Thomas Rietzschel / 27.05.2019 / 12:00 / Foto: Nicola Perscheid / 14 / Seite ausdrucken

Die Ohnmacht des Wortmächtigen

„Wie modrige Pilze“ zerfielen ihm die Worte im Mund, heißt es in einem fiktiven Brief des fiktiven Lord Chandos an den englischen Philosophen und Staatsmann Francis Bacon. Literarisch datiert ist das Schreiben auf den 22. August 1603. Erfunden wurde es sehr viel später. 1902, im Wien des Fin de Siècle, verfasst Hugo von Hofmannsthal den als „Chandos-Brief“ berühmt geworden Essay.

Europa, die Mitte und der Westen, taumelten im Rausch der Dekadenz. Während die Naturwissenschaften zu Erkenntnissen vordrangen, die das Weltganze auf den Kopf stellten, Sigmund Freud mit seiner Psychoanalyse herausfand, dass sich der Einzelne nicht einmal selbst über den Weg trauen kann, weil ihm das Unbewusste im Nacken sitzt, während der Fortschritt keinen Stein auf dem anderen ließ, stand die Gesellschaft still.

Allenfalls wollte sie sich noch im Kreis drehen. Arm in Arm mit dem abdankenden Adel schwelgte das Bürgertum im Reigen des ziellosen Daseins. Der Blick sollte nicht über den Tag hinaus schweifen. Wer es sich leisten konnte, genoss sein Leben in der Ausschweifung. Weil man es so genau gar nicht wissen wollte, verloren die Worte ihre Bedeutung. Sie blieben im Umlauf, ohne dass sie noch zur Erklärung der Welt taugten. Gegen die Lethargie war mit ihnen nichts auszurichten. Indem er in die Rolle einer literarischen Figur schlüpfte, als Lord Chandos zur Feder griff, überdachte Hugo von Hofmannsthal das eigene Dilemma: die Ohnmacht des Wortmächtigen.

Der Geist verstummt

Wo er nicht gehört wird, versagt ihm die Sprache. Zumal die kritische Rede verhallt, wo sich die Eliten an das Bestehende klammern, weil sie das Kommende fürchten. Der Geist verstummt, die Gesellschaft trudelt abwärts. Seinerzeit, in den Jahren nach 1900, führte das endlich dazu, dass drei überforderte Monarchen einen Weltkrieg vom Zaun brachen: ein vergreister Kaiser in Wien, ein ängstlich lavierender Zar in St. Petersburg und der deutsche Wilhelm als Marionette widerstreitender Berater.

Alles Schnee von gestern? Unnötige Reminiszenzen? Auf den ersten Blick: ja, natürlich. Bei genauerem Hinsehen aber, als Parabel betrachtet, scheint Hugo von Hofmannsthals „Chandos-Brief“ heute kaum weniger aktuell als ehedem. Leben wir doch abermals in Zeiten eines zu Zwecken der Verdrängung forcierten Hedonismus. Auch müssen wir uns schon wieder fragen, mit welchen Worten sich die Mehrheit überhaupt noch erreichen lässt.

Und ist schließlich nicht erneut zu befürchten, dass der Geist verstummen könnte, während sich die Gesellschaft im Hamsterrad abstrampelt, weil sie lieber in die Misere taumelt, als dass sie sich aufrafft? Vor allem aber fehlt es nicht an Exzellenzen, die ebenso kopflos vor sich hin regieren wie ihre monarchischen Vorgänger: eine selbstgerechte Hochstaplerin in Berlin, ein eitler Schaumschläger in Paris, ein Rumpelstilzchen im Kreml. Was sie sagen, muss niemand verstehen. Sinnlos gebraucht, haben sich ihre Worte zu Phrasen verwandelt, einlullend für den Bürger, der es ohnehin so genau nicht wissen will.

Sprechen, schreiben, schweigen

PS: Wenige Tage, bevor Kurt Tucholsky nach der Einnahme einer Überdosis von Schlaftabletten am 21. Dezember 1935 im schwedischen Exil verstarb, hatte er noch auf die letzte Seite seines „Sudelbuchs“ eine Treppe mit drei Stufen gezeichnet. Auf der untersten stand „sprechen“, auf der mittleren „schreiben“, auf der obersten „schweigen“. Nachdem sich die Deutschen 1933 mit hinreichender Mehrheit für eine Politik entschieden hatte, vor der zu warnen der scharfzüngig geniale Sprachmeister nicht müde geworden war, zerfielen auch ihm die Worte wie „modrige Pilze“, erstickend geradezu. 

