Während die neuen "Meldestellen" staatlich protegierter Zensoren die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen, wird dahinter fast unbemerkt eine Paralleljustiz außergerichtlicher Streitbeilegungsstellen geschaffen.
Nicht nur in Deutschland, sondern In der ganzen EU wird derzeit auf Grundlage der EU-Verordnung 2022/2065 (DSA = Digital Service Act bzw. Gesetz über digitale Dienste) eine digitale Paralleljustiz aufgebaut. Außergerichtliche Streitbeilegungsstellen knüpfen an die Tätigkeit der Meldestellen an und treten neben das hergebrachte Justizsystem.
Im Vordergrund der Berichterstattung über das DSA stehen bisher die Meldestellen (vertrauenswürdige Hinweisgeber bzw. "trusted flaggers"), die in Deutschland von der Bundesnetzagentur auserkoren werden. Sie sollen angebliche illegale Inhalte, angebliche Desinformation und Hass und Hetze Internet an die Online-Plattformen melden. „Angeblich“ natürlich deshalb, weil in sehr vielen Fällen diese Meldestellen allenfalls mutmaßen können, ob etwas illegal, Desinformation, Hetze ist. Die erste Zertifizierung ging an die Meldestelle „REspect“ der Jugendstiftung Baden-Württemberg (siehe Die Netzagentur als neue Zensurbehörde). Deren Vertrauenswürdigkeit ist inzwischen auf dem Tiefstpunkt angekommen (siehe zum Beispiel hier oder hier). Weitere elf Stellen stehen zur Zertifizierung an.
So richtig es ist, diese erste Ebene des neuen Zensursystems ins Visier zu nehmen, auch die zweite Ebene bedarf der kritischen Würdigung. Auf der zweiten Ebene arbeiten die neuen außergerichtlichen Streitbeilegungsstellen. Sie werden ebenfalls von der Bundesnetzagentur zertifiziert und haben die Aufgabe, Streitigkeiten darüber zu entscheiden, ob eine Online-Plattform den Beitrag eines Nutzers oder dessen Profil zu Recht gelöscht bzw. gesperrt hat oder eine solche Maßnahme zu Recht unterlassen hat.
Die Arroganz der neuen „Justitia“
Als erste außergerichtliche Streitbeilegungsstelle wurde in Deutschland die User Rights GmbH zertifiziert. Diese rein privatwirtschaftliche GmbH ist eine aktuelle Neugründung zum Zwecke des Betriebs einer solchen Streitbeilegungsstelle. Die drei Gesellschafter (jeweils mittels zwischengeschalteter GmbH bzw. UG) lassen sich der linken Szene zurechnen: Stephan Breidenbach, Jurist, aktiv in dem Klimaverein „German zero“ und Mitautor eines Gesetzespakets der Grünen zur Einhaltung des 1,5-Grad-Klimaziels. Raphael Kneer, Anwalt und nach Nius-Angaben SPD-Mitglied und von Renate Künast (Grüne) beeindruckt wegen ihrer Mitgestaltung der Digitalpolitik. Niklas Eder, ehemals Assistent eines SPD-Bundestagsabgeordneten und Seminarleiter der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Entscheidungspraxis dieser Streitbeilegungsstelle vorherzusagen, dürfte nicht allzu schwerfallen.
Der Geschäftsführer der User Rights GmbH, Kneer, schreibt über seine neue Firma: „Mit User Rights sind wir ab sofort für Teile des deutschen Strafrechts zertifiziert … und bearbeiten u.a. (mutmaßliche) Verstöße, die den demokratischen Rechtsstaat gefährden, Straftaten gegen die öffentliche Ordnung und vielfältige Beleidigungsdelikte.“ In grotesker Selbstüberhöhung sehen sie sich also quasi als Bewahrer des demokratischen Rechtsstaats und der öffentlichen Ordnung. So reden üblicherweise von sich eingenommene Aktivisten, nicht (im Rahmen des Möglichen) persönliche Überzeugungen hintanstellende Richter.
Wie funktioniert die neue Paralleljustiz?
Auf der ersten Ebene nimmt die Meldestelle (trusted flagger) Hinweise aus der Bevölkerung über angebliche Missstände im Internet entgegen und kann es auch selbst nach solchen Missständen durchsuchen. Die „Bevölkerung“ wird in der Praxis natürlich nicht der „Normalbürger“ sein, sondern der Aktivist aus den tausenden sogenannten NGOs, der Behördenmitarbeiter, Journalist und Politiker bzw. dessen Mitarbeiter. Also die, die viel Zeit haben und ganz oder weitgehend aus Steuermitteln alimentiert werden.
