem pseudoliberalen, post-demokratischen und post-nationalstaatlichen Irrweg, als wären wir ideologieabhängig.