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Johannes Schuster / 27.05.2019

Naja, wenn die Deutschen so geniale Theoretiker wären, hätten sie Horkheimer und Adorno nicht gebraucht. So widerlich dumm die Stundenten damals mit der halben Hirnhälfte alles drohten zu pervertieren, es war damals schon instabil. Heute ist dieser Baufehler der deutschen Sozialwirklichkeit eben ausgeprägt. Aber ehrlich: Ein Volk, daß den größten Mord der Geschichte zu verantworten hat, welche Zukunft kann eine leichengefüllte Verkommenheit haben ? Die Toten holt keiner zurück.

Werner Arning / 27.05.2019

Es mag sein, dass wir wieder am Ende einer Epoche stehen. Dass die Dummheit in Form von Selbstzerstörung wieder die Oberhand gewinnt. Dass die Dekadenz alles durchdringt und der Geist verstummt. Ja, alle Anzeichen dafür sind vorhanden. Immer wieder verrennt sich die Menschheit von neuem. In diesen Momenten scheint sie ihrer selbst überdrüssig zu werden. Dann treibt die es auf die Spitze.

Sanne Weisner / 27.05.2019

Wenn das Gestern und das Morgen einem nichts zu bieten haben bleibt am Ende nur die Gegenwart. Und da geht es eben immer nur um das gute Gefühl im Hier und Jetzt. Für die einen als Fressen, Saufen, Fikken und die anderen als Endkampf um den Thron der Tugendhaftigkeit.

Jens Richter / 27.05.2019

@Helge Grimme Mich interessieren tieferliegende Antworten. Auch auf die Gefahr hin, verstört zu werden. Können Sie Interessierten einen Hinweis geben? Vielen renommierten Historikern dürften die tiefliegenden Antworten bekannt sein.

Reinhard Weber / 27.05.2019

Die Wortmächtigkeit ist ja in etwa die Fähigkeit zur Meinungsführerschaft, zur Deutungshoheit. Da sehe ich derzeit die MSM als das Sprachrohr “demokratischer” Parteien, welche erfolgreich die reale Wahrnehmung der breiten Masse mit gesinnungsbestimmter Berichterstattung ausgeschaltet haben und täglich daran arbeiten. Ein Beispiel ist der “Klimanotstand” diverser Städte. Da muss nichts mehr erklärt werden. Es hilft nur noch, kritikfrei und fest zu glauben und mitzumachen. Da werden MINT Fächer zur Entwicklung der Zukunft bedeutungslos. Bei den Skeptikern dieser Entwicklung scheint sich trotz Achse Resignation breit zu machen. Der Erfolg der nach der Macht greifenden Scharlatane scheint andere zur Hysterie anzuregen, um Gleiches zu wollen. Kopien hatten jedoch schon immer einen geringeren Stellenwert. Während sich Wissenschaft und Technik wandelt und den Fortschritt befördert, sieht der Skeptiker der hysterisch vertretenen Ziele, die die Welt vor dem Kollaps retten sollen, eine Umgebung, die einen Rückfall in die gesellschaftlichen Verhältnisse und Methoden des Mittelalters erahnen lässt. Das hier Geschriebene ist nur eine der vielen Facetten eines komplizierten Spieles um Macht und Einfluss. Das Wohlergehen der Allgemeinheit scheint dabei keine Rolle zuspielen.  Aber ein Faktum ist sicher.  Die wirklich nutznießende Gruppe ist viel viel kleiner, als mancher Mitläufer denkt.

Leo Hohensee / 27.05.2019

//“Der Geist verstummt. Wo er nicht gehört wird, versagt ihm die Sprache. Zumal die kritische Rede verhallt, wo sich die Eliten an das Bestehende klammern, weil sie das Kommende fürchten.” //  Sehr geehrter Herr Rietzschel, ich finde, das passt aber überhaupt nicht auf die heutige Situation. Unsere “Wirkmächtigen” wollen die Herren der “Welt der Zukunft”  werden. Aus einem dekadenten Gefühl von “Einerlei”  heraus wirken Möchtegerne jeder Couleur mit an dem Spiel der allerobersten Geldeliten zur Umgestaltung der Welt. Also, die Eliten fürchten die Zukunft nicht - sie arbeiten mit Tricks und Täuschung daran, sie im Sinn ihrer Finanzinteressen umzugestalten.

