Manfred Haferburg / 22.01.2023 / 10:00 / Foto: Manfred Haferburg / 44 / Seite ausdrucken

Die Notre-Dame-Baustelle

Während alle Welt auf Streiks und Proteste in Frankreich schaut, widmet sich dieser Text der Frage, wie es eigentlich um die Pariser Kathedrale Notre-Dame steht. Nachdem sie 2019 in Flammen stand, hatte Präsident Macron den Wiederaufbau bis 2024 versprochen.

Der letzte Donnerstag, 19. Januar 2023, wurde in Frankreich der „schwarze Donnerstag“ genannt. Die Gewerkschaften hatten zum Streik gegen Macrons Rentenreform aufgerufen. Die Pariser Nahverkehrszüge der RER fuhren im Zweistundentakt. Von den meisten Metrolinien fuhr nur jede dritte. Dutzende Fernverkehrszüge fielen aus. Die Kernkraftwerke senkten 3.700 Megawatt Leistung ein. Der Innenminister Gérald Darmanin schäumte. Die Pariser ächzten, blieben zu Hause oder stiegen ins Auto – der Dauerstau war entsprechend. 

Der eigentliche schwarze Tag von Paris war aber ein Montag, der 15. April 2019. Da wurde um 18:20 Uhr in der Notre-Dame de Paris ein Feueralarm ausgelöst und eine kulturelle Katastrophe nahm ihren Lauf. Bald darauf stand die schönste Kathedrale der Welt lichterloh in Flammen. Wie bei jeder Katastrophe hatten sich viele kleine Unachtsamkeiten angehäuft, und das Desaster nahm seinen Lauf. Für einen Augenblick hielt die Welt den Atem an. 

Bald jährt sich dieser schwarze Montag zum vierten Male. Zeit, dass ich wieder mal ein Update über die Notre-Dame schreibe. Metro-Streik hin und her, da gehört es sich natürlich als Achse-Autor, vor Ort zu recherchieren. Zum Glück wohne ich an der Metro-Linie 1, die von La Defense im Westen nach dem Chateau de Vincennes im Osten quer mitten durch Paris fährt. Das ist eine Streikbrecherlinie, da sie vollautomatisch ohne Fahrer im Zweiminutentakt verkehrt. Und tatsächlich, in weniger als 20 Minuten war ich am Chatelet, wo eine Durchsage mitteilte, dass die Station Rathaus von Paris auf Anweisung der Polizeidirektion nicht bedient würde. Man wollte es den potenziellen Demonstranten etwas unbequem machen. Also aussteigen und eine Station zu Fuß gehen. Was tut ein Achse-Autor nicht alles für seine Leser.

Der Anlass dieses Artikels war der Umstand, dass ich mir den Film „Notre-Dame brûle“ – „Notre-Dame in Flammen“ angesehen hatte. Ich habe ja schon des Öfteren über den Brand berichtet (hier), (hier), (hier) und (hier). Und jetzt der Film von Jean-Jacques Annaud, der auch den Film „Der Name der Rose“ gemacht hat. Der Film ist auch in Deutschland unter dem Namen „Notre-Dame in Flammen“ zu sehen. Wikipedia beschreibt den Inhalt so: „Als am 15. April 2019 im Notre-Dame de Paris ein Feuer ausbricht, versuchen Feuerwehrleute, Männer und Frauen, unter Einsatz ihres Lebens dieses spirituelle und kulturelle Juwel und was sich darin befindet, zu retten. Sie müssen mitansehen, wie die Wasserspeier beginnen, Blei zu spucken, sich der Dachreiter in eine Fackel verwandelt und das Dach des Kirchenschiffs einstürzt“.

Sogar noch Respekt für armselige Versager

Ich habe mir den Film zweimal angesehen, für mich hat es sich gelohnt. Der Film ist alles auf einmal: Drama, Dokumentarfilm, Heldenepos und Action-Film. Er ist spannend, berührend, zuweilen politisch kitschig, doch auch mit mächtigen Bildern und berührenden Charakteren. 

Annaud ist ein Meister seines Fachs. Er hat den Spagat geschafft und sogar den armseligen Versagern des Brandschutzes des meistbesuchten Bauwerks der Welt den angemessenen Respekt zu erweisen. Hier wird keiner an den Pranger gestellt, weder der hilflose Feuerwachmann noch die konfusen Verantwortlichen für den Brandschutz der Kirche. Beim zweiten Mal Ansehen des Films hat mich dieser tiefe Respekt sehr berührt. Wie einfach wäre es gewesen, die Versager vorzuführen.

