Thomas Rietzschel / 01.03.2025 / 15:00 / Foto: Steffen Prößdorf / 14 / Seite ausdrucken

Artikeltyp:Meinung

Die Mehrheit entscheidet – wirklich?

In absoluten Zahlen sind es immer nur Minderheiten der Bürger, die die jeweilgen Parteien als Wähler hinter sich versammeln können. Das ist in jeder Demokratie normal. Aber ein Fünftel der Wählerstimmen pauschal zu verwerfen, sollte in keiner Demokratie normal sein.

Die Wahl ist gelaufen. Bis auf die dritte Stelle hinter dem Komma wird gemeldet, welche Partei wie abgeschnitten hat, wer auf- und wer abstieg, manche so tief, dass es die Höflichkeit der Statistiker gebietet, über ihre Ergebnisse den Mantel des Schweigens zu decken. Bedeutsam, Hoffnung spendend oder Unheil ankündigend sind all diejenigen, die den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde geschafft haben, souverän oder gerade noch so. Stolz können sich die „Sieger“ auf die Brust schlagen, wenn sie ihre Prozentpunkte vorweisen; bescheidener müssen sich jene geben, die hoffnungslos oder auch nur ganz knapp ausscheiden. Die Prozentzahlen zeigen eindeutig, wer wo gelandet ist – weiter oben oder weiter unten im Keller der Demokratie.

Was aber bedeuten die Prozentwerte, wie viele Wähler stehen jeweils dahinter? Es lohnt, einmal genauer hinzuschauen. Zuerst: Die hohe Wahlbeteiligung von 82,5 Prozent täuscht mehr vor als sie aussagt. Von den derzeit nahezu 84 Millionen Einwohnern waren 60,4  Millionen wahlberechtigt. Denn schließlich zählt Deutschland aktuell circa 14,3 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (Stand 2023) sowie 14,1 Millionen Ausländer (Stand 2024).

Hinzu kommen noch die Auslandsdeutschen, von denen standen bei diesen Wahlen über 200.000 im Wählerregister. Aufgrund vieler Probleme bei der Zustellung der Briefwahlunterlagen dürften einige dennoch an den bürokratischen Hürden gescheitert sein, beziehungsweise kamen erst gar nicht ins Wählerregister (Achgut berichtete). Die Auslandsdeutschen spielen bei den folgenden Überlegungen keine Rolle, da diese sich aufs Bundesgebiet beschränken.

Von den 60,4 Millionen Wahlberechtigten haben nun 82,5 Prozent an der Wahl teilgenommen. Das sind 49,9 Millionen. Von denen konnten CDU und CSU wiederum 28,6 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, also 14,2 Millionen bzw. etwas mehr als ein Sechstel der Gesamtbevölkerung. So könnten wir jetzt Partei für Partei durchgehen, und kämen immer zu dem selben Ergebnis: Tatsächlich regieren Minderheiten in Deutschland. 

Zehn Millionen Wähler werden kurzerhand abgeschoben

Das ist niemandem vorzuwerfen und ist auch nichts, womit sich Deutschland von anderen Demokratien unterscheiden würde. Immer und überall sind es Minderheiten, die politisch ausschlaggebend sind. Insofern sind alle Wahlerfolge immer nur relative, dann aber auch als solche zu vergleichen. So sind etwa die 14,2 Millionen Wähler, die sich für den Wahlsieger entschieden, ins Verhältnis zu den 10,3 Millionen zu setzen, die für die AfD votierten. Was nun, mit der SPD verglichen, wiederum einen Vorsprung von guten zwei Millionen ausmacht. Und dennoch will Friedrich Merz, die neue Regierung mit der abgeschlagenen SPD (8,15 Millionen aller abgegebenen Stimmen) bilden. Die Verlierer sollen abermals ein politisches Mitspracherecht erhalten, das der zweitstärksten politischen Kraft im Lande, der AfD, versagt bleibt. Zehn Millionen Wähler werden kurzerhand abgeschoben, aus der Demokratie verbannt.