Karla Kuhn / 27.05.2019

Ich habe die Petition zur Erhaltung der DEUTSCHEN SPRACHE unterschrieben.  Und ich werde mich auch sonst dafür einsetzen.  Ich kenne kein Land, was seine Sprache derart verhunzt wie Deutschland. Ich glaube fast, daß ein Teil der Bevölkerung nicht nur die deutsche Sprache, sondern die gesamte Kultur,  die VERGANGENHEIT und jetzt auch noch die Industrie ganz ausmerzen möchte. Wenn es dem Esel zu wohl wird, das führt meistens in die Dekadenz !!  Und WIE die für ALLE geendet hat, ist hinreichend bekannt ( wenn man nicht in der Schule hinter der “Säule” gesessen hat !!).

Dr. med. Jesko Matthes / 27.05.2019

Großartig…! Dennoch bleibt die Sprache. Es bleiben die vielen anderen Dinge, die sofort oder lange danach kamen: Expressionismus, Dada, Punk, Farce, Satire, Film, Happening, Performance; es kam auch die Stunde der Propagandaminister - und noch später das, was alle zusammen vielleicht am meisten fürchten: das Internet und die Sozialen Medien, die niemals schweigen. Wenn die Künstler verstummen (oder anfangen zu langweilen, sich und andere), beginnen die Bürger zu sprechen - und die Scharlatane, vielleicht sogar aus schierer Langeweile. Irgendwie also doch alles wie immer, im Guten wie im Bösen. Die Künstler sind dabei weniger wichtig als sie denken. Die Sache mit den Politikern, die zu faseln beginnen, ist schlimmer als die mit den Künstlern, die zu sprechen aufhören.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Thomas Rietzschel / 17.06.2023 / 15:00 / 12

Kaube weiß, was Habeck mit Börne verbindet

Vor einer Woche wurde der Börne-Preis für Essays, Kritik und Reportage an Wirtschaftsminister Robert Habeck verliehen, in der Frankfurter Paulskirche. Man muss schon eine Weile…/ mehr

Thomas Rietzschel / 22.03.2023 / 16:00 / 24

Der beleidigte Lauterbach

Karl Lauterbach, Gesundheitsminister im Kabinett von Olaf Scholz, hat viel an Ansehen verloren. Aber er vertraut sich selbst noch immer, wie einst der nackte Kaiser,…/ mehr

Thomas Rietzschel / 23.01.2023 / 16:00 / 56

Sag mir, wo die Panzer sind, wo sind sie geblieben?

Erinnern Sie sich an Peter Struck, den letzten Bundesminister für Verteidigung, der – mit Verlaub – noch einen Arsch in der Hose hatte? Weil er die…/ mehr

Thomas Rietzschel / 20.12.2022 / 12:00 / 52

Wann kommt die Fahrrad-Steuer?

Warum müssen die Halter von Kraftfahrzeugen KfZ-Steuer zahlen, indes die Radler das öffentliche Straßennetz unentgeltlich nutzen dürfen, es mehr und mehr für sich beanspruchen, zunehmend…/ mehr

Thomas Rietzschel / 23.11.2022 / 16:00 / 24

Im neuen marxistischen Kapitalismus

Möchte der Staat die Bedeutung der Arbeit mit der Höhe seiner Sozialleistungen ausstechen, um den freien Bürger zum betreuten Mündel herabzusetzen? Mit der „wohltätigen“ Diskreditierung…/ mehr

Thomas Rietzschel / 04.11.2022 / 14:30 / 67

Lauterbach im Taumel der Macht

Was er seit seiner Berufung zum Minister veranlasst und ausgeführt hat, ist nicht mehr als die tolldreiste Posse eines Narren, der im Wahn seiner Macht…/ mehr

Thomas Rietzschel / 28.09.2022 / 16:00 / 43

Mehr Licht!

Nach der Umweltverschmutzung im Allgemeinen und der Luftverschmutzung im Besonderen haben sich die Klimabewegten von Thunberg und Neubauer bis zu den Geistesgestörten, die sich auf Autobahnen…/ mehr

Thomas Rietzschel / 25.09.2022 / 13:00 / 35

Vom heißen Herbst kalt erwischt

Die Angst geht um in den deutschen Regierungsbezirken, die Angst vor einem „heißen Herbst“. „Natürlich“, so tönt aus allen Amtsstuben, aus dem Kanzleramt sowie aus…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com