In Ostrovets in der Region Grodno (54° 36′ 49″ N, 25° 57′ 19″ E) geht das erste Kernkraftwerk Weißrusslands ans Netz. Es besteht aus zwei Druckwasserreaktoren des Typs VVER-1200 mit insgesamt 2.340 MWel, netto. Die Auftragserteilung und erste Baustellenvorbereitungen erfolgten noch 2011. Die Grundplatte von Reaktor 1 wurde im November 2013 und von Reaktor 2 im Mai 2014 betoniert (offizieller Baubeginn eines Kernkraftwerks). Damit hat auch die russische Nuklearindustrie gezeigt, dass sie Kernkraftwerke fristgerecht und ohne Kostenüberschreitungen im Ausland fertigstellen kann.
Der erste Reaktor dieses Typs ging 2016 (Novovoronezh II-1) in Betrieb. Es folgten 2017 Leningrad II-1 und 2019 Novovoronezh II-2. Auch hier zeigt sich wieder, der Bau von Kernkraftwerken in der vorgesehenen Zeit zu festen Kosten ist keine Hexerei. Das Geheimnis liegt im Bau möglichst baugleicher Kraftwerke in dichter Folge: So hat man stets geübtes Personal im Einsatz, und dies ist die beste Garantie gegen Termin- und Kostenüberschreitungen.
Wie ein Phönix aus der Asche wiederauferstanden
Die Exporterfolge der russischen Nuklearindustrie beruhen auf der gleichzeitigen Finanzierung durch russische Banken. Der Auftragswert für das Kraftwerk betrug 10 Milliarden US-Dollar (entsprechend 4.274 US-Dollar/kW). Das ist durchaus günstig für ein Kraftwerk der Generation III+ mit allem Schnickschnack wie doppeltem Beton-Containment und Kernfänger. Bei diesem Typ hat sich der Hersteller eng an europäischen Vorstellungen orientiert, wie sie auch im französischen EPR realisiert werden.
Die Finanzierung erfolgt quasi nach einem Bauherrenmodell: Es gibt einen Zahlungsplan mit festgelegten Raten zu festgelegten Zahlungsbedingungen. Dies ergibt eine interessante Aufteilung des Risikos zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber. Bis zur jeweiligen vertragsgemäßen Teillieferung trägt der Anbieter das Risiko von Kostensteigerungen durch Bauverzögerungen. Erst ab diesem Zeitpunkt wirken sich für den Auftraggeber zusätzliche Zinszahlungen durch eine verzögerte Inbetriebnahme aus. Wird eine Rate an den Hersteller fällig, wird diese durch eine russische Bank als Kredit für Weißrussland bereitgestellt.
Erst ab diesem Moment muss der Kapitaldienst durch den Auftraggeber geleistet werden. Russland finanziert so etwa 90 Prozent der Baukosten vor. Ganz nebenbei, die USA haben inzwischen erkannt, welchen Exportvorteil Russland gegenüber finanzschwachen Ländern durch dieses Modell hat und streben wieder staatliche Ausfallbürgschaften an. So hat Rosatom im März 2020 veröffentlicht, dass es für die nächsten zehn Jahre über ein Auftragsvolumen im Ausland von 140 Milliarden US-Dollar verfügt. Rosatom besteht aus 400 Unternehmen mit mehr als 250.000 Mitarbeitern. Für Russland bedeutet dies nicht nur die Einwerbung von Exportaufträgen, sondern auch die Wandlung der stets schwankenden Deviseneinnahmen aus dem Rohstoffgeschäft in stetige langfristige Zahlungsströme – zum Beispiel für Pensionszahlungen.
Die russische kerntechnische Industrie ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wie ein Phönix aus der Asche wiederauferstanden. Im Oktober 2015 wurde der erste Reaktordruckbehälter von Atommash in Wolgodonsk – nach 30 Jahren Pause – hergestellt. Das Werk wurde 1973 gegründet und stellte bis 1986 allein 14 Reaktorgefäße her. 1997 ging es endgültig pleite und hangelte sich dann mit Aufträgen aus dem Gas- und Ölsektor durch. Heute ist es wieder das Zentrum für Druckwasserreaktoren und verfügt über die Kapazität von vier kompletten Kernkraftwerken (Druckgefäße, Dampferzeuger und so weiter) jährlich. Das Werk verfügt über einen eigenen Anschluss an den Wolga-Don-Kanal. In diesem Jahr wurden bereits drei Reaktordruckgefäße und 17 Dampferzeuger für Projekte in Indien, Bangladesch und der Türkei ausgeliefert.