Nach dieser nüchternen Rechnung, nach der Betrachtung der Anzahl der abgegebenen Stimmen, die hinter den Prozentangaben stehen, drängt sich die ketzerische Frage auf, weshalb denn überhaupt Wahlen veranstaltet werden, Spektakel, deren Ausrichtung Millionen kosten, wenn doch von vornherein feststeht, dass einer inzwischen zur Volkspartei gewachsenen politischen Kraft keine Teilhabe an der politischen Macht zustehen darf, egal, wie viele Wähler sich für sie als die Vertreterin ihrer Interessen entschieden haben.

Hinter die  „Brandmauer“ wird man sie nicht ewig abschieben können. Sollte die AfD bei der nächsten Bundestagswahl noch einmal zulegen, könnte es sein, die Brandmauer verschiebt sich so weit in Richtung der sogenannten „demokratischen Parteien“, dass zweifelhaft wird, wer denn nun eigentlich hinter der Brandmauer ist. Die, die man ausschließen möchte, oder jene, die die Brandmauer erfunden haben. Ein Schelm, der jetzt an die Berliner Mauer denkt. Auch hinter ihr saßen zum Schluss nur noch jene, die sie hochgezogen haben.

Von Anfang an auf einem Bein lahmen

Doch, machen wir uns nichts vor, es wird noch dauern, bis die Erbauer des neuen, des antidemokratischen Schutzwalls schauen müssen, dass sie nicht unter dem Schutt ihres Bauwerks begraben werden. Vorerst ist Friedrich Merz in Erklärungsnot. Wie wird er seine demokratische Gesinnung mit der Tatsache in Einklang bringen, eine Partei, hinter der zehn Millionen Wähler stehen, von jeglicher Verantwortung für Deutschland auszuschließen?

Wenn der Christdemokrat in Kürze aufgerufen sein wird, den Amtseid des Kanzlers abzulegen, zu schwören, dass er seine „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seine Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen … Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe“, dann unterwirft er sich nicht bloß dem Willen seiner Wähler, sondern dem des ganzen Volkes. Und da sind zehn von 49,9 Millionen Wählerstimmen schon eine Größe, die sich nicht einfach vernachlässigen lässt. Auch wenn CDU/CSU mit der abgewählten SPD eine knappe Mehrheit der Mandate haben, so ist ihre demokratische Aufgabe rein rechnerisch nicht zu lösen. Selbst wenn die AfD dem werdenden Kanzler nicht behagt, was verständlich sein mag, sie ist nun einmal zur zweitstärksten Kraft gewählt worden. Wird sie von vornherein außen vorgehalten, droht die neue Regierung von Anfang an auf einem Bein zu lahmen. 

 

Dr. Thomas Rietzschel, geboren 1951 bei Dresden, Dr. phil., verließ die DDR mit einer Einladung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Er war Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung FAZ und lebt heute wieder als freier Autor in der Nähe von Frankfurt. Verstörend für den Zeitgeist wirkte sein 2012 erschienenes Buch „Die Stunde der Dilettanten“. Henryk M. Broder schrieb damals: „Thomas Rietzschel ist ein renitenter Einzelgänger, dem Gleichstrom der Republik um einige Nasenlängen voraus.“ Die Fortsetzung der Verstörung folgte 2014 mit dem Buch „Geplünderte Demokratie“. Auf Achgut.com kommt immer Neues hinzu. 

Foto: Steffen Prößdorf CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

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Sam Lowry / 01.03.2025

“Blinder Gehorsam vor der Obrigkeit ist der größte Feind der Wahrheit.”

Ralf.Michael / 01.03.2025

Übrigens, der Merz ist noch nicht Kanzler ! Nicht vergessen, da geht noch was ;o))

A. Schön / 01.03.2025

Mehr Wählerverachtung geht nicht! Wie wäre es mit einer Demokratie ganz ohne Parteien, mit reinen Personenwahlen und jeder Kandidat müsste nachweisen, weshalb er sich für ein Amt geeignet hält? Ist in jedem Beruf so, wenn man sich bewirbt, nur bei Politikern bzw. Abgeordneten und Ministern nicht.

