Der Oktober 2020 hat eine spürbare Anspannung der Lage gebracht. Wer geglaubt hatte, dass die Probleme der vergangenen Jahre sich allmählich beruhigen würden und damit das „Steuern auf Sicht“ der Mainstream-Politik bestätigt würde, sieht sich getäuscht. Die alten Konflikte sind nicht befriedet worden, sondern mit erschreckender Schärfe wieder zurückgekehrt.
Das gilt für die Massenmigration und den damit importierten politischen Islam. Der Mord an dem Lehrer Samuel Paty in Frankreich, der seinen Schülern anhand der Mohammed-Karikaturen den Sinn der Meinungs- und Gedankenfreiheit erklären wollte, ist ein Fanal. Es hat sich danach an weiteren Orten – auch in Deutschland – gezeigt, wie tief die islamistische Intoleranz in westliche Gesellschaften, in Schulen und ganze Stadtquartiere eingedrungen ist, und hier schon das Gesetz bestimmt. Ein Merkmal ist dabei besonders alarmierend, weil es den ganzen Integrations-Optimismus widerlegt: Die neue Angriffswelle geht überwiegend von Personen aus, die schon vor einiger Zeit eingewandert sind und denen oft sogar schon die Staatsbürgerschaft gewährt wurde. Man kann und darf also auf keinen Fall davon ausgehen, dass „die Zeit“ das Islamismus-Problem schon irgendwie regeln wird.
Dieser Todfeind unserer Freiheit schlägt zu, nachdem monatelang von den höchsten Amtsträgern in Frankreich und Deutschland die Doktrin verkündet wurde, dass die Hauptgefahr „von rechts“ ausgehe. Wir erinnern uns noch an die Reden von Macron und Steinmeier, von Merkel und Seehofer. Nun wagen sie nicht, diese Doktrin zu wiederholen, aber sie hüten sich auch, die Doktrin ausdrücklich als Irrtum zurückzuziehen – obwohl doch jetzt klar wird, wie sehr damit die Wachsamkeit und Wehrhaftigkeit in Deutschland und Europa unterminiert wurden. Die Festlegung eines „Hauptfeindes“ widerspricht im Übrigen dem rechtsstaatlichen Grundsatz, dass die Schwere der Taten entscheidend ist und dass nicht der eine oder andere ideologische Hintergrund zu besonderer Härte (oder zu besonderer Nachsicht) führen darf.
Die Anspannung der Lage gilt auch für die Produktivität der Wirtschaft und die Tragleistung der staatlichen Infrastruktur. Hier wirken zwei Fundamental-Politiken, die Klimapolitik und die Pandemiepolitik, zusammen und bringen Betriebe und Infrastrukturen in eine ruinöse Klemme von wahrhaft historischen Ausmaßen. Die Klimapolitik hat in den vergangenen Jahren sowohl teure Normen-Verschärfungen als auch ganze Technologie-Stilllegungen beschlossen – vor allem im Verkehrs- und Energiewesen.
Stilllegungspolitik als ständige Drohung
Dann kam Corona, und der Lockdown hat gezeigt, dass die Regierenden bereit sind, die Gesamtwirtschaft und das öffentliche Leben flächendeckend mit Schließungen und Kontaktsperren stillzulegen. Inzwischen befinden wir uns in einem zweiten Lockdown, der rein präventiv begründet wird – wodurch die Stilllegungspolitik nun als ständige Drohung über dem Land steht. Man sollte eigentlich meinen, dass unter diesen Umständen ein Moratorium für die Belastungs-Beschlüsse der Klimapolitik beschlossen wird. Doch das Gegenteil ist geschehen. Im Oktober wurden noch weitergehende Reduktionsziele bei den CO2-Emissionen beschlossen, und die Agrarsubventionen wurden noch mehr auf den teuren „ökologischen“ Sektor konzentriert, auf Kosten der herkömmlichen Landwirtschaft.
