Die Brandmauer wird weiter gehalten, offenbar auch um den Preis weiterer inhaltlicher Selbstaufgabe, die am Ende weitere bürgerliche Wähler politisch heimatlos werden lässt.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat es geschafft. Er hat eine Entscheidung, die eigentlich er alleinverantwortlich zu fällen hätte, an die beiden Fraktionsvorsitzenden von CDU und SPD, Merz und Mützenich, delegiert. Die sollten aushandeln, wann der Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellt und wann dann neu gewählt wird. Statt den verstaubten Regeln des Grundgesetzes zu folgen, wird das heutzutage in einer Art temporärer Großer Koalition ausgehandelt.
Warum durften Grüne und FDP da nicht mitreden? Von der AfD müssen wir gar nicht anfangen, denn die soll ja von jeder Entscheidung ferngehalten und hinter die Brandmauer gesperrt werden. Und die zwiegespaltenen SED-Erben haben jeweils keinen Fraktionsstatus mehr.
Mancher Beobachter nahm vielleicht etwas merkwürdig berührt zur Kenntnis, dass die Fraktionsvorsitzenden hier Termine festlegten, die nicht nur den Kanzler auf einen Vertrauensfragen-Zeitpunkt verpflichteten, sondern de facto gleich noch dem Bundespräsidenten aufgaben, wie und bis wann er den noch nicht einmal gestellten Antrag auf Auflösung des Bundestags zu entscheiden hat.
Eigentlich hat der Präsident nach der Vertrauensfrage-Abstimmung und dem Antrag des Kanzlers 21 Tage Zeit, zu entscheiden, ob der Bundestag aufgelöst wird. Doch Frank-Walter Steinmeier muss sich jetzt an einen Zeitplan halten, den Merz und Mützenich vorgeben, damit der Wahltermin am 23. Februar 2025, den sie ausgehandelt haben, gehalten werden kann.
Dieser Bundespräsident lässt sich von den temporären Großkoalitionären sicher widerspruchslos verplanen. Um dem Ganzen dennoch den fahlen Abklatsch von Respekt gegenüber dem Präsidentenamt zu verleihen, empfing Steinmeier Merz und Mützenich am frühen Abend im Schloss Bellevue, um sich ihren Plan vorlegen zu lassen. Anschließend erteilte er seinen Segen.
Zeichen von Transparenz?
Die Vorplanung solcher Abläufe ist natürlich beileibe nicht neu, nur die Wurstigkeit, mit der man darauf verzichtet, wenigstens etwas mehr die Form zu wahren.
Man kann es auch für ein Zeichen von Transparenz halten, wenn den Bürgern unverhohlen vor Augen geführt wird, was der Kanzler und seine Partei dafür bekommen, dass die rot-grüne Restregierung auf ein paar Wochen Restlaufzeit verzichtet. Zumindest dürfte kaum ein Beobachter glauben, dass die plötzliche Bereitschaft der CDU/CSU-Fraktionsführung, etlichen rot-grünen Gesetzesvorhaben noch bis zum Regierungsende zu einer Mehrheit und damit zur Geltung zu verhelfen, nichts mit den Verhandlungen über den Neuwahl-Termin zu tun hat.
Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der christdemokratischen Fraktion, Thorsten Frei, habe als Beispiel die geplanten Gesetze zur Stärkung des Bundesverfassungsgerichts und zur Verlängerung der Telefonüberwachung genannt, meldete n-tv.de. Außerdem wäre die Union gewillt, die Bundestagsmandate für vier Auslandseinsätze der Bundeswehr zu verlängern.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt äußerte sich entsprechend. Nach seinen Worten wolle die Union eine "Positivliste" mit Projekten erarbeiten, die noch vor der Wahl durchs Parlament gebracht werden müssten. Dazu zähle ein "Comeback-Plan für die Wirtschaft", der das Vertrauen in den Wirtschaftsstandort Deutschland festigen solle. Auch die Migrationsfrage dulde keinen weiteren Aufschub.
