Thilo Schneider / 05.02.2018 / 06:26 / Foto: Tim Maxeiner / 50 / Seite ausdrucken

Die Meinungsklima-Katastrophe

Während man sich auf den GrünInnen*-Parteitagen Sorgen um das Weltklima macht, und ob von Tuvalu und Tokelau (beides nicht in Sachsen) nächstens nur noch die Spitzen der Kokospalmen aus dem Wasser gucken, ist ein ganz anderes Klima gar nicht einmal still und leise komplett vergiftet: das gesellschaftlich-politische Klima hier in Deutschland.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Streit gehört zu einer Demokratie wie das Wasser zum Meer. Ohne Streit, ohne Auseinandersetzung, ohne das Ringen um die bessere Idee heißt unser System nicht mehr Demokratie, sondern irgendwie anders. Je nach politischer Einfärbung. Die Frage ist nur, wie dieser Streit geführt wird.

Wer, wie ich, schon 50 Lenze plus auf dem Buckel hat, erinnert sich an prachtvolle Parlamentsdebatten mit Ordnungsrufen und wilden Auseinandersetzungen (unvergessen und unangefochten: Herbert Wehner und sein Pendant, Franz-Josef Strauß), aber selten bis nie gingen diese Debatten gezielt unter die Gürtellinien des jeweiligen Antagonisten. Und, was noch viel besser war: die Parteien waren dadurch unterscheidbar. Jeder wusste, bei der SPD gibt es (wahrscheinlich) Soziales, bei der Union Sicherheit und sonstiges Konservatives, bei der FDP je nach Regierungsbeteiligung beides oder keins davon, vor allem aber Bürgerrechte und Eigenverantwortung, und die Grünen haben Umweltschutz und Atomausstieg im Sonderangebot.

Und auch wenn ich Turnschuh-Fischer und Brioni-Schröder gelegentlich wirklich lächerlich und nervig fand – ich konnte zumindest nachvollziehen, warum sie jemand wählt. Und sei es auch nur, um Kohl endlich in Rente zu schicken.

Entweder Nazi oder Rotgrünversiffter 

Und heute? Heute gibt es gleich vier mehr oder weniger linke Einheitsparteien, eine immer noch etwas eingeschüchterte FDP, die gerne die Mitte repräsentieren möchte und die AfD als Paria und Hassobjekt. Ja, da kann man durchaus von einer nach links und rechts gespaltenen Gesellschaft reden.

Zumal wir alle auch miteinander nicht mehr sachlich umgehen. Es geht stets sofort unter Gebrüll in die Körpermitte. Entweder Nazi oder Rotgrünversiffter. Dazwischen gibt es nichts. Es scheint für die jeweils andere Seite völlig undenkbar zu sein, dass jemand in der Flüchtlingshilfe tätig ist und gleichzeitig für Obergrenzen stimmt. Es ist völlig unmöglich, gleichzeitig Tierschützer und Fleischesser zu sein. Es gibt angeblich keinen Einwanderungsbefürworter, der gleichzeitig ein Freund von Grenzsicherung und Einwanderungsgesetzen sein kann. Niemand kann wohl freiheitsliebend sein und sich gleichzeitig Sicherheit wünschen. Obwohl sich das alles nicht zwangsläufig widerspricht.

„Persönliche Haltung“ und moralische Pseudoüberlegenheit haben heute den Austausch von Sachargumenten ersetzt, flankiert von geradezu kindlich-naiven Argumentationen „vong ganz tief vong Hertzen her“, die manch eine Kindergartenleiterin einem 5-jährigen nicht durchlaufen lassen würde. Alleine die eigentlich völlig logische und selbstverständliche Bemerkung, Kriegsflüchtlinge sollten bei den entsprechenden Gegebenheiten – und das sind nun einmal „Ende der Kampfhandlungen und rudimentäre politische Stabilität“ – in ihre Herkunftsländer zurückkehren, löst heute bei den entsprechenden Apologeten Schaum vor’m Mund und aufgeregte „Hetze! Hetze!“-Rufe aus. In der Transaktionsanalyse gibt es eine Kommunikationsregel: „Ich bin okay, du bist okay.“

„Das tut man nicht“, hat die Oma immer gesagt.

Ich glaubte vielleicht deshalb immer, es gäbe einen Grundkonsens in der Gesellschaft: Man reißt niemandem ein Kopftuch vom Kopf oder zündet ein Flüchtlingsheim an. Man plündert aus politischen Gründen keine Supermärkte, geht auf Polizisten los oder fackelt Polizeiwagen ab. Wenn der Gegner am Boden liegt, dann ist der Kampf entschieden und der Sieger lässt ihn in Ruhe. Man sticht niemanden ab, wünscht auf Demos niemandem den Tod oder probiert die Feuer- oder Reißfestigkeit seiner (Unter-)Bekleidung aus. „Das tut man nicht“, hat die Oma immer gesagt. Aber vielleicht war die ja auch im BDM oder der FDJ und hat das anderen überlassen…

Jeder Bürger hat das Recht, so besorgt oder unbesorgt zu sein, wie er möchte. Das gibt unser Grundgesetz her. Unser gesellschaftlicher Kitt – so er je existierte – sollte hergeben, das jeweilige Gegenüber dafür nicht in die persönliche Tonne zu treten. Konkret: Es geht mir auf den Schweif, wie die Leute hierzulande mittlerweile miteinander umgehen. Ich nehme mich da auch nicht aus.