In den Großstadtregionen haben die „Klima-Retter“ den Corona-Stillstand dafür genutzt, um quasi über Nacht und am geltenden Planungsrecht vorbei den Verkehrsteilnehmern, die mit dem Auto unterwegs sind, einen Teil ihrer Fahrbahnen zu stehlen. Man wandelte sie kurzerhand in sogenannte „Pop-up-Radwege“ um, obwohl diese in den Stoßzeiten des Berufsverkehrs gar nicht ausgelastet sind (und es im Winterhalbjahr erst recht nicht sein werden). Und das in einer Situation, in der die „Infektionsgefahr“ zum Maß aller Dinge gemacht wird, und viele Menschen deshalb von Bahn und Bus auf den eigenen PKW umsteigen.
Es ist daher kein Wunder, dass viele Menschen die gegenwärtige Situation als verworren empfinden und eine eindeutige Richtung des staatlichen Handelns vermissen. Aber diese Eindeutigkeit kann nicht darin bestehen, alle möglichen Maßnahmen gegen die Covid-19-Epidemie „bundeseinheitlich“ festzulegen. Das hieße, die Einheitlichkeit des Handelns auf der Basis der Friedhofsruhe herzustellen. Nein, das Maß aller Dinge müssen wieder die Essentials eines modernen Landes werden – so wie sie in der Verfassung festgehalten sind: Parlamentarisch verantwortliche Regierung, Gewaltmonopol des Staates, Gewerbefreiheit, Freiheit der Berufsausübung, Gewährleistung der Mobilität und Freizügigkeit, Freiheit von Wissenschaft und Kunst, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit. Wir brauchen politische Entscheidungen, die die Priorität dieser Essentials deutlich machen, auch wenn damit Opfer verbunden sind.
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sind diese Essentials mit allen möglichen Ausnahmen, Auflagen und Sonderrechten geschwächt worden. Das Grundmotiv hinter dieser Schwächung war, dass die Politik „ein freundliches Gesicht zeigen“ wollte und die Essentials entsprechend einkleiden wollte. Doch so sind nur unendliche Baustellen von der Energiewende über die Masseneinwanderung bis zur Klimarettung entstanden. Diese Baustellen sind inzwischen zu einer großen Belastung geworden. Sie entmutigen die Menschen.
So konnte „Corona“ zu einem Hebel werden
Es gibt eine Politikmüdigkeit in dieser Hinsicht, so sehr sich unsere gehobenen, urbanen Mittelschichten bemühen, diese Politik immer wieder in neuen Kleidern in die Gesellschaft zu tragen. In dieser Situation hat die Corona-Krise des Jahres 2020 etwas Ultimatives. Sie zeigt eine intimere und zugleich rätselhaftere Bedrohungslage, und sie enthält besonders dramatische Schutzmaßnahmen – und eine fast tägliche Dauerberieselung mit medialen Sondersendungen. So konnte „Corona“ zu einem Hebel werden, mit dem noch einmal die Ermüdungserscheinungen auf den anderen Baustellen verdrängt und überspielt werden konnte. Noch einmal stiegen die Umfragewerte der Regierenden.
Man kann auch das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen so verstehen (ich klammere den Betrugsverdacht bei den Briefwahlstimmen hier aus): Donald Trump, der nicht für die „Politik des freundlichen Gesichts“ steht, aber dessen Handeln als Realpolitiker in der Industrie- und Handelspolitik, wie auch in der Innen- und Außenpolitik, sich durchaus sehen lassen kann, hat ein überraschend starkes Ergebnis eingefahren. Er hätte diese Wahlen gewonnen, wenn nicht das Corona-Thema gewesen wäre, das sich für schnelle Anklagen gut eignet. Wir werden sehen, nicht nur in den USA, was geschieht, wenn aus der Corona-Krise auch eine dieser unendlichen und hoffnungslosen Baustellen wird.
Dieser Oktober 2020 wird einen besonderen Platz in der Geschichte der Bundesrepublik einnehmen, und es wird kein Platz sein, an den man sich mit Stolz erinnern wird. Denn es war alles andere als eine befreiende Schlacht, die in einer existenziellen Krise geschlagen und gewonnen wurde. Die Corona-Krise ist keine solche Krise. Gewiss steigen die Infektionszahlen, aber zugleich wissen wir, dass die große Mehrzahl der Infektionsfälle nicht zu schwere oder gar tödlichen Krankheitsverläufen führt. Die große Mehrzahl der Betroffenen ist nach einer gewissen Zeit wieder virusfrei, viele konnten schon als Infizierte ohne größere körperliche Einschränkungen leben und arbeiten. Gewiss sind sie nicht immun, aber sie scheiden doch aus der Gruppe der Infizierten aus.
