Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius ist für einen Landesminister von bemerkenswerter bundesweiter Medienpräsenz. In den letzten Wochen machte er (als inzwischen gescheiterter) Bewerber um den SPD-Vorsitz von sich reden, aber auch durch eine Reise in ein griechisches Flüchtlingslager, wo der Innenminister sich vor Ort und fern der eigenen Hoheitssphäre über die Flüchtlingskrise informieren wollte.
Je näher er jedoch seinem Dienstsitz in Hannover kommt, desto geringer wird sein Drang, unmittelbar über die Geschehnisse informiert zu werden, besonders die im Einflussbereich seines eigenen Ministeriums. Das ist insofern keine schlechte Taktik, als derjenige, der nichts weiß, auch keine Verantwortung übernehmen muss. Andererseits ist ein von dieser Prämisse geleitetes Handeln jedoch kaum geeignet, die Aufgaben eines Innenministers ordnungsgemäß wahrzunehmen.
Achgut.com berichtete Ende September bereits zweimal über haarsträubende Vorkomnisse in niedersächsischen Polizeibehörden – und in welch dreister Weise man versucht, das unter den Tisch zu kehren („Die Verschlussache Boris Pistorius“ und „Verschlusssache Boris-Pistorius, Teil 2: Lügen aus dem Ministerium“). Die Reihe der Vorkomnisse reicht vom Verschwinden einer Maschinenpistole bis zum Verschwinden und mysteriösen Wiederauftauchen sensibler V-Mann-Akten, die für die darin erwähnten Personen lebensgefährlich werden können.
Achgut.com deckte dann Ende September obendrein auf, dass das Pistorius-Ministerium das aufmerksam gewordene Parlament über den Umfang von verschwundenen Geheim-Akten offenbar vorsätzlich falsch informiert und in die Irre geführt hatte. Inzwischen hat man zugegeben, dass man das Fehlen von 80 Geheimakten im Bereich der Polizeidirektion Hannover in einer Antwort auf entsprechende parlamentarische Anfragen der FDP nicht für erwähnenswert hielt. Etwa 20 Akten sind offenbar bis heute verschwunden. Die skandalösen Informationspraktiken werden ohne jede Konsequenz lapidar eingeräumt, der Minister selbst hielt es bis heute nicht für notwendig, dazu Stellung zu nehmen. Man staunt, mit welcher Arroganz der Mächtigen hier Gesetze und Regeln ignoriert werden.
Das ist allerdings nicht das Ende der Geschichte, sondern sie geht munter weiter, denn Achgut.com liegen in der Sache neue Informationen vor. Und die besagen: Minister Pistorius’ Unwissenheit über diese Vorgänge rührt daher, dass er ausdrücklich nichts wissen wollte. Die Ursache für die Nichtweitergabe von Informationen an den Minister liegt in einer von Pistorius selbst an die Behördenleiter der Polizei herausgegeben mündlichen Weisung, für die es eine ganze Reihe Zeugen gibt.
Gemäß der Weisung sollten politisch möglicherweise kritische Informationen nicht, wie zuvor und auch heute noch andernorts üblich, von den Behördenleitern unmittelbar und gegebenenfalls vertraulich dem Minister zur Kenntnis gebracht werden. Stattdessen sei eine solche Information dem Landespolizeipräsidenten mitzuteilen, der dann darüber entscheidet, ob der Minister einbezogen wird oder nicht.
Firewall gegen ansteckende Viren
Anlass für diese Weisung war wohl die Tatsache, dass der Minister bei einer Veranstaltung von einem Untergebenen direkt und auf dem kleinen Dienstweg über die bereits erwähnte, verschwundene Maschinenpistole informiert wurde – und anschließend in die politische Kritik geriet. Inzwischen erfolgt offenbar ein Schutz des Ministers gegen unerwünschte Vorwürfe dergestalt, dass er sich regelmäßig auf unterlassene Unterrichtung durch nachgeordnete Beamte berufen kann. Diese Strategie der Verantwortungsabdichtung lässt sich in allen hier erwähnten Fällen in identischer Weise beobachten – und auch in weiteren, die noch nicht thematisiert wurden. Computerfachleute würden sagen, Pistorius hat eine "Firewall" gegen ansteckende Viren eingebaut.
Es ist verständlich, dass ein Dienstherr nicht über jede Petitesse persönlich unterrichtet werden möchte, sondern mitunter auf den Dienstweg verweist. Aber hier geht es eben nicht um Petitessen. Es geht um hochgradig sensible und für die Sicherheit der Bevölkerung in hohem Maße relevante Vorgänge, gegen die sich der politisch Verantwortliche abschottet. Boris Pistorius organisiert seine Verantwortungslosigkeit gewissermaßen selbst.
Preis einer solchen Strategie sind aber fast zwangsläufig falsche Unterrichtungen des Parlaments durch den Minister, der sich im Falle des Ertapptwerdens auf eigenes Nichtwissen beruft. Durch diese Strategie wird eine wirksame parlamentarische Kontrolle mindestens deutlich erschwert. Boris Pistorius stellt sich gerne als Mann von Recht und Gesetz dar und als einer, der sogar in entlegene griechische Flüchtlingslager reist, um im unmittelbaren Kontakt mit den Betroffenen direkte Einblicke zu gewinnen. Und ausgerechnet dieser Mann verfolgt offenbar – sobald er die heimische Grenze wieder überschritten hat – in seiner dienstlichen Praxis eine Strategie der gezielten Herstellung schuldbefreienden Unwissens.
Achgut.com hat gestern Mittag zum Sachverhalt zwei einfache Fragen per Mail an die Pressestelle des niedersächsischen Innenministeriums geschickt, mit der Bitte um Beantwortung bis zum Abend:
1. Trifft es zu, dass Minister Pistorius an die Behördenleiter der Polizei eine mündliche Weisung herausgegeben hat, gemäß der politisch möglicherweise kritische Informationen nicht mehr wie bislang üblich von den Behördenleitern unmittelbar und gegebenenfalls vertraulich dem Minister zur Kenntnis gebracht werden sollen, sondern dass diese dem Landespolizeipräsidenten mitzuteilen seien und der dann über die Information des Ministers entscheide?
2. Laut Ihrer Antwort auf die parlamentarischen Anfragen der FDP vom 26.09.2019 zum Verbleib vermisster Akten sind derzeit noch 20 Verschlusssachen in der PD-Hannover in ihrem Verbleib ungeklärt. Trifft diese Zahl noch zu?
Daraufhin erhielten wir von Philipp Wedelich, dem zuständigen Pressesprecher und Referatsleiter im Ministerium folgenden Zwischenbescheid:
"Ihre Anfrage ist bei uns eingegangen. Wir werden diese natürlich so schnell wie möglich bearbeiten. Aufgrund der Komplexität und des Umfangs Ihrer Anfrage ist eine so kurzfristige Antwort wie von Ihnen erbeten, leider nicht realisierbar. Wir werden Ihnen selbstverständlich in angemessener Zeit antworten."
Man darf gespannt sein, was an der Beantwortung der zwei schlichten Fragen so komplex ist. Achgut.com bleibt dran.
Nachtrag vom 15.11.2019. Die Antwort es Innenministeriums ist inzwischen eingetroffen. Sie finden sie hier.