Physiker sind eigentlich die besseren Mathematiker, im Alltag. Weil sie sich nicht mit rein theoretischen, hoch abstrakten Gedankenkonstrukten befassen, die meisten jedenfalls nicht, sondern mit irgendwie konkreten naturwissenschaftlichen Fragen, zu denen man Experimente machen, Werte messen kann und die am Ende sogar einer ingenieurmäßigen Praxis zugeführt werden können. Physik funktioniert als Erklärungs- und Prognose-Instrument nur, wenn man all das, was nach den Theorien Newtons und Einsteins unsere Wirklichkeit ausmacht, exakt berechnen kann. Ein Physiker, der nichts von Mathematik versteht und nicht kopfrechnen kann, ist deshalb eine Fehlbesetzung.
Daher sollte man eigentlich annehmen, dass eine sogar promovierte Physikerin ebenfalls deutlich mehr als nur Grundrechenarten versteht und von simpler Exponentialrechnung nicht direkt überfordert ist. Selbst wenn das Physikerinnen-Dasein im konkreten Fall ein paar Jahrzehnte zurückliegt, weil irgendwie das Mitregieren und dann das Durchregieren und inzwischen das Totalregieren von Deutschland dazwischengekommen ist. Kopfrechnen verlernt man ebenso wenig wie Radfahren.
Wozu die Vorrede? Nun, die Kanzlerin soll in der letzten Runde mit den Länderfürsten, was nach wie vor ein in der Verfassung überhaupt nicht vorgesehenes Gremium ist, Maßnahmenbündel gefordert haben, die geeignet wären, die Reproduktionszahl des Coronavirus auf einen Wert von höchstens 0,6 zu drücken, so dass von jedem tatsächlich Infizierten nur noch 0,6 weitere Personen, statistisch betrachtet, angesteckt werden. Wenn man die durchschnittliche Zyklus-Laufzeit zwischen zwei aufeinanderfolgenden Ansteckungswellen bei ungefähr vier oder fünf Tagen ansetzt, wie es das RKI zu tun scheint, ohne sich so recht klar dazu auszulassen allerdings, dann würde das bedeuten: Nach etwa 14 Tagen wäre die Zahl der Infektionen auf 0,6 mal 0,6 mal 0,6 zurückgeführt, und das bedeutet im Ergebnis einen Faktor von gerade noch ganz knapp über 0,2. Mit anderen Worten: Die Kanzlerin hat sich jetzt einfach mal in den Kopf gesetzt, die ganze Misere innerhalb von 14 Tagen auf ein Fünftel ihres aktuellen Umfangs zu stutzen.
Wir können das auch auf einen kompletten Monat „extrapolieren“, damit es sich tüchtig nach was Wissenschaftlichem anhört, obwohl es immer noch nur Kopfrechnen ist. Dann würde das (illusorische) Maßnahmenpaket, wie es der Kanzlerin vorschwebt, von der aktuellen Fallzahl nur noch gut 20 Prozent von gut 20 Prozent übriglassen, und das wären dann noch zwischen vier und fünf Prozent.
Virus, ergib Dich doch endlich
„Was lernt uns das“, wie mein alter Physiklehrer scherzhaft bemerken mochte – oder amtlich: was lehren uns diese Betrachtungen? Entweder die Zahl 0,6 beruht auf einem gigantischen Missverständnis journalistischerseits. Aber wer will so etwas schon unterstellen, zumal beim amtlichen prinzipiell regierungsfreundlichen Boulevard, und warum hätte das Bundeskanzleramt dieses Missverständnis nicht längst aus der Welt geräumt? Oder die Kanzlerin hat durch kluges Nachdenken „den Stein der Weisen“ gefunden, irgendein Wundermittel gegen das Virus, ohne dass dieses allerdings irgendwie erkennbar wäre. Oder die Kanzlerin hat, manche würden sagen endgültig, den Kontakt zur Realität UND zur Wissenschaft aufgegeben.
Ein Virus, das sich mit einem R von 0,6 zufriedengibt, hat sich quasi aufgegeben. (Ja, liebe Leser mit dem echten Fachwissen, ich weiß wohl, dass ein Virus nicht lebt und nicht denkt, sondern nur ein tückisches Stück medizinischer Staub ist, oder so ähnlich.) Ein R von 0,6 lässt sich erfolgreich erzielen, vielleicht nach erfolgreich eingetretener Herden-Immunität, aber dahin wollen unsere Herrscher ja ausdrücklich nicht, sondern sie wollen es ganz und gar nicht überhaupt erst in die Nähe derselben kommen lassen. Aber ein Virus, das selbst noch weit vor einer Durchseuchung nennenswerter Teile der Bevölkerung nur auf 0,6 kommt, ist von vornherein kein wirklich ansteckendes, und dann hätten wir von vornherein nicht die aktuelle Situation.