Demgegenüber sind die Wirkungen des nun beschlossenen Lockdowns viel weitreichender und nachhaltiger. Sie sind es, weil sie pauschal sind und präventiv. Sie erfassen viel mehr Menschen als die Infizierten. Sie beschränken sich auch nicht auf den unmittelbaren Körperschutz der Menschen (das wären die Schutzmasken und die Hand-Hygiene), sondern beziehen sich auf ihren Aktions- und Kontaktraum: von den Abstandsgeboten für Menschen, Gruppenbildungen, Sitzplätze, über die Schließungen bestimmter Geschäfte, Kneipen, Clubs, Hallen, Arenen, Messen, Volksfeste, bis hin zu Ausgangssperren oder Reisesperren für ganze Kommunen, Regionen oder Länder. Es wird jeweils eine Gesamtheit der Bürger getroffen, in die ganze Gesellschaft wird tief eingegriffen. Und „die Gesellschaft“ bedeutet auch: ihre ganze gegenständliche Zivilisation mit Betrieben, Verkehrsträgern, Schulen, Kultur und Freizeiteinrichtungen. Allein schon die Abstandsgebote führen dazu, dass ein Großteil der Betriebe und Einrichtungen nicht mehr positive Erträge erwirtschaften kann, selbst wenn sie noch geöffnet sind. Die pauschalen Einschränkungen des öffentlichen Lebens führen auch dazu, dass die Bereitschaft zum Kauf von Gütern und Dienstleistungen erheblich zurückgeht, weil der öffentliche Verbrauch oder Gebrauch ganz wesentlich zu ihrem Wert gehört.
Auf dem Weg in eine andere Gesellschaft
Eine solche Epidemie-Politik, die aus minder schwerem Anlass installiert wird, ist keine einmalige Angelegenheit, sondern sie verändert die Gesellschaftsordnung. Am 27. Oktober erschien in der FAZ ein Beitrag des Feuilletonchefs Jürgen Kaube, der zumindest andeutet, dass es jetzt, bei diesem erneuten Lockdown, um eine Gesellschaft geht, die sich von der modernen Gesellschaft, die wir kennen, wesentlich unterscheidet. Am Anfang des Beitrags heißt es:
„Wie hätte man sich eine Gesellschaft vorzustellen, die gut auf epidemische Krankheiten eingestellt wäre? Covid-19 veranschaulicht das Problem, dass eine solche Gesellschaft wie das Gegenbild der unseren erschiene.“
Es folgt eine Aufzählung von urbaner Verdichtung, Mobilität, Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Kreisen, Ausschöpfung zufälliger Begegnungen etc., die nun nicht mehr haltbar seien. Und der Autor fährt fort:
„Hierin liegt ein Problem der Pandemiebekämpfung. Um sowohl individuelle Leben als auch den Wohlfahrtsstaat im weitesten Sinne zu schützen, muss sie sich stets auch gegen essentielle oder jedenfalls für wesentlich gehaltene Merkmale der modernen Gesellschaft richten.“
So ist in diesem Oktober in Deutschland (und anderen Ländern) etwas zum Durchbruch gekommen, dass bisher noch weitgehend verdeckt war. Mit dem zweiten Lockdown – man kann ihn noch so sehr als „begrenzt“ und „klein“ bezeichnen – erreicht die Krise nun unübersehbar eine andere Dimension: Die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik steht auf dem Spiel. Allerdings gilt das nur, wenn man tatsächlich von einem Primat des Pandemie-Problems ausgeht. Der hierzulande tonangebende politisch-mediale Komplex hat dafür gesorgt, das „Corona“ zum überall präsenten Oberthema im Land geworden ist. Auch der Kaube-Artikel trägt dazu bei, indem er das Ziel einer Gesellschaft, „die gut auf epidemische Krankheiten eingestellt“ ist, vorgibt. Aber ist dies „gut eingestellt“ überhaupt ein sinnvolles Ziel? Brauchen wir wirklich eine Gesellschaft, die alles an der Unterscheidung krank-gesund ausrichtet? Das ist die eigentliche, tiefere Frage, die mit der Oktoberkrise auf die geschichtliche Tagesordnung gesetzt worden ist. Es besteht nicht nur die Gefahr, dass wir einer mittelschweren Pandemie Tribut zollen müssen, sondern dass wir in einer anderen Gesellschaftsordnung aufwachen.
