Mal angenommen, vor zehn oder fünfzehn Jahren hätte irgendein deutscher Politiker verlangt, die Deutschen sollten sich wieder ihrer „patriotischen“ Verantwortung bewusst werden. Ich weiß, der Gedanke liegt so fernab der erlebten Geschichte, dass er die Vorstellungskraft von vornherein übersteigt. Dennoch, rein hypothetisch: Wozu hätte ein solcher Vorstoß geführt? Wie von einer Tarantel gestochen, wären die deutschen Wortführer aufgefahren, die Wellen der Erregung hoch über das Brandenburger Tor und den Reichstag geschlagen. Bei ARD und ZDF hätten die Intendanten Alarm ausgerufen. Walter Jens und Günter Grass wären aus den Elfenbeintürmen ihrer Dichtung herabgestiegen, um dem Volk sprachmächtig zu erklären, dass die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ein für allezeit das Recht auf patriotische Empfindungen verspielt hätten.
Und wie wäre es in der Politik rund gegangen! Nehmen wir zuerst die Kanzlerin. Wäre sie nicht außer sich geraten wie wenig später, 2013, als sie nach dem Wahlsieg der CDU Hermann Gröhe, auf offener Bühne, vor laufenden Kameras anging, um ihm ein Deutschlandfähnchen zu entreißen, das ihr damaliger Generalsekretär im Überschwang des Erfolgs zu schwenken wagte?
Der Zorn über die nationalistische Entgleisung stand der Frau ins Gesicht geschrieben. Das Land ihrer Herrschaft war ihr nie sonderlich ans Herz gewachsen, mit der Muttersprache hadert „Mutti“ bis heute. Als sich 2015 Widerstand gegen ihre autokratisch verfügte Flüchtlingspolitik regte, verstieg sich die „mächtigste Frau der Welt“ sogar zu der Drohung, wenn das Vaterland sich gegen den Internationalismus sträube, dann sei das nicht mehr ihr Land. Als Deutsche wollte sie nicht länger erkannt werden.
Die Grenzen überschritten
Als er Merkel dafür in der Hamburger Bürgerschaft kritisieren wollte, wurde der damalige AfD-Abgeordnete Ludwig Flocken von der laufenden Sitzung ausgeschlossen. Er habe die Grenzen der „zulässigen Meinungsäußerung“ überschritten, las man nachher in der Presse.
Die emotionale Ablehnung Deutschlands war das Tertium comparationis, auf das sich bisher noch immer alle „demokratischen“ Parteien des Landes verständigen konnten: CDU/CSU mit der SPD und den Grünen, den Roten und den Knallroten; selbst die FDP wollte, wenn man sie ließ, nicht abseits stehen. Als eine der Mutigsten ragte dabei die Grüne Claudia Roth, Vizepräsidentin des Bundestages, heraus, die 2015 in einem Demonstrationszug unter dem Motto „Deutschland, Du mieses Stück Scheiße“ mitlief.
Über Jahrzehnte hin wurde den Deutschen der Patriotismus ausgetrieben, zuerst durch den multikulturellen Hedonismus der Grünen, dann durch die Aussetzung der Wehrpflicht, den Umbau einer vom Volk getragenen Armee zu einem Arbeitgeber mit krummen Flinten und Panzern, die nicht anspringen, dafür aber mit Schminkspiegeln auf den Stuben, Kinderbetreuung in den Kasernen und umstandsgerechten Uniformen für Soldatinnen während der Schwangerschaft.
Kein Gedanke mehr an einen Patriotismus, der die Bürger zusammenhalten könnte. Stattdessen die Propagierung einer europäischen Identität unter deutscher Vorherrschaft zur Ablösung vaterländischer Verbundenheit. Wohin so etwas führt, erleben wir gerade in der größten Krise seit der Gründung der Bundesrepublik.
Wie einst Kaiser Wilhelm
Weil sich die unvernünftige Natur partout nicht so verhält, wie sie es nach den Allmachtsphantasien weltfremder Politiker tun sollte, müssen die einstigen Verächter des Patriotismus plötzlich wieder an den emotionalen Zusammenhalt der Untertanen appellieren, Grenzen schließen, Bürger und Bürgerinnen, Junge und Alte zu Duldsamkeit anhalten, nationale Nächstenliebe und Opferbereitschaft einfordern, durchaus im Stil eines Kaiser Wilhelm, der 1914 nur noch Deutsche kennen wollte. Nicht zu reden von den Durchhalteparolen nachfolgender Diktaturen, während des Zweiten Weltkrieges und der kommunistischen Armutsdiktatur im eingemauerten Osten.
Auf der Agenda steht die vaterländische Kehrtwende. Erst dieser Tage hat der CSU-Generalsekretär Markus Blume erklärt: „Impfen sollte zur patriotischen Selbstverständlichkeit werden.“ Wie er auf den Gedanken kommt, dass nach Jahrzehnten einer politisch forcierten Kampagne zur nationalen Entfremdung ein derartiger Appell noch Wirkung zeigen könnte, bleibt unerfindlich. Es sei denn, man durchschaut die schamlose Umkehr als das Manöver einer politischen Klasse, die auf dem letzten Loch pfeift. Um das eigene Überleben zu sichern, muss sie das Volk patriotisch vergattern – den Volksturm mobilisieren.
Abermals Feldherrendämmerung in Deutschland und – dem Allmächtigen sei es geklagt – Untertanen, die es genießen, sich ducken zu dürfen. Omas und Opas, die vor den Kameras stammeln, was ihnen vorgesagt wird: Gott sei Dank werden wir weggesperrt, um die Enkel nicht anzustecken. Ärzte und Wissenschaftler, die nicht das erste Mal zu allem bereit sind, da es doch um die Gesundheit aller geht, um eine Volksgesundheit frei von fremden Keimen.
Nächste Station – der Klimawandel
Alles so neu nicht, auch nicht das, was uns danach noch drohen mag. Karl Lauterbach, dessen Eitelkeit ihn immer verführt, die Katze vor der Zeit aus dem Sack zu lassen, hat es ja bereits ausgeplaudert, als er in einem Gastbeitrag für die WELT nicht bloß die Befürchtung äußerte, das Volk könne dem Lockdown zu früh entfliehen, sondern noch weiter vorausschaute, schon auf den Bundestagswahlkampf im Herbst kommenden Jahres.
Dann werde die Pandemie hoffentlich weggeimpft sein, nicht aber der Klimawandel, weshalb der ganz oben auf der Agenda aller Parteien stehen sollte. Da es jedoch, so raunte er, keinen Impfstoff gegen CO2 gibt, „benötigen wir Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels, die analog zu den Einschränkungen der persönlichen Freiheit in der Pandämie-Bekäpfung sind“. Kurzum: Lockdown for ever.
Die Politik hat Gefallen daran gefunden, das Volk ein- und wegzusperren. Der Stubenarrest wird zur „patriotischen Selbstverständlichkeit“. Analog zur Politik der Kommunisten im Osten, die jede Kritik an der Entrechtung der Bürger abbügelten, indem sie fragten: Bist Du nun für den Frieden oder nicht? – analog dazu werden wir uns bald fragen lassen müssen: Bist Du nun für den Klimawandel oder nicht? Eine Gretchenfrage, die den Regierenden noch eine Weile aus der Patsche helfen mag. Mehr haben sie nicht drauf und wir nicht zu erwarten, weder in den letzten Stunden des überstandenen noch im Lauf des neuen Jahres.
In diesem Sinne: Auf ein Wiedersehen 2021.