Robuste Strategie einer Serienfertigung
Man bevorzugte in Weißrussland ein zur Errichtung paralleles, abschnittsweises Genehmigungsverfahren. Dies funktioniert sehr gut bei Serienbauweise ohne große lokale Anpassungen. Wie hier gezeigt, kann das die gesamte Bauzeit einschließlich notwendiger Planung und Vertragsverhandlungen – vom „Wunsch“, ein Kernkraftwerk zu bauen, bis zur Inbetriebnahme – auf rund zehn Jahre begrenzen. Wendet man dieses Verfahren jedoch beim erstmaligen Bau eines Kernkraftwerks (FOAK) an, kann es sehr schnell zu einem wirtschaftlichen Desaster führen. Eindringliches Beispiel hierfür ist die „ewige“ Baustelle des EPR in Finnland.
Auch bei diesem Projekt zeigt sich wieder der grundsätzliche Vorteil von Baustellen mit doppelten Blöcken. Auch die französische Industrie ist nun diesem Weg in Hinkley Point gefolgt. Die gesamte Baustelleneinrichtung, wie zum Beispiel Schwerlastkran, Werkstätten, Unterkünfte und so weiter, halbiert sich automatisch (bezogen auf die spezifischen Kosten). Man kann bei allen Projekten bereits beim zweiten Block eine merkliche Senkung der notwendigen Arbeitsstunden feststellen, da man bereits vor Ort eine geübte und aufeinander eingestellte Truppe im Einsatz hat. Dies gilt um so mehr, je mehr lokale Unternehmen beauftragt werden. So kam man in Ostrovets mit angeblich 3.000 Fachkräften aus.
Am 10. Juli 2016 ereignete sich beim Einbau des Reaktordruckbehälters ein Missgeschick: „Der Behälter rutschte langsam etwa 4 m ab und setzte sanft auf den Grund auf, keine Beschädigung, die Aufhängung am Gehäuse wurde verschoben“, so die offizielle Stellungnahme. Auf Wunsch der weißrussischen Genehmigungsbehörde wurde er durch einen neuen ersetzt. Am folgenden 3. April wurde der für Block 2 vorgesehene Behälter in Block 1 eingebaut. Für den Block 2 wurde der ursprünglich für das Kraftwerk Kaliningrad 2 vorgesehene Reaktordruckbehälter ersatzweise geliefert. An diesem Beispiel erkennt man, wie robust die Strategie einer Serienfertigung ist. Der notwendige Ersatz eines Bauteils mit 36 Monaten Lieferzeit wäre bei einem Einzelprojekt zu einer wirtschaftlichen Katastrophe geworden. So konnte der Fahrplan nahezu eingehalten und im August 2020 die Beladung mit den 163 Brennelementen abgeschlossen werden.
Es ist eine russische Tradition, die nuklearen Abfälle in unmittelbarer Nähe des Kraftwerks zu lagern. Man hat deshalb parallel die Genehmigung für ein Endlager durchgeführt. Die erste Stufe für 10 Millionen US-Dollar soll bis 2028 fertiggestellt sein. Man geht von einer Betriebsdauer des Kernkraftwerks von (erstmal) 60 Jahren aus. In diesem Zeitraum sollen 9.360 m³ feste Abfälle (leicht und mittelaktiv) und 60 m³ hochaktive Abfälle anfallen. Beim Abbruch der Anlage sollen noch einmal 4.100 m³ leicht und mittelaktive Abfälle und 85 m³ hochaktive Abfälle anfallen. Die leicht und mittelaktiven Abfälle sollen dauerhaft lokal gelagert werden. Für die hochaktiven Abfälle wird ein unterirdisches Zwischenlager geschaffen.
Alles sehr umständlich und damit teuer
In Russland werden Druckwasserreaktoren als Wasser/Wasser-Energie-Reaktoren (VVER) bezeichnet. Diesem Kürzel wird die gerundete elektrische Leistung in Megawatt und gegebenenfalls eine Fertigungsnummer angehängt. So ist der VVER-1200 ein Druckwasserreaktor mit rund 1.200 MW elektrischer Leistung. Erst am 8.9.1964 wurde der erste Druckwasserreaktor als VVER-210 im Kraftwerk Novovoronezh kritisch und blieb bis 1984 in Betrieb. 1971 folgte der erste VVER-440 und 1980 der erste VVER-1000. Die beiden letzten Typen wurden auch exportiert (Ukraine, Armenien, Finnland, Bulgarien, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Iran, China).