Natürlich hast du auch einmal einen schlechten Tag, wo du dein Gegenüber einfach aus Spaß mal an die argumentative Wand pinnst. Ich verstehe das. Ich verstehe auch, dass man es irgendwann irgendwie leid ist, die Einhundertdrölfte Dumpfbackenargumentation a lá „Lügenpresse“ oder „rechter Hetzer“ entkräften zu wollen oder zu müssen. Aber täte gelegentlich nicht auch etwas Zurückhaltung und das dem jeweils Anderen Zuhören ganz gut? Um zu einem Minimalkonsens zu gelangen? Muss es alles immer „Sieg oder Niederlage“, „Schwarz oder Weiß“ sein?

In der Fachsprache heißt das „Bürgerkrieg“ 

Und es bleibt ja auch schon lange nicht mehr bei sprachlichen Übergriffen. Gesellschaftliche Ächtung, Vernichtung bürgerlicher Existenzen, verbrannte Politikerautos, eingeworfene Parteizentralenscheiben und tätliche Angriffe auf Akteure und deren Verwandte und Eigentum weisen einen Trend auf, der sich in der Fachsprache „Bürgerkrieg“ nennt.

Vielleicht bin ich ja naiv. Mir ist schon klar, dass ich hier einen bürgerlichen Umgang im Miteinander einfordere, den wir selbst durch unsere von uns gewählten Politiker und durch von uns konsumierte Medien nicht vorgelebt sehen, wenn diese von „Pack“ und „Dunkeldeutschland“ reden. Aber sollten wir nicht gerade dann genau diese Leute und Medien abwählen? Oder haben wir uns mit der salbadernden und moralisierenden Beliebigkeit der Akteure bereits abgefunden? Müssen wir uns daran gewöhnen, wegen unterschiedlicher Meinungen unseren Ruf, unser Eigentum und unsere Gesundheit zu riskieren? Ist es das, was wir alle einmal unter „Meinungsfreiheit“ gelernt haben? Oder führen wir uns selbst in eine Ochlokratie, also in die Herrschaft des Pöbels?

Dies ist immer noch Deutschland. Und wir gehen bitte fair und sachlich, wenn nicht sogar freundlich miteinander um. Wenn es sonst schon keiner tut. Dann lernen wir auch vom Gegenüber. Und wenn es nur ist, wie es nicht geht.

Foto: Tim Maxeiner

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Werner Kirmer / 05.02.2018

Danke für die Worte. Mögen sie von vielen vernommen und beherzigt werden.

Andreas Rühl / 05.02.2018

Haarig und nicht mehr akzeptabel für einen Rechtsstaat wird es, wenn die Haltungsethik, die Gesinnungsmoral unmittelbar auf Entscheidungsprozesse derer einwirkt, die an Recht und Gesetz gebunden sind (und nicht an ihr “Gewissen” oder die “Moral”). Das haben wir mehrfach erlebt und jedes Mal mündete es in einer Katastrophe. Offenbar ist bei den Eliten die uralte Erkenntnis, dass Recht und Moral Phänomene sind, die nichts miteinander zu tun haben, ja sogar entgegengesetzt sind, nicht mehr vorhanden. Daraus erwächst dann die “Empörung” in der Bevölkerung, die fortwährend einen nicht hinnehmbaren Widerspruch zu erkennen meint zwischen dem, was richtig zu sein scheint und dem, was Recht ist. Damit bewegen wir uns aber vom Rechtsstaat weg und geben eine Errungenschaft auf, die zu den höchsten zivilisatorischen Leistungen überhaupt gehört. Stattdessen werden unablässig Versuche unternommen, die notwendige, vernünftige Differenzierung zwischen Recht und Moral zu unterwandern oder auszuhebel. Bei der Einwanderung zum Beispiel, indem man anstelle klarer gesetzlicher Normen eine Millionenzuwanderung mit “Härtefällen” und “humanitären Ausnahmeregelungen”  zu beherrschen versucht. In den sozialen Medien, die durch staatliche Zwangsmaßnahmen (Gesetze) dahin gebracht werden sollen, die “richtige” Haltung und Gesinnung von der “falschen” zu scheiden. Es geht nicht nur um die Frage, ob diese Art, Konflikte sprachlich auszutragen, auf die Dauer schädlich ist dem Gemeinwesen. Es geht um die viel grundsätzlichere Frage, ob wir an die Stelle rationaler Normen, denen stets ein Moment der “Kälte” anhaftet, ein undurchschaubares Gemengsel aus “Haltung”, “Gesinnung”, “Gewissen” und “Gefühlen” setzen wollen, mit dem am Ende nicht allen, sondern keinem gedient ist.