„Infektionsgefahr“ als grenzenloser Tatbestand
Wie sind wir an diesen Abgrund gekommen? Ein wesentlicher Hebel, der aus einer begrenzten Gefahr eine überallhin wuchernde Gefahr gemacht hat, war eine Umstellung in der Wahrnehmung. Der erste, für einige Wochen durchaus vertretbare Lockdown war mit dem Blick auf die hochschnellende Zahl der schweren Krankheitsverläufe und Todesfälle – insbesondere in Norditalien – verbunden. Doch danach wurde der Focus auf den Tatbestand der Infektion mit Covid-19 und überhaupt der Infektionsgefahr gerichtet. Doch gibt es keine feste Relation zwischen der Zahl der Infizierten und der Zahl der schweren Verläufe. Dennoch wurden nun das Regierungshandeln am Infektionsgeschehen ausgerichtet. Und dadurch wurden es unverhältnismäßig. Denn der Tatbestand „Infektionsgefahr“ ist tendenziell grenzenlos. Dem Vorgang des Infizierens und Infiziert-Werdens ist etwas Vages, Unscharfes, Heimtückisches zu eigen. Er bietet die Möglichkeit, über alle möglichen Infektionswege zu spekulieren – siehe das Aerosol-Thema beim Covid-19-Virus. So hat der Möglichkeitsraum von Infektion die Tendenz, ins Unermessliche zu wachsen. Und entsprechend wächst dann der Raum der Schutzmaßnahmen und erst recht der präventiven Schutzmaßnahmen. Die Umstellung der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland wirkte zunächst harmlos, weil die Infektionszahlen niedrig waren (zumal wenig getestet wurde). Aber ab September stiegen die Zahlen stärker an, und im Laufe des Oktobers übertrafen sie die März-Zahlen. Deutschland saß nun in der Falle der eigenen Wahrnehmungs- und Reaktionsmechanismen.
Politik in der Pauschalitäts-Falle
Wie selbstgewiss war die deutsche Politik über den Sommer gekommen. Man habe – im Gegensatz zu anderen Ländern – durch schnelles, entschiedenes Handeln die Pandemie eindämmen können, wurde behauptet. Doch als gegen Ende des Sommers erste Anzeichen eines Infektionsanstiegs sichtbar wurden, war man nicht zu einer situationsgerechten Politik in der Lage. Man wollte alle Infektionskontakte erfassen und ging damit viel zu flächendeckend-pauschal vor, während doch die Epidemie sich über Infektionsbrennpunkte ausbreitete. Zugleich schienen die Regierenden überhaupt jeden Begriff von Durchsetzung verloren zu haben. Sie schienen davon auszugehen, dass es genüge, die Maßnahmen zu verkünden, damit sie wirken.
Politik war nur Kommunikation von Politik. So vermied man – wieder einmal – die bösen Bilder, die zum Beispiel bei der Verhängung von Quarantäne durch Absperrungen mit Zäunen und handfeste Zurückweisungen durch Polizeibeamte erzeugt worden wären. Diese Verwandlung der Maßnahmen in bloße Mahnzeichen führte zu kuriosen Blüten: Man führte eine Obergrenze für die Teilnehmerzahl bei privaten Feiern ein, und niemand konnte erklären, wie das in Privatwohnungen durchzusetzen sei. Wurde diese naive Lösung zurückgenommen? Oh nein, man senkte nur noch einmal die Zahl der zulässigen Teilnehmer! Als ob man damit der Durchsetzung auch nur einen Flohsprung nähergekommen wäre.