Alleinstellungsmerkmal aller VVER sind liegende Dampferzeuger und sechseckige Brennelemente. Das grundsätzliche Konstruktionsprinzip wurde bis heute beibehalten und ist ausgereizt. Durch die stetige Leistungssteigerung ergibt sich eine evolutionäre Entwicklung, bei der man die Betriebserfahrungen, technische Weiterentwicklungen (zum Beispiel Werkstoffe) und zusätzliche Sicherheitsanforderungen (Containment, Kernfänger und so weiter) stets in die nächste Baureihe ohne allzu große Entwicklungsrisiken einfließen lassen kann.
Führt man jedoch eine Baureihe über einen solch langen Zeitraum fort, verkompliziert dies irgendwann die Anlage. Dies gilt beispielsweise für die liegenden Dampferzeuger (Durchmesser 4 m, Höhe 5 m, Länge 15 m, Gewicht 340 t). Stehende Pumpen, Druckbehälter und so weiter mit liegenden Dampferzeugern zu verbinden, führt zu einer sehr unaufgeräumten Konstruktion mit langen und verschlungenen Rohrleitungen. Dies erschwert Wartung und Wiederholungsprüfungen. Das Reaktordruckgefäß wächst auch mit steigender Leistung.
Durch die Beibehaltung der Grundkonstruktion mit zwei Anschlussebenen (vier Rücklauf- und vier Vorlaufleitungen plus Noteinspeisung) besteht das Druckgefäß aus sechs geschmiedeten Ringen und einer Kalotte. Die Schweißarbeiten am oberen und unteren Teil dauern jeweils 15 Tage bei einer Temperatur von 200°C. Anschließend muss jede Hälfte noch bei 300°C geglüht werden, um die Spannungen in den Nähten zu verringern. Nachdem beide Hälften in einem weiteren Schritt zusammengeschweißt wurden, muss das gesamte Gefäß noch komplett mit einer korrosionsbeständigen Legierung plattiert werden. Alles sehr umständlich und damit teuer. Die Fertigungszeit beträgt deshalb etwa 36 Monate.
Hintergründe
Weißrussland ist als selbstständiger Staat aus der Auflösung der Sowjetunion hervorgegangen. Es ist ein relativ kleines und dünn besiedeltes Land mit knapp 60 Prozent der Fläche von Deutschland, aber nur 10 Millionen Einwohnern. Durch die enge Verknüpfung der Wirtschaft in der ehemaligen Sowjetunion – die bis heute noch nicht überwunden ist – kommt praktisch die gesamte Kohle, das Rohöl und Erdgas immer noch aus Russland. Diese extreme Abhängigkeit hat immer wieder zu Spannungen zwischen beiden Ländern geführt.
Vereinfacht kann man sagen, dass Putin-Russland immer wieder versucht hat, durch angedrohte Preiserhöhungen und Lieferunterbrechungen, Weißrussland seinen Willen aufzudrücken – umgekehrt hat Weißrussland versucht, seine „Kosten“ durch Erhöhung von Transitgebühren erträglich zu halten. Insofern sind die Ostsee-Pipeline und das Kernkraftwerk Ostrovets unmittelbare Produkte dieses Konflikts. Russland musste Weißrussland ein Kernkraftwerk bauen und vorfinanzieren, sonst hätte es Weißrussland durch den Bau der Ostsee-Pipeline unweigerlich in die Arme des „Westens“ getrieben. Ein weiterer Satellitenstaat wäre dem „roten Zaren“ – wie schon vorher die Ukraine – davongelaufen.
Ein Kernkraftwerk entzieht sich weitestgehend politischer Erpressbarkeit: Wegen der außerordentlichen Energiedichte von Uran kann es für Monate und Jahre ohne neue Brennstofflieferungen betrieben werden. Auch ein russisches Kernkraftwerk stellt heute kein Problem mehr da. Es gibt für die Reaktoren heute Brennelemente von verschiedenen Herstellern außerhalb der russischen Einflusssphäre. Auch die Versorgung mit Ersatzteilen und „Know-how“ ist nicht unbedingt ein Problem. Eine enge Kooperation mit der Ukraine, Finnland und so weiter kann im Ernstfall helfen – es haben schließlich all diese Länder ein Problem mit russischer Technik und Politik.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Klaus-Dieter Humpichs Blog Nuke-Klaus.