Gemeldet werden kann eigentlich alles: von tatsächlichen bzw. vermeintlichen Straftaten, über tatsächliche bzw. vermeintliche Falschinformationen bis hin zu verletzten Gefühlen (Hassrede). Nur zur Klarstellung: Entgegen so mancher Falschbehauptung betrifft das sowohl illegale/rechtswidrige Inhalte als auch legale Inhalte. Erwägungsgrund (5) und (68) des DSA sprechen wörtlich von „rechtswidrigen oder anderweitig schädlichen Informationen bzw. Online-Inhalten“. Ebenso lässt der Leitfaden der Bundesnetzagentur neben der strafbaren Verleumdung auch die nicht strafbare „Hassrede“ sowie „negative Auswirkungen auf den zivilen Diskurs“ genügen.
Die Meldestelle leitet die Hinweise an die Online-Plattformen weiter, die dann in kürzester Zeit entscheiden müssen, wie sie damit umgehen, also ob sie zum Beispiel den Artikel/Tweet löschen, dessen Reichweite beschränken, einen Nutzer sperren oder nicht. Die Entscheidungen der Plattformen unterliegen der Beschwerde, die Plattformen müssen dazu ein internes Beschwerdemanagement bereitstellen.
Egal wie die Online-Plattform im konkreten Fall entscheidet: Eine Seite wird immer damit nicht einverstanden sein. Beide Seiten haben dann die Möglichkeit, sich an eine außergerichtliche Streitbeilegungsstelle zu wenden. Diese führt dann ein gerichtsähnliches Verfahren durch, um die Rechtmäßigkeit der Löschung/Sperre beziehungsweise des Unterlassens solcher Maßnahmen zu überprüfen.
Kostenlos kann teuer werden
Für die Nutzer der Online-Plattformen und für die Meldestellen/Informanten ist die Anrufung der Streitbeilegungsstelle kostenlos oder gegen eine Schutzgebühr möglich. Die Online-Plattformen tragen also in jedem Fall die Kosten der Streitbeilegungsstelle; und natürlich auch ihre eigenen Verwaltungskosten, die mit der Bearbeitung solcher Fälle naturgemäß verbunden sind. Der Haken dieser – nur dem ersten Anschein nach – nutzerfreundlichen Kostenregelung: Die Online-Plattformen müssen zusehen, dass dort möglichst wenige Verfahren anhängig gemacht werden. Und das geht nur, wenn sie in möglichst vielen Fällen der Meldestelle Recht geben, gerade auch in unklaren Fällen. Denn die Nutzer werden häufig den Zeit- und Kostenaufwand scheuen, ein solches Verfahren zu betreiben. Im Gegensatz zu den Nutzern haben die Meldestellen genug Zeit, Mitarbeiter und Geld (sie werden ja vom Staat finanziert, siehe Meldestelle REspect), um solche Verfahren durchzuführen, wenn die Online-Plattform der Aufforderung zur Löschung/Sperre nicht nachkommt.
Wirklich „kostenlos“ ist das Verfahren für die Nutzer im Regelfall ohnehin nicht. Sie sind nämlich regelmäßig nicht mit den Feinheiten der juristischen Materie vertraut und werden zumeist auch im Streitbeilegungsverfahren die Hilfe eines Anwalts benötigen – und der kostet, egal ob die Sache bei einem ordentlichen Gericht oder einer Streitbeilegungsstelle anhängig ist; da sind die die Gerichtsgebühren oft der geringste Kostenfaktor. Zudem dürften die wenigsten Nutzer genügend Zeit haben, solche Verfahren durchzuführen und gegebenenfalls umfangreiche Schriftsätze zu prüfen und selbst zu erstellen. Im Grunde unterscheiden sich die normalen Gerichtsverfahren und die Streitbeilegungsverfahren nicht sehr: Es gibt in beiden Fällen Verfahrens- und Kostenordnungen. Nur dass jede Streitbeilegungsstelle ihre eigenen Ordnungen hat, was die Sache selbst für Anwälte nicht gerade erleichtert.
Hände weg von den Streitbeilegungsstellen
Und dann gilt natürlich: Selbst wenn der Nutzer am Ende Recht erhalten sollte: Was nützt ihm die Freischaltung seines Beitrags oder Profils Wochen oder Monate später? Wenn er denn überhaupt Recht erhält; denn welches Recht werden die „Streitbeilegungs-Aktivisten“ wohl sprechen? Da dürften die Erfolgsaussichten bei einem ordentlichen Zivilgericht trotz allem höher sein.
Wie dargestellt, kann im umgekehrten Fall (also wenn die Online-Plattform eine Löschung/Sperrung ablehnt) sich auch die Meldestelle oder der Informant an die Streitbeilegungsstelle wenden. Das Infame daran: Es streiten sich dann Meldestelle und Online-Plattform über einen Nutzer oder dessen Beitrag, der betroffene Nutzer bleibt außen vor; es ist nicht vorgesehen, ihn am Verfahren zu beteiligen. Und selbst wenn man ihn beteiligen würde: Es gilt dann das soeben Gesagte – wer hat schon genug Geld und Zeit, da mitzumachen?
