Von Jesko Matthes
In Zeiten, die pseudoreligiösen Ideologien viel zu viel öffentlichen Raum geben, und in denen auch ich in einigem Zwiespalt auf das Lutherjahr blicke, ist es vielleicht hohe Zeit, an einen atheistischen, zumindest aber agnostischen Existenzialisten zu erinnern, der auch in doppelter Hinsicht ein Jubilar ist: Albert Camus. Sein berühmtes Foto mit hochgeschlagenem Mantelkragen und Zigarette erinnert mich immer irgendwie an eine andere Foto-Ikone, James Dean. Die Anmutung des lässigen, nachdenklichen Rebellen, des Menschen in der Revolte, war tatsächlich, in sehr wirklicher Form, die des Albert Camus.
1947 erschien sein brillanter Roman „Die Pest“, 1957 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Der 1913 im heutigen Algerien Geborene, Sohn eines Franzosen und einer Spanierin, war also, von seiner zweiten Heimat Frankreich aus betrachtet, ein Rück-Migrant. Der Maghreb blieb ein häufiges, sehnsüchtiges und zwiespältiges Thema und ein häufiger Handlungsort seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Seine intellektuellen Gefechte mit Francois Mauriac und Jean-Paul Sartre sind legendär; ich fand ihn, sofern ich das als sehr schlecht Frankophoner beurteilen kann, trotz aller Kirchenkritik fast immer näher dem bekennenden Katholiken Mauriac als dem strammen Atheisten Sartre.
Elegant und zickig
Mit 17 Jahren schenkte ein atheistisches Mädchen aus der Parallelklasse mir, dem evangelischen Kindergottesdiensthelfer und notorischen Besucher des Religions-Neigungskurses von gerade einmal fünf armseligen Figuren plus Lehrer, zum Geburtstag „Die Pest“. Gymnasiastinnen können auf sehr intellektuelle Weise verliebt sein; ich übersah das daher beinahe, obwohl ich ähnlich umständliche und erfolglose Lockstoffe einsetzte, anstatt ins Kino zu gehen und zu flüstern: „küss mich“. Es blieb also mal wieder bei der Lektüre, habent sua fata libelli. „Die Pest“ übersah ich nicht. Die elegant-zickigen Worte zu dem Geschenk waren nämlich: „Da kannste mal wirklich was draus lernen.“
Das Buch war schnell gelesen, und irgendwie hatte es ja sogar mit Medizin zu tun, dem Fach, dass ich auch ganz gern studieren wollte. Fasziniert war ich vor allem von dem Spannungsverhältnis zwischen Dr. Rieux und seinem katholischen Gegenspieler, dem Priester Paneloux. Rieux geht es sichtlich auf die Nerven, dass der Mann Gottes die Seuche für das Strafgericht Gottes erklärt – nein, nicht ganz, eher, dass er viel zu lange bei diesem Gedanken stecken bleibt, bevor er sich endlich dem Kampf gegen die Seuche anschließt. Dr. Rieux braucht ihn. Das alles ist eine spannende, geistig anspannende, menschlich mitreissende Geschichte, glänzend erzählt.
Dass das Buch auch und vor allem ein Gleichnis auf den Widerstand ist, die Revolte, in erster Linie auf die résistance gegen die Fremdherrschaft der Deutschen über Frankreich und ihre Verbrechen, auch gegen die Kollaboration, das fiel mir erst sehr spät auf, dabei steht es gleich am Anfang des Buches als ein Zitat des Daniel Defoe in kaum überlesbarer Form.
Ich empfehle – nein, ich rufe dazu auf! -, dass all jene, die meinen, Widerstand erschöpfe sich im Definieren korrekter Meinungen oder im feigen Verschweigen des eigenen Standpunkts, die Nase außer ins Grundgesetz auch einmal in „Die Pest“ stecken. Und dann überlegen, wer ihre Feinde sind, und wer ihre höchst streitbaren Gegenspieler, auf die sie im Kampf gegen die wirklichen Seuchen noch dringend angewiesen sein könnten. Die Meinungsfreiheit ist keine Pest, sie ist eine zickige, elegante Gymnasiastin, die selbst täglich dazu lernt wie ich - die diesmal aber geküsst werden will, mit allen Risiken.
