Von Ansgar Neuhof.
Als kürzlich Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) im Inforadio des rbb offen eingeräumt hat, die Polizeistatistik seines Landes sei verfälscht, da unaufgeklärte Straftaten den rechtsextremistischen Delikten hinzugezählt werden, stellte sich sogleich die Frage, wie es eigentlich Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und sein Verfassungsschutz damit halten. Daher nachfolgend eine kurze Betrachtung des Verfassungsschutzberichts 2015. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Es ist weit schlimmer als gedacht.
1. Das Vorwort: verzerrte Propaganda statt sachbezogener Interpretation
Schon das Vorwort zeigt, daß es nicht um Sachlichkeit geht, sondern um Propaganda. De Maizière schreibt wörtlich: „Doch auch der enorme Anstieg rechtsextremistischer Gewalt ist alarmierend: Rechtsextremistische motivierte Straf- und Gewalttaten gegen Asylbewerberunterkünfte haben sich im Jahr 2015 gegenüber dem Vorjahr verfünffacht.“ Ein Wort zu den linksextremistischen Straf- und Gewalttaten fehlt.
Die beiden (durch den Doppelpunkt verbundenen) Sätze und das Weglassen einer Aussage zu den linksextremistischen Taten kann man bestenfalls als irreführend bezeichnen. De Maizière suggeriert nämlich, daß rechtsextremistische Gewalttaten um mehr als 500 Prozent gestiegen seien, obgleich diese Steigerung sich auf den Bereich der Taten gegen Asylbewerberheime beschränkt. Der Anstieg rechtsextremistischer Gewalttaten insgesamt beträgt „nur“ 42,2 Prozent (siehe S. 26 des Berichts) und ist damit geringer als bei den linksextremistischen Gewalttaten, die um 61,6 Prozent gestiegen sind (siehe S. 31 des Berichts); doch über Letzteres schweigt de Maizière.
Es hätte den aufgeführten statistischen Daten laut Verfassungsschutzbericht entsprochen, wenn de Maizière sinngemäß geschrieben hätte, daß sowohl linksextremistische als auch rechtsextremistische Gewalttaten stark gestiegen sind (linke noch mehr als rechte), wobei unter den rechtsextremistischen Taten diejenigen gegen Asylbewerberheime eine besonders starke Zunahme von mehr als 500 Prozent erfahren haben.
2. Erstaunlich unpräzises Datenmaterial und untaugliche Beispiele
Doch selbst das wäre noch nicht die Wahrheit gewesen. Sieht man sich nämlich das Zahlenmaterial an, so ist erstaunlich, wie dünn und unpräzise die veröffentlichten Zahlen sind. Laut Seite 28 des Berichts gab es 75 rechtsextremistische Brandanschläge gegen Asylbewerberunterkünfte. Das ist ja nun eine durchaus noch überschaubare Anzahl, so daß man erwarten kann, daß in dem Bericht mitgeteilt wird, wie viele dieser 75 Taten aufgeklärt sind, bei wie vielen der Taten ein rechtsextremistischer Hintergrund lediglich vermutet wird und ob die Vermutung gegebenenfalls gut begründet ist (zum Beispiel aufgrund eines als glaubhaft eingestuften Bekennerschreibens oder anderer starker Indizien). Doch daran fehlt es vollständig.
Allerdings läßt der Verfassungsschutzbericht den Leser insoweit nicht ganz allein. Auf Seite 50/51 des Berichts werden zumindest vier (!) Beispiele für Brandanschläge genannt. Bei dreien davon läßt sich ein rechtsextremistischer Hintergrund anhand der im Internet zugänglichen Zeitungsartikel wohl bejahen, zumindest wenn man es als rechtsextremistisch ausreichen läßt, daß sich Betrunkene ohne extremistische Vergangenheit bei rechtsextremistischer Musik aufgeputscht und einen Anschlag ausgeführt haben. Doch das vierte Beispiel - Freiberg (Sachsen) am 13.02.2015 - erstaunt: Im Verfassungsschutzbericht wird kein (möglicher) Täter genannt, auch in der Presse finden sich - soweit diesseits ersichtlich - keine näheren Täter-Angaben. Über den/die Täter ist also offenkundig nichts bekannt. Folglich ist Freiberg ein untaugliches Beispiel.
3. Alle unaufgeklärten Taten als rechtsextremistisch einzustufen
Trotz unbekannter Täter wird diese Tat den rechtsextremistischen Taten zugerechnet. Das unlautere Prinzip Woidke, wonach alles, was nicht aufgeklärt ist, erst mal den Rechtsextremen zugeordnet wird, gilt also auch auf Bundesebene.
Üblicherweise ist es ja so, daß man bei der Nennung von Beispielen solche Beispiele auswählt, die das mitgeteilte Ergebnis belegen, also solche, die quasi „wasserdicht“ sind. Der Verfassungsschutz schafft es jedoch gerade einmal, drei mehr oder weniger taugliche Beispiele für rechtsextremistische Brandanschläge zu finden, schon das vierte taugt nichts mehr. Da fragt man sich, was mit den anderen 71 Brandanschlägen auf Asylbewerberheime ist. Taugt keine dieser Taten als Beispiel? Sind die vier genannten Beispiele schon das beste und aussagekräftigste, was man vorweisen kann? Darauf gibt der Verfassungsschutzbericht keine Antwort.