Dietmar Schmidt / 05.02.2018

Lieber Herr Schneider, “Ich bin okay, du bist okay” habe ich mal Anfang der 1970 Jahre in einem Führungstrainee gelernt und ja, es ist heute noch so aktuell wie damals und wir alle sollten es uns auf die Fahne schreiben und vor uns hertragen. Und meine Großmutter hat oft gesagt, zum Streiten gehören immer zwei. Schade ist eigentlich, dass wir z.B. die öffentlich, rechtlichen Medien nicht abwählen können, weil die GEZ zwangsweise erhoben wird und leider gerade von diesen Institutionen relativ einseitig informiert wird. Vielleicht löst das einige Aggressionen aus. Gruß D. Schmidt

Cornelia Buchta / 05.02.2018

Sie sagen “Medien abwählen”. Wie wählt man denn bitte öffentlich rechtliche Medien ab? Gestern las ich unter Herrn Zimskis Artikel folgenden Kommentar eines Lesers, den ich nur bestätigen kann: “liebe Hörerinnen und Hörer, liebe Zeitungsleserinnen und Zeitungsleser nutzen sie diese Möglichkeit so lange es noch geht. Verwahren Sie sich persönlich gegen jede indoktrinäre, ideologisch verbrämte, unsachliche Berichterstattung und Kommentierung. Fordern Sie Sachlichkeit, Genauigkeit und Vollständigkeit ein.” (schriftlich oder per Anruf)—Also: täglich einen freundlichen oder zumindest neutralen Kommentar gegen unsachliche Artikel schreiben. Selbst wenn das keinen Eindruck auf die Schreibenden machen sollte, so doch auf die Mitlesenden.

Thorsten Helbing / 05.02.2018

Der Krug geht solange zum Brunnen bis er bricht,oder schlägt dir jemand auf die Wange,dann halte die andere auch noch hin? Ich denke,irgendwann ist selbst das friedliebenste Wesen an einem Punkt angelangt,an dem er sich wehrt. Henne oder Ei,wer hat zuerst angefangen? Diese Frage werden wir niemals mehr befriedigend beantworten können. Es ist auch nicht wichtig. Wichtig ist jetzt zu kämpfen. Denn wer nicht kämpft hat schon verloren! Kampf hat viele Gesichter. Ich hoffe für uns Alle,und bete zu Gott,das wir den Kampf weiterhin mit Worten & seiner jeweiligen Überzeugung ausfechten. Bis es einen Sieger gibt. Den Kampf,dann heißt es nämlich Zahn um Zahn,auf die Straße zu verlagern wird NUR Verlierer hervorbringen. Und was kann ein grösserer Verlust sein als sein Leben? Leben in Unfreiheit,sprich Diktatur als williger Gehilfe für eine kleine elitäre Kaste,könnte solch Opfer rechtfertigen. Aber das zu verhindern muss in unser aller Interesse liegen.

Helene Kaiser / 05.02.2018

Die Meinungsfreiheit und das Diffamieren Andersdenkender wurde und wird in meiner Erinnerung von den “LINKEN” praktiziert und der Druck bis heute kontinuierlich erhöht. Mit meinen fast 60 Jahren und Politikinteressiert seit den 80er stelle ich fest (übrigens auch im gesamten großen Bekanntenkreis), dass “LINKE” vor allem Kritiker linker Politik verbal aggressiv und verunglimpfend gegenübertreten.

Willy Stucky / 05.02.2018

Die Frage ist, ob wir uns überhaupt noch verstehen können, denn Schlüsselbegriffe wie etwa „demokratisch“ oder „liberal“ sind in den vergangenen drei Jahrzehnten klammheimlich umfunktioniert worden. Dabei hattet ihr in Deutschland – anders als wir in der Schweiz – ja mal zwei Republiken, in denen Deutsch gesprochen wurde. Die meisten Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hielten die BRD für undemokratisch und deren Marktwirtschaft für illiberal, weil kapitalistisch. Interessanterweise haben sich nach dem Mauerfall die DDR-Begriffe durchgesetzt. Sogar in der Schweiz, wo Mitte-Links ebenfalls die Deutungshoheit durchgesetzt hat, herrscht nun eine ähnliche Begriffsverwirrung wie im tonangebenden grossen Nachbarn. Plötzlich galt ich in der Schweiz als undemokratisch und illiberal, wenn nicht gar als Faschist, wenn ich die besagten Begriffe in meinem (konservativen?) Sinne verwendete.

Werner Gottschämmer / 05.02.2018

Ein richtiger Beitrag Herr Schneider! Wirs aber leider komplett missachtet! Mit das Erste was ich unserer politischen Elite vorwerfe, und leider Wiederholung, wie so oft, besonders der BK! Es ist, es wäre ihre verdammte Pflicht gewesen dieses katastrophale auseinanderdriften zu verhindern, oder zumindest einzugrenzen. Für mich das größte versagen der größtmöglichen Kanzlerin aller Zeiten…

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