Da ist der neue Feuerwachmann an seinem ersten Arbeitstag – so stolz, diesen Job zu haben. Er ist kaum ausgebildet – fast zwei Stunden, sagt er. Seine Ablösung kann nicht kommen, er muss eine Doppelschicht machen. Der Brandschutzraum ist eine Rumpelkammer, die Sanitärräume sind weit weg, die Uniform viel zu groß. Beim Alarm schickt er den Küster in den falschen Bereich, weil er seinen Chef telefonisch nicht erreichen kann.

Da ist der Küster, ein älterer Herr, der bei der Kontrolle die hunderte Stufen mit Asthmaspray hochschnieft, und für den es der dutzendste Fehlalarm des maroden Brandschutzsystems ist. Da ist der Mitarbeiter, der sich in den zweihundert Schlüsseln verheddert, als er der Feuerwehr eine Tür aufschließt. Da ist der Konservator der Notre-Dame, dessen Herbeieilen zu einem Dauergag-Roadmovie wird, bis ihn die Polizei versehentlich bei der Kirche verhaftet. Wen wundert es, dass er in der brennenden Kirche die Kombination des Safes zur Rettung der Krone Jesu vergessen hat. 

Auch bei der Brandursache hält sich Annaud zurück. Auch nach fast vier Jahren hat die Untersuchungskommission noch kein Ergebnis erzielt. So rettet sich der Film dahin, dass er nur ein paar Möglichkeiten aufzeigt, ohne sich spekulativ auf eine Ursache festzulegen.

Himmelfahrtskommando in brennenden Dachstühlen

Die eigentlichen Helden des Films sind die Feuerwehrleute. Die Löscharbeiten dauerten bis in die Morgenstunden an. Um 9:50 Uhr am 16. April war das Feuer offiziell gelöscht. Dabei waren um die 600 Feuerwehrleute und ein großes Aufkommen an Löschwägen, Hubschraubern und Drohnen beteiligt. 

In Frankreich sind die „Pompier de Paris“ – die Pariser Feuerwehr – eine echte Militäreinheit. Doch auch sie brauchen mit ihren Sirenen und Blaulichtern im Chaos des Pariser Verkehrs eine Stunde für die zwei Kilometer von ihrer Kaserne bis zur Kirche. Dann dauert es eine weitere Stunde, bis die Feuerwehr ihre gesamte Großeinsatz-Infrastruktur installiert hat. Das ist so in Paris – kein lieber Gott kann eine Schleuse auf der Seine schneller füllen, nur weil ein Feuerwehr-Pumpenboot schnell zu seinem brennenden Haus muss. Der liebe Gott ist auch überfordert, wenn er die Schwerlastfahrzeuge der 40-Meter-Löschplattformen oder den kleinen Citroën des Generals der Pariser Pompier schnell durch das Pariser Verkehrschaos lotsen soll.

Annaud benutzt Originalaufnahmen des Brandes und mischt sie geschickt mit seinen Studioaufnahmen. So merkt der Zuschauer gar nicht, dass der Präsident der Republik Frankreich nicht zum Schauspieler mutieren musste, wenn er dem Schauspieler des Generals im Film die Genehmigung zum Lossenden eines Himmelfahrtskommandos zur Rettung der Glockentürme erteilt. Ein paar Freiwillige der Pariser Berufsfeuerwehr kämpfen sich als Himmelfahrtskommando durch die brennenden Dachstühle, um zu verhindern, dass die tonnenschweren Glocken aus 40 Meter Höhe abstürzen und das Gebäude zerstören.

Während die Feuerwehrleute in den Türmen um die Rettung der Kirche kämpfen, blendet der Film zu den Parisern, die zusehen müssen, wie ihr 800-jähriges Kleinod ein Opfer der Flammen wird und ein Kirchenlied anstimmen. Würde ich nicht seit 22 Jahren in Paris wohnen, hätte ich diese Szene als Kitsch eingeordnet. Aber so ist es gewesen, ohne jeden Zweifel. Und ja, es haben auch Zugezogene anderer Rassen mitgesungen. Die Pariser sind viel besser als ihr Ruf. 