Ohne die Streitbeilegungsstellen, aber mit (den allerdings ebenfalls abzulehnenden) Meldestellen würde es anders laufen: Die Meldestelle müsste dann gegen die Online-Plattform bei einem ordentlichen Gericht klagen, der Nutzer würde vom Gericht am Verfahren beteiligt, und die Meldestelle müsste im Unterliegensfalle nicht nur die Gerichtskosten, sondern auch die Anwaltskosten der Online-Plattform und des Nutzers tragen. Dieses Risiko, das auch für steuerfinanzierte Meldestellen ein Problem darstellt, entfällt im neuen Parallel-Justizsystem.
Auch die privatwirtschaftlichen Streitbeilegungsstellen wollen Geld verdienen und Gewinn machen. Schließlich wollen auch – oder gerade – Aktivisten gut leben. Der DSA hat aber eigentlich etwas dagegen. Denn er regelt, dass die von den Streitbeilegungsstellen erhobenen Gebühren angemessen sein müssen und nur die Kosten decken dürfen, die der Stelle entstehen. Das würde bedeuten, dass die Streitbeilegungsstellen keinen Gewinn machen dürften und bei der kleinsten unvorhergesehenen Zusatz-Ausgabe insolvent wären.
Wie wird dieser Widerspruch aufgelöst? Zum einen ist Vorgabe einer Kostendeckelung nur eine dieser typischen Vernebelungsregelungen. Denn zu den Kosten einer Streitbeilegungsstelle gehören auch das gegebenenfalls sechsstellige Jahresgehalt der Geschäftsführer und führenden Mitarbeiter, deren Pensionsversicherung und Fuhrpark und so weiter und so weiter. Wie für gemeinnützige Gesellschaften schon desöfteren beschrieben, lassen sich Gelder leicht in die eigene Tasche der Gesellschafter transferieren; der Kreativität in der Generierung von „Kosten“ sind da kaum Grenzen gesetzt.
Das heißt, man kann selbst mit einer Kostendeckelung gut klarkommen. Außerdem wird die Bundesnetzagentur wohl nicht so genau hinsehen. So hat die User Rights GmbH eine Gebührenordnung erlassen, wonach sich Gebühren für ein Verfahren von 206 € bis 700 € netto ergeben, die von den Online-Plattformen zu tragen sind (siehe oben). Das sind gerichtsübliche Gebühren. Wie lukrativ das ganze am Ende für die Streitbeilegungsstellen sein wird, bleibt abzuwarten: Die Masse wird’s wohl machen. Diese Gebühren sollen zwar jährlich neu kalkuliert werden. Aber man müsste schon sehr naiv sein, anzunehmen, dass die Streitbeilegungsstellen einen etwaigen Gewinn zurückzahlen.
Juristen wieder mal Teil eines Zensur- und Einschüchterungssystems
Im Ergebnis hat der EU-Gesetzgeber unter Mitwirkung der deutschen Regierung mit den Streitbeilegungsstellen ein aus Nutzersicht unfaires Verfahrens- und Anreizsystem geschaffen.
1. Die „Richter“ solcher Streitbeilegungsstellen werden der Natur der Sache entsprechend zumeist aktivistisch geprägt und wenig kritisch gegenüber den derzeit vorherrschenden Regierungsnarrativen sein.
2. Da die Online-Plattformen auch im Erfolgsfalle die Kosten zu tragen haben, sind sie daran interessiert, so wenig Verfahren wie möglich führen zu müssen; sie werden also im Sinne der Meldestellen Löschungen und Sperren vornehmen, da viele Nutzer, nicht aber die Meldestellen, den Zeit- und Kostenaufwand eines Verfahrens scheuen werden.
3. Wenn sich eine Online-Plattform einem Ansinnen nach Löschung/Sperre widersetzt und die Meldestelle dagegen bei der Streitbeilegungsstelle Beschwerde einlegt, ist der betroffene Nutzer am Verfahren gar nicht beteiligt.
4. Das hat mit Rechtsstaat nicht wirklich etwas zu tun. Hier entsteht außerhalb desselbigen eine – nutzerfeindliche – Paralleljustiz. Nutzern sei daher trotz aller Kritik am bestehenden Rechtssystem angeraten, sich weiterhin an die ordentliche Gerichtsbarkeit zu wenden.
Selbst wenn die Protagonisten solcher Streitbeilegungsstellen persönlich über jeden Zweifel erhaben wären: Sie sind Teil eines Kampfes gegen die Meinungsfreiheit, Teil eines neuen europäischen Zensur- und Einschüchterungssystems; und es ist „erschreckend“, dass sie sich dafür hergeben und darüber nicht einmal zu reflektieren scheinen (siehe Zitat oben). Aber das haben sie leider mit vielen Juristen von früher und heute gemeinsam.
Ansgar Neuhof, Jahrgang 1969, ist Rechtsanwalt und Steuerberater mit eigener Kanzlei in Berlin.