Ein Populist – haltet den Dieb!
Ich werde auch wegen dieses Buches nicht müde, mich, mal ironisch, mal absichtlich aggressiv als bekennenden Populisten zu bezeichnen; also als einen, der hinsieht, wie es den Leuten wirklich ergeht und was sie bedroht, aus ihrem Innern oder von Seiten Dritter. Und auch ich weigere mich, den Worten von der Kanzel zu lauschen oder aus den Pressekonferenzen, in denen man mir von Bewährungsproben und schonungslosen Aufklärungen erzählt, während die Aufklärung schon 250 Jahre her ist.
Ich warte, mal ängstlich, mal sehnsüchtig darauf, bis es wieder so weit ist, dass ich gemeinsam mit Atheisten, Kommunisten, Sozialdemokraten, Konservativen, Priestern, Rabbinern und Imamen kämpfen muss gegen den wirklichen Hass und die wirkliche Gewalt: gegen Andersdenkende, Juden, unbescholtene Fremde und Schonlängerhierlebende, und nicht länger verquasten Ideologen zuhören muss, die mir den faulen Zauber ihrer allein selig machende Attitüde billigst verkaufen wollen wie einen Ablass meiner angeblichen Sünden: Halt doch das Maul und wir werden dich lieben... und willst du nicht mein Bruder sein, dann sperr' ich deine Meinung ein. Die Zeit dieser Traumtänzer, Schwarzweißmaler und Weichspüler wird um eine kleine Weile vorübergehen. Möge es nur nicht um den Preis einer erneuten Seuche sein. - Halt, die erste ist schon da, die der Meinungsdiktatoren.
Meinungen oder Standpunkte?
Meinungsdiktatoren sind jämmerliche Gestalten. Ich habe täglich eine Menge Meinungen, darunter sehr widersprüchliche. Sie differenzieren beispielsweise zwischen Frau Merkel, die wie ein umgekehrter Mephisto stets das Gute will - und Frau Merkel, die ganz Anderes erreicht. Sie differenzieren zwischen meinem kurdischen Schuster, der mir den Islam in einfachen Worten nahe bringt und mich zum Abschied grinsend erinnert, dass er jetzt mit seinen Kumpels, den „Glatzen“, wie jedes Wochenende Fußball spielen geht, wofür er den regelmäßigen Ärger von seinen Leuten bekommt und die „Glatzen“ von ihren - und jenen, die den Islam als eine Ideologie des Terrors in mein Land tragen.
Ich versuche also im ganz Kleinen zuzuhören und das zu denken, was Frau Merkel beschweigt. Das zu erkennen, „was geht“, und das was „gar nicht geht“, das versuche ich wenigstens für mich zu unterscheiden. Das ist so einfach zu tun wie schwierig auszuhalten. Nur hat es mit Meinung sehr wenig zu tun, zu tun hat es mit Standpunkt. Standpunkt ist das, was entsteht, wenn man die Meinungen hinter sich lassen kann. Ich kann mich irren, aber irgendwo stehen muss ich. Ohne Meinung und mit falscher Meinung lebe ich täglich, homo sum. Einen Standpunkt habe ich. Meiner ist hier. Wo ist Eurer, Frau Merkel, Herr Maas, Frau Künast, Herr Schulz, Frau Wagenknecht, Herr Höcke, Frau Kahane – wo? An wen wollt ihr mich und mein Land, yes, this land is your land, this land is my land, für dumm verkaufen?
Das Maul, das man mir derweil verbieten möchte, werde ich gerade deshalb nicht halten können, egal, wer darob eine Fresse zieht oder seine Presse abzieht. Darum nenne ich mich gern einen Populisten. Und darum bleibe ich ein Mensch in der Revolte gegen das Absurde. Mein Dank und mein Gedenken gilt Albert Camus.
Jesko Matthes ist Arzt und lebt in Deutsch Evern.