Es ist nicht leicht für Nichtfranzosen, sich in den Film und die feingliedrigen Details des  Geschehens kulturell hineinzuversetzen – in das Militärgehabe der Feuerwehr, in das Chaos der Kirchenvertreter, in das unsägliche Verhalten einiger Verkehrsteilnehmer gegenüber der Feuerwehr. Das ist eben Paris. Trotzdem ist der Film eine kleine Lektion in Pariser Kultur, dabei unterhaltsam und sehr spannend – also besser Zurücklehnen und Popcorn, als über die Pariser Zustände zu rechten.

Das Bauziel scheint mit Abstrichen erreichbar 

Wie ist es denn heute um die Notre-Dame bestellt? Macron hat versprochen, dass 2024 die Notre-Dame repariert ist. Das scheint ambitiös, aber erreichbar zu sein, vielleicht mit einigen Abstrichen. Die Notre-Dame ist bis auf die Frontfassade fast vollständig eingerüstet. Seitlich steht ein DARTUS-Mobilkran, der 350 Tonnen heben kann, der ist ganz sicher etwas, was Technikinteressierte begeistert. 

Von außen ist schon ein großer Teil der Fassade gereinigt und renoviert. Im Inneren arbeiten hunderte Restauratoren. Sie haben Wände dick mit Latex eingesprüht. Wenn sie es von den Steinen abziehen, nimmt es den Ruß und den Dreck mit. 

Es gibt ein provisorisches Dach, das genauso schwer sein muss wie das zu bauende neue Dach, was wieder aus Eichenholz erbaut werden soll. Das Gewicht wird gebraucht, um das Gebäude nicht falsch zu belasten und seine fragile Statik zu gewährleisten.

Die Kathedrale Notre-Dame de Paris ist in vielerlei Hinsicht ein Wahrzeichen von Paris. Man kann ihre charakteristischen Türme von Weitem sehen und auch die Silhouette der gesamten Kathedrale ist einmalig. Sie steht an der Stelle eines Vorgängerbaus von 540/550, über dem die Kathedrale Notre-Dame ab 1163 errichtet wurde.

Notre-Dame ist das Meisterwerk der gotischen Architektur. Auch die Rosette im Hauptschiff ist mit ihren 12 Metern Durchmesser eine der größten Europas. Die Architektur von Notre-Dame ist einmalig und war ihrer Zeit weit voraus. Das zeigt sich vor allem in dem äußeren Strebewerk, das es den Architekten erlaubte, Notre-Dame so hoch, schmal und mit solch vielen großen Fenstern zu gestalten. Heute kann man dort noch ein anderes Meisterwerk bewundern – die Zimmerleute haben gigantische hölzerne Stützkonstruktionen für die fragilen Außenrippen installiert. 

Es ist wahrhaftig ein Wunder, dass das fast 1000-jährige Gebäude die Feuersbrunst überstanden, ich möchte fast sagen, überlebt hat. Im Film rührt der alte Priester, der Gott auf Knien für diese Rettung dankt, weiche Gemüter zu Tränen. Und vielleicht, wenn der liebe Gott will, kann ich am Heiligabend 2024 in die Notre-Dame de Paris zur Christmette pilgern. Auch wenn der neue Vierungsturm erst 2026 installiert wird. Der französische Gockel auf seiner Spitze hat schließlich das Feuer überlebt und kann ausgebeult wiederverwendet werden.

Foto: Manfred Haferburg

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Ludwig Luhmann / 22.01.2023

Und Allah lächelt ... ... Ein paar Überschriften:“Notre Dame der (vorläufige) Höhepunkt? Serie von Schändungen katholischer Kirchen in Frankreich”—- “Vermehrt Kirchenschändungen in Frankreich - Jeden Tag werden in Frankreich mindestens drei Kirchen geschändet, so die Statistik. Das Ausmaß der Abscheulichkeiten wird aber erst deutlich, wenn man weiß, dass die Vandalen unter anderem aus Kot ein Kreuz an die Wand malen und dort geweihte Hostien, den Leib des Herrn, hineindrücken. (...)”—- “Kommunen verweigern notwendige Investitionen - Die christlichen Kirchen in Frankreich sind dem Untergang geweiht - Die fast 50.000 katholischen Kirchen (Gebäude) in Frankreich gehören, anders als in Deutschland, nicht der katholischen Kirche (Institution); sie gehören den Kommunen. Und die rücken weder Sous noch Cent für die Instandhaltung heraus.”—- “Kirchenschändung in Frankreich: Jugendliche verwüsten Kathedrale - In Frankreich haben Jugendliche erneut die Kathedrale von Saint-Die-des-Vosges beschädigt. Der örtliche Pfarrer berichtete von zerbrochenen Kerzen und einem heruntergerissenes Altartuch voller Urin und Exkremente. In Frankreich fallen Kirchen immer wieder Vandalismus zum Opfer.”  ...undsoweiterundsoweiter….