Nun ist das Virus aber noch dazu „schlau genug“ (das schreibe ich jetzt extra so!), Mutationen zu bilden, die das eine oder andere eigentlich (durch die ältere Verwandtschaft der Mutation) schon „vorgewarnte“ Immunsystem doch wieder überlisten können. Genau dadurch kann eine Virusfamilie (Corona-Varianten!) es in den Status schaffen, den die Virologen und Epidemiologen als „endemisch“ bezeichnen: irgendwie schlägt sich das Virus im Unterholz der Bevölkerung durch, und bei günstigen Bedingungen, zum Beispiel eintretender winterlicher Jahreszeit, kommt es wieder an die Oberfläche und richtet Schaden an, indem es sich für eine überschaubare Zeit wieder massenhaft ausbreitet. („Grippewellen“, wie wir sie immer schon haben.)
Ewiges Leben für alle, sofort
Wenn die Kanzlerin also explizit eine Politik einfordert, die den R-Wert für die gesamte mutierte Nachkommenschaft von „Covid-19“ (also eigentlich inzwischen Varianten von „Covid-20“) auf unter 0,6 drücken will, dann ist das gleichbedeutend mit der Forderung, die Menschheit müsse es endlich schaffen, Corona-Erkrankungen daran zu hindern, „endemisch“ zu werden, indem die entsprechenden Virenfamilien quasi ausgerottet werden. Das ist wahrscheinlich noch weniger realistisch als die Forderung, es dürfe niemand mehr an Krebs oder Herzinfarkt oder Schlaganfall sterben. Das ist eine politische Zielsetzung, die schlicht unerfüllbar ist, ungefähr so wie der Wunsch nach ewigem Weltfrieden und den Menschen ein Wohlgefallen. (Ich erinnere mich gern an die Schlussszene des hübschen Thrillers „Sneakers“ mit Robert Redford und Ben Kingsley. Einfach mal anschauen, ist anrührend und komisch zugleich.)
Nun haben wir zwar eine neue Art von „Impfstoff“, die mehr einem gentechnischen Massenexperiment mit vorläufig eher ungewissem und potenziell gefährlichem Ausgang entspricht, und manche mögen davon träumen, dass der Wettlauf mit den immer weiter mutierenden Viren endlich gewonnen werden kann. Aber dann sollte die Kanzlerin sich nicht solche groben Schnitzer in Sachen Impfstoff-Management leisten, und das hätte dann auch nichts mit einem noch weiter übersteigerten „Lockdown“ zu tun.
Wenn die Kanzlerin ganz tief in ihre physikalische Vergangenheit gehorcht und zu praktikablen mathematischen Relationen gefunden hätte, dann hätte sie sich wünschen können, den R-Wert auf 0,85 bis 0,90 zu halten, denn damit wäre nach einem runden Monat oder sechs Ansteckungszyklen das Problem (rechnerisch) schon ungefähr auf 45 Prozent seines aktuellen Umfangs reduziert, und ein solches Ziel wäre womöglich auf Sicht sogar erreichbar, allerdings auch schon ohne absurd überzogene, die Gesellschaft zugrunde richtende Lockdown-Maßnahmen, deren Grenznutzen durch ihre offensichtlichen Grenzkosten – wie vorletzten Donnerstag hier erläutert – schon längst weit überwogen wird, zum Schaden des ganzen Landes.
Allerdings würde eine rationale, nicht panikgetriebene Politik auch dafür sorgen – beziehungsweise genauer: hätte sie es schon vor Monaten getan –, dass die Berechnungen durch das RKI auf eine überhaupt tragfähige Grundlage gestellt werden, nämlich mit einem Testregime und einem Berichtswesen, das eine aussagekräftige Berechnung des tatsächlichen Infektionsverlaufs in der Bevölkerung zumindest mit einem gewissen Ausmaß an Vertrauenswürdigkeit erlaubt.
Davon kann nach wie vor nicht einmal annähernd die Rede sein, und schon deshalb sind die absurden Zielsetzungen der Kanzlerin ohne jede rationale Grundlage, die man auch nur mit zwei zusammengekniffenen Augen als „wissenschaftlich“ bezeichnen könnte. Wenn das „Wissenschaft“ und rational begründetes Regierungshandeln sein soll, dann werde ich demnächst in Kaffeesatz promovieren und meine Habilitationsschrift über die Deutung der Eingeweide von Tauben verfassen.