Letztere möchten die Christdemokraten inzwischen aber offenbar nur im großkoalitionären Zusammenspiel angehen. Denn der eigene, bereits in den Bundestag eingebrachte Antrag für ein sogenanntes Zustrombegrenzungsgesetz soll – so berichtet Ralf Schuler bei nius.de – zunächst möglichst nicht auf die Tagesordnung gesetzt werden, weil es eventuell nur eine Mehrheit aus CDU/CSU, AfD, BSW und vielleicht noch der FDP gegen rot-grün fände. Dem Verdacht, er würde mit der CDU auch nach rechts blinken können, will sich Friedrich Merz offenbar nicht aussetzen.
Wörtlich heißt es bei Schuler:
„CDU-Chef und Kanzlerkandidat Friedrich Merz bestätigte diesen Kurs am Dienstag auf einer Veranstaltung des Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga): 'Ich möchte uns alle davor bewahren, dass wir plötzlich Zufallsmehrheiten im Saal mit der AfD haben. Ich will das nicht.' Und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sekundierte, man wolle denen keinen Vorschub leisten, die der Union eine Kooperation mit der AfD unterstellen."
Aber zusammen mit der SPD könnten sich die CDU/CSU-Granden wohl – glaubt man dem weiter oben zitierten Pressebericht – migrationspolitische Beschlüsse vorstellen?
Ampel-Verlierer auf der Brücke
Einem derzeit noch regierenden SPD-Genossen scheint die neue zustimmende Haltung der Christdemokraten zu einigen rot-grünen Gesetzen allerdings etwas zu Kopf gestiegen zu sein. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will jetzt sogar noch einen weiteren, ganz neuen Gesetzesentwurf einbringen, der "noch in dieser Legislatur mit den Stimmen einer großen Mehrheit im Parlament" beschlossen werden könnte, berichtet das Ärzteblatt. Es geht dabei um ein von ihm gefordertes Verbot von Lachgas und sogenannten K.o.-Tropfen.
Auch wenn es bei diesem Vorhaben vielleicht gar keinen großen inhaltlichen Dissenz zwischen SPD und CDU geben mag, so erscheint der Vorstoß vom Genossen Lauterbach in der gegenwärtigen Gemengelage doch etwas deplatziert. Aber er vermittelte in den letzten Jahren öfter den Eindruck, dass seine Wahrnehmung der Wirklichkeit zuweilen sehr speziell ist.
Doch zurück zur links blinkenden CDU. Dass sich die Partei gemeinsam mit ihrer bayerischen Schwester eines Umfrage-Hochs nach dem anderen erfreut, verdankt sie vor allem dem Umstand, dass viele umfragerelevante deutsche Wahlbürger offenbar nicht nachtragend sind. Je weiter die Regierungszeit der CDU-Kanzlerin Angela Merkel zurückliegt, desto mehr Wähler wollen in den Christdemokraten wieder eine bürgerliche Alternative zu ideologielastiger linker Politik sehen. Gelegentlich hatte Friedrich Merz den Ampel-Zumutungen auch tatsächlich gut geschliffene Worte entgegengesetzt.
Doch welche Optionen hat er nach der Wahl, wenn er noch nicht einmal mit einer Brandmaueröffnung drohen will, und sei es nur, um all die anderen links von ihm stehenden Verhandlungspartner zu besseren Konditionen zu bewegen? Keine als die, zusammen mit früherem Personal der gerade furios gescheiterten Ampel zu regieren. Egal welches Farbenspiel es dann am Ende wird, es werden immer einige der Ampel-Verlierer wieder auf der Brücke des Deutschland-Schiffs stehen und den Kurs mitbestimmen.
"Wähler, seht die Signale"
"Wähler, seht die Signale" möchte bestimmt mancher den CDU-Wählern in Abwandlung der Internationale zurufen. Aber sind die Signale wirklich zu übersehen? Oder wodurch nährt sich die trotzdem existierende Hoffnung vieler, die CDU könnte sich aus der selbst gewählten Zwangslage befreien, die sie auch in den Ländern zu immer neuen Linkskoalitionen zwingt?