Kurt Schrader / 22.01.2023

Lieber Herr Haferburg, schön, dass wir Sie haben, und dass Sie regelmäßig aus ihrer Wahlheimat berichten…. … voll Geschichte und Kultur und mit so vielen neuen Problemen …. … Paris bleibt ein Fest für’s Leben… trotz aller Brutalität und moderner infernos… Ich werde mir natürlich den Film über Notre Dame ansehen, und freue mich schon heute auf Ihren Bericht über die dann hoffentlich strahlend wiederhergestellte ehrwürdige Kathedrale im Herzen dieser wunderbaren Stadt….

Ilona Grimm / 22.01.2023

@Michael Fasse: Großartig Ihr Kommentar – mal wieder! Er erspart mir auch, auf süffisante Bemerkungen von Kommentatoren über Gott einzugehen, der „sein“ Haus nicht beschützen konnte. Warum soll Gott eine leere Hülle vor Zerstörung schützen, nachdem wir Menschen dort Leere haben einziehen lassen? Die Franzosen lassen die Kathedrale nur deswegen wieder errichten, weil sie Symbol ihrer „grande nation“ ist. Um Glaubensinhalte geht es niemandem im offiziellen Frankreich.  Dennoch bin ich guten Mutes: Die Schuldigen werden Gottes Gericht nicht entkommen. →Irrt euch nicht, Gott lässt sich nicht (ver)spotten.← Galater 6,7

Franz Klar / 22.01.2023

@Ilona Grimm : “habe ich vor etlichen Jahren mal einen Brandversuch an einem aus der Bauzeit übrig gebliebenen Balkenstück vorgenommen. Der Versuch ist „misslungen“. Ihr Versuch weist Ähnlichkeiten zu dem eines gewissen Oury Jalloh auf . Der verbrannte 2005 auf einer unbrennbaren Polizeimatratze in Dessau bis zur Unkenntlichkeit .  Feuer gibt´s , die gibt´s gar nicht ...

Talman Rahmenschneider / 22.01.2023

Darf ich das evtl. verbessern?: “Notre-Dame ist das Meisterwerk der gotischen Architektur. ” EIN Meisterwerk. Reims? Amiens? Rouen? Chartres? Winchester? Salisbury? York? Canterbury? Das bedeutet jedoch, dass ich es genau gelesen habe. Und genossen. Vielen Dank. Die Lage mitten im Fluss ist allerdings ohnegleichen. Monsieur le Président freut sich sicherlich darauf, sich dort in Szene zu setzen. Vor der nächsten Wahl wird sie fertig sein, so viel ist gewiss.

Franz Klar / 22.01.2023

@Silas Loy : “Jeder weiss doch, dass ein staubtrockener Dachstuhl aus jahrhundertealten Eichenbalken wie Zunder brennen kann” . Wissen ist nicht glauben . Lesen Sie die Kommentare , wenn Sie´s nicht glauben ...

D. Katz / 22.01.2023

Wäre ich der Christengott, hätte ich das nicht zugelassen. Aber was weiß ich schon von den unergründlichen Wegen des Herrn. Er lässt ja auch Kinder an Krebs sterben und harmlose Passanten von Bomben zerreißen. Irgendwas wird er sich dabei schon denken, denn er liebt die Menschen mindestens so sehr wie Erich Mielke sel.. Oder - horribile dictu - ist Allah vielleicht der mächtigere Himmelsherrscher…?

Dietrich Herrmann / 22.01.2023

“Auch nach fast vier Jahren hat die Untersuchungskommission noch kein Ergebnis erzielt.” Das wird im Sande verlaufen, da kann man sich sicher sein. Genau so, wie die Sabotage der Nordstream-Pipelines. Die wahren Täter werden in beiden Fällen aus politischen Gründen geschützt, obwohl sie längst bekannt sind, um Revolten in den Völkern zu vermeiden.

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