Eine Erkenntnis aus der Corona-Welle im März war die Lebensgefahr, der alte Menschen ausgesetzt waren, wenn das Virus in Pflegeheime eindrang. Hier war entschiedenes Handeln dringend geboten. Doch der Sommer wurde dafür fast gar nicht genutzt. Selbst jetzt noch sind nicht alle Pflegekräfte mit Sicherheitsmasken ausgestattet und viele Einrichtungen haben ausgesprochen leichtsinnige Besuchsregelungen. Das große Warnen hatte also gar keinen praktischen Effekt, sondern wurde im Gegenteil zu einer Art Ausrede, zu einer Ersatzhandlung.
Anfang Oktober verfiel die Politik in ihrem Bemühen, angesichts steigender Infektionszahlen nun Entschlossenheit zu mimen, auf eine Maßnahme, die gute Sichtbarkeit versprach und zugleich scheinbar nur ein (verzichtbares) Vergnügungsgut betraf: Sie erließ ein Beherbergungs-Verbot für diejenigen Menschen, die aus den sogenannten „Risikogebieten“ in Feriengebiete (es war kurz vor den Herbstferien) einreisen wollten. Ganz vorneweg der bayrische Ministerpräsident Söder, der auch gleich noch erklärte, es handele sich gar nicht um ein Verbot, weil man ja mit einem aktuellen Test, der „virusfrei“ bescheinigte, einreisen könne.
Er verschwieg, dass es in vielen Teilen Deutschland schlechterdings unmöglich war, schnell einen Test (und das Testergebnis) zu bekommen. So wurde zigtausenden Berufstätiger und ihren Familien der sauer verdiente Herbsturlaub zerschossen. Das Beherbergungsverbot markiert aber auch den Punkt, an dem erstmals Gerichte in größerer Zahl intervenierten und die Verbote als nicht effektiv, unverhältnismäßig und damit unrechtmäßig untersagten. Diese Urteile sind von großer Bedeutung, denn sie stellten fest, dass pauschale Maßnahmen, die aus einer pauschalen Beschreibung von Infektionsgefahren abgeleitet werden, mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar sind. Implizit wurde damit festgestellt, dass die Infektionspolitik dabei war, die staatliche Grundordnung der Bundesrepublik zu unterminieren.
Über die Bezeichnung „nicht unbedingt notwendig“
In einer Krise, die sich um Krankheit und Gesundheit dreht, spielen mahnende Worte eine besondere Rolle. Sie können, da es um das körperliche Wohl der Menschen geht, einen sehr starken und intimen Zugriff ermöglichen. Die Kanzlerin hat sehr schnell diese Rolle des Mahners und Warners übernommen. Dazu gehört es, alle möglichen „überflüssigen“ Bedürfnisse und Leidenschaften der Menschen zu entdecken. Es ist ein geläufiges Ressentiment gegen die moderne Gesellschaft und Zivilisation, dass man sie als Treibhaus des Überflüssigen denunziert. Ganz in diesem Sinn hat Frau Merkel versucht, eine politisch-ideologische Zensur aller „nicht unbedingt notwendigen“ Aktivitäten und Kontakte der Gesellschaft einzuführen.
Der Ausdruck „nicht unbedingt notwendig“ ist freilich in keiner Weise trennscharf und gerichtsfest. Er baut nur moralischen Druck auf. Und das wurde in den Herbstferien deutlich. Auf einmal fiel die Gesamtheit der Urlaubsreisen unter das Verdikt „nicht unbedingt notwendig“. Die Reisefreiheit und das gesetzlich-tarifvertraglich errungene Recht auf Urlaub wurde mit Besäufnis- und Feierorgien gleichgesetzt. So wird versucht, eine Art moralischen Ausnahmezustand über Deutschland zu verhängen. Und man sucht inoffizielle Mitarbeiter in der Gesellschaft, die jene denunzieren, die mehr als etwas „unbedingt Notwendiges“ vom Leben wollen. Bekommen am Ende vielleicht auch jene „Hausbücher“ wieder, in denen zu DDR-Zeiten jeder Besuch in der eigenen Wohnung vermerkt wurde?