Markus Viktor / 01.03.2025

Der entscheidende Punkt bei der Ausgrenzung der AfD und ihres Elektorats ist ja der Vorwurf, sie seien die neuen Nazis. Gemäß den dubioserweise “bis weit in die bürgerliche Mitte hinein” verbreiteten “Sprachregelungen des verlogenen DDR-“Antifaschismus”“, wie Oliver Zimski hier neulich 100%-treffend formuliert hat. Mit Hinweisen auf gute demokratische Gepflogenheiten allein kommt man hier nicht weiter, weil der springende Punkt verfehlt wird. Wären es die neuen Nazis, wäre die Ausgrenzung ja richtig - ebenso richtig wie Ausgrenzung für die aktuellen Linksfaschisten und Islamofaschisten. Also geht es für AfD und ihr Elektorat genau darum, aufzuzeigen, dass sie keine neuen Nazis sind. Das sollte nicht zu schwierig sein und scheint auch voranzukommen, sogar mit Hilfe der Befreier von vor 80 Jahren.

Holger Chavez / 01.03.2025

In dem lesenswerten Buch “Maggie Thatchers Rosskur - Ein Rezept für Deutschland” benennt der Autor Dominik Geppert den Unterschied zwischen den angelsächsichen Demokratien USA und GB und Deutschland. In Deutschland wurde eine Konsens-Demokratie geschaffen, in der es fast ausgeschlossen ist, daß eine Partei die absolute Mehrheit erhält, während in den USA und besonders in GB die siegreiche Partei alles bekommt (the winner takes ist all). In GB ist das mit dem Mehrheitswahlrecht extrem: Z.B. erhielt Labour bei der letzen Wahl nur ca 31% der Stimmen aber dennoch eine gewaltige Mehrheit im Parlament. In D ist das anders. Eine siegreiche Partei muß sich nahezu immer einen Koalitionspartner suchen und dabei Kompromisse eingehen. Wenn zwei oder mehr Partner zur Verfügung stehen, kann sie die gegeia. ausspielen und so das Beste für sich herausholen. Ich habe große Symphatie dafür, wenngleich die Kuhhändel oft intransparent und unappetitlich sind. Mit der Brandmauer ist die Konsenssuche begraben worden. Jetzt gibt es die absolut bösen, den Satan auf der einen Seite und die Guten auf der anderen. Es ist Mord an der repräsentativen Demokratie. Das Parlament ist nur noch Machtmaschine, nicht mehr Problemlöser. Merkel, Scholz und Schmerzel sind die Hauptübeltäter. Ob der Schaden noch zu reparieren ist? Die Wähler der CDU/CSU sind verantwortlich für den Niedergang. Nie hätten sie die Brandmauer tolerieren dürfen. Jeder Wähler ist Täter.

Frank Rotschedl / 01.03.2025

Tja, was soll ich sagen… „... Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seine Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen … Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe“ ... hört sich nett an, aber das Dumme bei der ganzen Sache ist, dass man sich das Bla Bla auch sparen könnte, denn der-die-das Kanzler könnte auch einen Kinderauszählreim aufsagen oder das bekannte “Lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipiscing elit…”  Es hätte die gleichen Konsequenzen, nämlich keine… wäre es nicht so, säße Merkel im Gefängnis und Scholz würde Zellennachbar…

Rainer Niersberger / 01.03.2025

@L.Luhmann : Korrekt. Aber solange wir derartige Lagebeschreibungen nicht von den “alternativen Intellektuellen” hoeren oder lesen, ist das Finale klar. Bei aller zutreffenden Kritik an den “normalen” Michel, wenn es dieser Gruppe an Geist und/ oder Mut fehlt, die Michel aufzuklären, wird sich wieder einmal der Aufprall oder die Verendung nicht vermeiden lassen. Wirklich bei jedem “kritischen” Artikel ist der ein bestimmter Zusatz oder Einschub obligatorisch. Hier ” wenn die AfD Herrn Merz nicht behagt, was verstaendlich sein mag”.... Diese Einschübe erfolgen natuerlich nicht zufaellig.  Sie ueberraschen auch nicht. Sie sind allerdings der Beleg dafuer, dass die Sache in Sch’land ihren Lauf nimmt.  Wieder einmal. Der Michel kann nicht anders. Entweder es uebernimmt jemand fuer ihn oder er geht unter. Nur der Michel findet die Zugehörigkeit in einer Supra toll, die ihm nicht nur nichts einbringt, in der auch nichts zu sagen hat und nur zahlt. Er ist psychisch massiv gestoert. Vermutlich wird er noch beim letzten Atemzug roecheln : ” Aber die AfD habe ich nicht gewaehlt”. Brav.

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