Immerhin ist bekannt, daß viele Brände auch von Bewohnern selbst gelegt werden, sei es fahrlässig, sei es absichtlich (wie zum Beispiel in Bingen am 07.04.2016, als ein syrischer Bewohner einen Brand legte und noch dazu Hakenkreuze an die Wände malte), genauso wie es bekanntlich Versicherungsbetrügereien oder sonstige Motivationen gibt (wie zum Beispiel ein Kampf um die Vorherrschaft von Sicherheitsfirmen beim Handgranatenanschlag am 29.01.2016 in Villingen-Schwenningen). In beiden genannten Fällen wurde in pawlowscher Manier ein rechtsextremer Hintergrund von Politikern und Medien behauptet, in Bingen fand sogar noch nach Bekanntwerden des wirklichen Täters eine Mahnwache „gegen Rechts“ statt.
4. Mit den Augen die Staatsangehörigkeit erkennen?
Neben den Brandanschlägen auf Heime geht der Verfassungsschutzbericht 2015 auch auf sonstige Angriffe auf Zuwanderer ein. Ganze zwei (!) Beispiele führt der Bericht auf Seite 51/52 an. Das eine Beispiel ist besonders interessant. Es handelte sich um einen Streit in der Straßenbahn mit Somalis, der eskalierte und mit einem Messerangriff auf einen Somali endete. Auch hier sind die Täter unbekannt, aber sie werden im Bericht immerhin als wörtlich „augenscheinlich deutsche Staatsangehörige“ bezeichnet. Die Staatsangehörigkeit einer Person am äußeren Anschein festmachen – daß sich der Verfassungsschutz nicht schämt, so etwas zu schreiben. Dem Verfassungsschutz ist offenbar entgangen, daß es unter den deutschen Staatsangehörigen Personen ganz unterschiedlicher Abstammung gibt, ja sogar solche somalischer Abstammung. Ohnehin fragt man sich, wie die Opfer (zugewanderte Somalis) deutsche Staatsangehörige oder gegebenenfalls Deutschstämmige unterscheiden können von zum Beispiel Belgiern oder Tschechen.
Und auch hier wieder die Frage: Ist ein eskalierender Streit zwischen Zuwanderern und Personen „augenscheinlich deutscher Staatsangehörigkeit“ ein taugliches Beispiel für Rechtsextremismus? Gibt es wirklich keine besseren Beispiele unter den versuchten Tötungs- beziehungsweise Körperverletzungsdelikten?
5. Verfassungsschutzbericht ungeeignet als Entscheidungsgrundlage für politisches Handeln
Im Ergebnis ist der Verfassungsschutzbericht in der jetzigen Form schlicht ungeeignet, politische Schlußfolgerungen und Handlungen zu begründen. Er wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Denkbar ist gleichermaßen, daß alle weiteren, nicht mit Beispielen unterlegten Taten im Verfassungsschutzbericht 2015 rechtsextremistisch motiviert sind oder auch keine oder teils/teils. Die Beispiele im Bericht sind teilweise untauglich, das dargestellte Ergebnis zu belegen, und der Bericht gibt keine Auskunft, warum gerade die geschilderten Beispiele ausgewählt worden sind und warum aus ihnen Rückschlüsse für die übrigen Taten gezogen werden können. Der Bericht verschweigt überdies, bei wie vielen der statistisch erfaßten Gewalttaten ein rechtsextremistischer Hintergrund erwiesen ist und bei wie vielen nicht.
Auf den 317 Seiten des Berichtes wäre es ohne weiteres möglich gewesen, zumindest die schwersten Gewalttaten (also Brandanschläge und versuchte Tötungen) im einzelnen mit Ort und Datum und erwiesenem beziehungsweise. mutmaßlichem Täter stichpunktartig aufzulisten, um interessierten Bürgern und Medien zu ermöglichen, anhand allgemein zugänglicher Quellen selbst zu prüfen, welche Tat rechtsextremistisch motiviert war und welche nicht. So bleibt alles im Ungefähren. Der Verfassungsschutzbericht 2015 hält die Bürger dumm und macht es ihnen unmöglich, sich ein eigenes Bild zu machen.
Der Vollständigkeit halber ist zu sagen, daß die Statistiken in Bezug auf die linksextremistischen Straftaten genauso unzulänglich sind. Auch hier erfährt man nicht, ob die Taten (zum Beispiel die 69 Brandanschläge) aufgeklärt sind oder ein linksextremistischer Hintergrund nur vermutet wird.
Insofern bleibt festzuhalten, daß es vielleicht sein könnte, daß die in den Statistiken erfaßten Taten von Links- beziehungsweise Rechtsextremisten begangen worden sind, es vielleicht aber auch anders sein könnte. Der Verfassungsschutzbericht ist keine geeignete Quelle, um hierzu eine verläßliche Aussage treffen zu können. Er ist schlicht unseriös. Wenn man auf Basis von Statistiken Politik macht und unzählige Millionen Steuergelder verausgabt, dann muß die Qualität des Datenmaterials als Grundlage der Entscheidungsfindung stimmen. Daran fehlt es beim Verfassungsschutzbericht 2015.
Ansgar Neuhof , Jahrgang 1969, ist Rechtsanwalt und Steuerberater mit eigener Kanzlei in Berlin.