Eine „historische“ Konferenz
Mitte Oktober fand dann eine Konferenz im Kanzleramt statt, zu der die Ministerpräsidenten der Länder zum perönlichen Erscheinen vorgeladen waren, und die – so verlautete schon im Voraus aus dem Kanzleramt – eine „historische“ Konferenz werden würde. Es kam zu keinen Entscheidungen, die Deutschland aus der Falle der Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster, in der sich die Corona-Politik verfangen hat, befreien könnten. Von der Kanzlerin war die Aussage zu hören, die Beschlüsse seien „nicht hart genug, um das Unheil von uns abzuwenden“. Es ist ein Täuscher-Satz und insofern durchaus ein typischer Merkel-Satz: Die Pandemie wird zu „dem Unheil“ hochstilisiert, und das Wort „Härte“ vertuscht, dass es nicht um harte, sondern um pauschale Maßnahmen ging, bei denen eine Reihe von Ministerpräsidenten – aus guten Gründen – der Kanzlerin die Gefolgschaft verweigert haben.
Und dann folgte der Aufruf des Kanzleramtsminister Braun, der die Bürger aufforderte, die Sache im Sinne der Kanzlerin nun selbst zu übernehmen. Die Bürger sollten sich nun stärker selbst beschränken und vorsichtiger sein, als die Ministerpräsidenten es beschlossen hatten. Berthold Kohler bemerkte in seinem FAZ-Leitartikel (16.10.2020), das klinge „ein bisschen nach Offenbarungseid der Politik“. Das stimmt, und es stimmt auch wieder nicht. Denn es wurde ja nicht offenbart, was da eigentlich gescheitert war. Weder kam man zu einer maßvolleren Einschätzung der Covid-19-Epidemie, noch kam man zu zielgenaueren, trennschärferen Maßnahmen zu ihrer Einhegung. Normalerweise wird ein Offenbarungseid zu dem Zweck geleistet, die Normalität und Rechtssicherheit wiederherzustellen. Davon kann nicht die Rede sein, wenn man das Handeln und die Verantwortung einfach abgibt und der Gesellschaft überträgt. Die Wahrnehmungsmuster und Reaktionsmuster in der Corona-Politik, die zur Oktoberkrise geführt hatten, waren auch nach dieser Geste der Hilflosigkeit noch die gleichen.
Und nun doch ein Lockdown
Nun endet dieser denkwürdige Oktober 2020 doch mit einem Lockdown-Beschluss der Regierenden in Bund und Ländern. Erneut wird eine völlige Stilllegung wichtiger Wirtschaftsfelder und öffentlicher Einrichtungen angeordnet. Ebenso werden dem öffentlichen Leben weitreichende Einschränkungen und Kontaktverbote auferlegt. Das alles geschieht flächendeckend, ohne Rücksicht auf die erheblichen regionalen Unterschiede. Und es geschieht angesichts einer Gesamtlage, die keineswegs von den schweren, tödlichen Krankheitsverläufen geprägt ist, wie sie im März 2020 gegeben waren.
Alles wird in Hinblick auf mögliche zukünftige Zuspitzungen – also rein präventiv – begründet. Damit wird die schlechte und rechtsstaatlich fragwürdige Pauschalität der Corona-Maßnahmen nicht korrigiert, sondern erneut verstärkt. Und hier kommt das völlig Widersinnige und Absurde: Man begrenzt den Lockdown auf den Monat November und spricht deshalb von einem „kleinen“ Lockdown. Aber die präventive Begründung ist ja eigentlich eine längerfristige Begründung! Sie zielt auf Ereignisse und Entwicklungen in einer Zeitlinie, die weit über den November hinausgeht. Das heißt: Wenn die Maßnahme Ende November beendet wird, klopft das „Unheil“ alsbald wieder drohend an die Tür. Und nun hat man mit dem zweiten Lockdown einen Präzedenzfall dafür geschaffen, dass man schon bei diesem Klopfen wieder stilllegen muss.
So ist die Oktoberkrise nicht zu einer bereinigenden Krise geworden. Ganz im Gegenteil, sie hat das Land nur noch tiefer und hoffnungsloser in das Corona-Problem verwickelt. Jetzt droht tatsächlich eine grundlegende und nachhaltige Veränderung der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung der Bundesrepublik.
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