Das erleben die Beobachter des politischen Geschehens derzeit nicht nur in Berlin, sondern beispielsweise auch in Sachsen. CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer hatte bekanntlich zunächst auf eine Links-Koalition mit SPD und dem Wagenknecht-Bündnis gesetzt. Er hat die Parteiführerin hofiert, und dennoch ließ sie die Sondierungsgespräche am Ende platzen.
Kurz zuvor hatte Kretschmer ein Gespräch mit dem sächsischen AfD-Landes- und Fraktionsvorsitzenden Jörg Urban. Kurzzeitig glaubten einige Beobachter, dass dies ein Signal sein könnte, dass Kretschmer einen Weg durch die Brandmauer sucht. Wollte er vielleicht sondieren, ob sich eine CDU-Minderheitsregierung auch mit AfD-Stimmen ins Amt wählen ließe?
Recht behielt, wer daran zweifelte, weil er Kretschmer bereits mehrfach als Meister im Zurückrudern erlebt hatte. Der Ministerpräsident bestritt laut und deutlich, dass das Gespräch solchen Zwecken auch nur ansatzweise gedient haben könnte.
Gibt es eine Neuwahl-Angst?
Nun will er tatsächlich eine Minderheitsregierung bilden, aber nicht allein, sondern mit der SPD. Wohlgemerkt, die sächsische SPD hat am 1. September das schlechteste SPD-Landtagswahlergebnis Deutschlands eingefahren und den eigenen Negativrekord von 2019 mit mageren 7,3 Prozent sogar noch einmal unterboten. Was soll eine solche Verlierer-Koalition ohne Mehrheit bringen?
Diese Möchtegern-Minderheitsregierung würde ebenfalls zuverlässig nach links blinken und will sich ihre jeweiligen Mehrheiten dann beim BSW oder bei Grünen und Linken holen. Der Koalitionspartner SPD wird schon dafür sorgen, dass es keinerlei Zusammenstimmen dieser geplanten Minderheitsregierung mit der AfD geben wird.
Während Kretschmer am Ende alles tut, um zu demonstrieren, dass er an der Brandmauer gegen die AfD festhält, nimmt er den Abgrenzungsbeschluss seiner Partei zu den SED-Erben von den Linken offenbar nicht ganz so ernst. Die würde er als Mehrheitsbeschaffer gern nehmen.
Er steht schließlich unter Zeitdruck. Bis zum 3. Februar muss ein Ministerpräsident gewählt worden sein, sonst gibt es in Sachsen automatisch Neuwahlen. Und die könnten dazu führen, dass die CDU in Sachsen ihren im September gerade noch verteidigten ersten Platz an die AfD verliert.
Ob die Angst vor Neuwahlen auch alle sächsischen CDU-Abgeordneten diszipliniert, in einer eventuellen Ministerpräsidentenwahl zusammen mit den Linken für ihren Parteivorsitzenden zu stimmen? Immerhin herrscht in der sächsischen CDU ob des Linkskurses der Parteiführung und des Festhaltens an der Brandmauer steigender Unmut. Für Kretschmer könnte eine fragile Links-Mehrheit an der eigenen Partei scheitern.
Wie hier schon oft geschrieben, ist es ein durchaus problematisches Demokratieverständnis, dass eine satte Mehrheit der sächsischen Wähler Mitte-Rechts gewählt hat, sich die CDU aber jedwedes Sondieren in diese Richtung verbietet und dadurch immer in der Abhängigkeit von linken Mehrheiten landet. Das vertreibt bürgerliche Wähler. Im Bund lässt das permanente Linksblinken der CDU fürchten, dass nach der Neuwahl am Ende die Periode einer Art Merkel-Politik ohne Merkel beginnt.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.