Recycling, Crowdfunding und nachhaltige Fischerei – das alles gab's schon in vormodernen Zeiten. Sagt Frau Prof. Dr. Annette Kehnel. Und die ist Historikerin und kennt sich aus.
Bis vor 24 Stunden sagte mir der Name auch nichts, und die entsprechende Person dahinter sprach nicht zu mir und so hätte es auch bleiben können, denn dann hätte ich diesen Artikel bleiben lassen können. Aber nein – BR24, der Leib- und Magensender von Markus Söder, dem Unvermeidlichen, musste ja Prof. Dr. Annette Kehnel dringend zu ihrem neuen Buch „Wir konnten auch anders“ interviewen.
Gleich zu Anfang stellt Frau Prof. Dr. Kehnel klar: „Ich bin Historikerin, ich kenne mich da aus!“ Nur falls jemand an ihren Worten zweifeln möge und sich denkt, dass sie sich nicht auskennt. Ich gebe zu, ich habe das Buch nicht gelesen und ich habe auch nicht vor, das zu tun, denn wie die Historikerin ausführt, waren im Mittelalter viele Dinge, die wir heute als „Nachhaltigkeit“ propagieren, bereits bekannt. Weswegen die mittelalterlichen Gesellschaften insgesamt klimaneutraler waren, was auch kein Kunststück ist, wenn die Bevölkerung alle drei Generationen durch Seuchen oder Krieg wieder halbiert wird. Aber so fies will ich erst einmal nicht sein, ich bin kein Historiker und ich kenne mich nicht aus. Was ich hörte, hat mir auch vollumfänglich gereicht.
Frau Kehnel führt aus, dass beispielsweise in den mittelalterlichen Klöstern in ganz fantastischer Weise Menschen bedürfnislose Kollektive in Bescheidenheit gebildet haben, trotzdem aber die Klöster meist sehr reich und erfolgreich waren. Dies ist für Frau Kehnel der Beweis, dass Kollektive durchaus in der Lage sind, Wohlstand zu schaffen. „Für wen?“, hat sie sich anscheinend nicht getraut zu fragen. Mit der gleichen Argumentation ließe sich auch die Sklaverei als „effektive Kollektivierung“ feiern, auch da hatten die Sklaven kaum Rechte, trotzdem war ihr Besitzer in der Regel recht wohlhabend. Frau Kehnel hat in ihrer Beobachtung anscheinend vollkommen ausgeblendet, dass nicht jede Nonne und jeder Mönch ganz freiwillig in den Klöstern war, sondern dies oft die einzige Möglichkeit war, den Nachstellungen der Familie oder der Gesellschaft zu entgehen und sich einem eher mehr als weniger strengen Regelwerk zu unterwerfen. Sehr zur Freude der katholischen Kirche, die den Gewinn der Klöster und der entsprechenden Schenkungen einfach behielt. Wasser und Brot für die Mönche, Wein und Fleisch für Adel und Klerus.
Gendergerechte Sprache im Mittelalter?
Frau Kehnel schwärmt auch davon, wie nachhaltig die Menschen lebten. Ja, ganze Branchen lebten von Nachhaltigkeit! Scherenschleifer, Kesselflicker, Flickschuster … „Second-Hand-Stände“ auf den mittelalterlichen Märkten … Toll oder toll?! Dass die Menschen des Mittelalters schlicht zu arm waren, kaputte Dinge durch neue, bessere Gegenstände und Technologien zu ersetzen, spielt in der Betrachtung der sich auskennenden Historikerin ebenso wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass Scherenschleifer, Kesselflicker und Flickschuster nicht gerade die Cremé de la Cremé der sozialen Schichten abbildeten, sondern sich, ebenso wie ihre Kunden, meist gerade so über Wasser halten konnten. Es hatte einen Grund, warum man beispielsweise den Leichen auf den Schlachtfeldern die Kleidung auszog. Und ich bin sicher – die Mehrheit der „Second Hand“-Käufer hat lieber mal nicht danach gefragt, woher das hübsche Leinenhemd mit den „Erdbeerflecken“ kam …
Und die Ernährung erst! Ein Großteil der Gesellschaft lebte vegan! Ist das nicht grandios? Jeden Tag gab es lecker Hirsebrei mit etwas Brot. Dass sich die meisten Menschen kein Fleisch leisten konnten, weil beispielsweise das Jagdrecht und die großen landwirtschaftlichen Höfe fest in Fürsten- und Junkerhand waren – egal. Dass es nur deswegen eine „florierende Tauschwirtschaft“ gab, weil es schlicht an Gütern mangelte – wurstegal. „Nachhaltig“ war es, darauf kommt es an. Außerdem benutzte man im Mittelalter bereits „gendergerechte Sprache“, wie Frau Kehnel nachweist, denn Frauen waren auch in höchsten Positionen tätig … Gut, vielleicht nicht als Bischöfin, aber als Fürstin oder Königin ging das durchaus, wenn die Verheiratung die richtige Partie war. So gesehen, gab es also tatsächlich eine Frauenquote, wenn der männliche Nachwuchs einer Dynastie sichergestellt werden sollte. Aus dem Stegreif fällt mir nur eine einzige Frau ein, die im Mittelalter durch eigene Leistung Karriere vom Bauernmädchen zur Heerführerin machte: Johanna von Orleans – und auch da dauerte es ja nicht lange bis zu einem kirchlichen Barbecue auf dem Dorfplatz.
„Notwendiges Regulativ zur Überbevölkerung"
Im Grunde will Frau Prof. Dr. Kehnel den Nachweis erbringen, dass Nachhaltigkeit keine neue Idee ist, sondern schon seit knapp 1.000 Jahren existiert. Dass diese spezielle Art der mittelalterlichen Nachhaltigkeit nicht aus Umweltgedanken oder Klimaschutzaspekten, sondern aus bitterster Armut und Not resultierte, blendet Frau Kehnel dabei vollkommen aus. Mit einer derartigen Sichtweise lassen sich Hunger und Pest auch als „notwendiges Regulativ zur Überbevölkerung“ deklarieren. Ähnlichkeiten zu heute sind zufällig und voll beabsichtigt.
Am Schluss ihres Interviews hat Frau Kehnel noch eine kleine Anekdote parat: Nach ihrer ersten Fahrt mit dem „Patent Motorwagen Nummer 3“ ihres Mannes Carl soll Bertha Benz gesagt haben, das Fahrzeug mache Krach und stänke abscheulich. Sicher wäre sie 130 Jahre nach ihrer Fahrt überrascht, dass die Menschheit immer noch den Verbrenner als Antrieb nutzt und keiner auf eine bessere Idee kam. Dann lacht Annette Kehnel.
Ich hingegen glaube, Bertha Benz wäre überrascht, wie sauber, leise und schnell sich die Erfindung ihres Mannes heute verhält. Und ich bin sehr sicher – vor die Wahl gestellt, den Kollektivismus und die „Nachhaltigkeit“ des Mittelalters mit der Freiheit und der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts zu tauschen – das Mittelalter wird zweiter Sieger bleiben. Es war gar nicht schön da, im Mittelalter. Wir haben ja nicht ohne Grund Zuwanderung aus mittelalterlichen Gesellschaften. „Wir“ „konnten“ nicht „auch anders“ – „wir“ mussten! Aber, zugegeben: ich bin kein Historiker. Ich kenne mich da nicht aus.
(Weitere unhistorische Betrachtungen des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.