Sabine Drewes, Gastautorin / 09.11.2020 / 10:00 / Foto: Pixabay / 34 / Seite ausdrucken

Die „Mauer in den Köpfen“? In wessen Köpfen?

Alle Jahre wieder hören wir die beliebte Floskel von der „Mauer in den Köpfen“, gerne vorgetragen von Leuten mit tiefernsten Gesichtern und erhobenen Zeigefingern. Vermutlich wird diese Mauer auch heute wieder beklagt werden, pünktlich zum Jahrestag des „Mauerfalls“ (der eine eher blumige Umschreibung für den totalen Zusammenbruch eines menschenverachtenden Systems ist). Die Bürger aber sollten sich das nicht bieten lassen, weil die geschichtlichen Fakten solcherlei Unterstellung nicht hergeben. Ich frage mich immer, wo eigentlich waren diese Leute 1989/90? In Deutschland konnten sie nicht gewesen sein.

Dafür kann ich mich zu gut daran erinnern, was in den Tagen und Nächten nach dem 9. November 1989 geschah: an der geöffneten Berliner Mauer, an den innerdeutschen Grenzübergängen und in den grenznahen Städten im Westen. Von einer Mauer in den Köpfen war da weit und breit nichts zu spüren, geschweige denn zu sehen. Ganz im Gegenteil. Man hat den Eindruck, genau darüber soll ein Mantel des Vergessens gebreitet werden. Denn dass die Deutschen ganz spontan und ohne jede Verordnung von oben, ungezwungen eben, mehr als nur ein „freundliches Gesicht“ zeigten, dies passt nicht in das Weltbild gewisser Leute. Deshalb hier und heute eine Erinnerung und eine Gegenrede.

Die Mauer in den Köpfen – das gilt nur für gewisse Leute überschrieb ein Journalist zum ersten Jahrestag der Deutschen Einheit seinen Kommentar in einer überregionalen deutschen Tageszeitung. Im Untertitel stand vielsagend: „Von der Vernünftigkeit der Bürger und dem Geschnatter im Wolkenkuckucksheim darüber“. Der Autor meinte, es sei Mode zu sagen: „Wir haben die innere Einheit noch nicht geschafft (wer ganz geschickt sein will, fügt hinzu: Wer weiß, ob wir sie überhaupt jemals schaffen werden!); wir haben noch die Mauer in den Köpfen.

Kein Zweifel“, bemerkte jener Redakteur am 2. Oktober 1991 auf der Meinungsseite, „es gibt eine Mauer in den Köpfen. Sie steht aber nicht in den Köpfen der Normalbürger, sondern in denen ihrer politischen Klasse – in den Köpfen jener Politiker, Publizisten, 'Intellektuellen' und sonstigen Geistesmachthaber, die den Untergang des Sozialismus noch nicht verkraftet haben. Dazu zählen auch bürgerliche Kreise, die den Geßlerhut grüßen lernten und das Ende dieser 'unumschränkten Macht' nicht für möglich hielten.

Er beließ es allerdings nicht bei dieser Feststellung, sondern holte dankenswerterweise weiter aus: „Den Normalbürgern ist solche Geistesverwirrung fremd. Man hatte ihnen ja lange genug nachgesagt, daß sie auch allesamt gegen die Wiedervereinigung seien, daß 'niemand sie wirklich will, auch niemand in der Bundesrepublik', daß sie nur 'Stoff für Sonntagsreden' sei. Aber als die Mauer zusammenbrach, sah man, daß die Deutschen-West ihren endlich befreiten Mitbürgern mit ausgestreckten Händen entgegengingen. Da war keine Arroganz und erst recht kein Neid zu spüren.

Die Bürger trieben die Politik

Stimmt nicht, meinen Sie? Es wurde doch Neid und Missgunst geschürt, kaum dass die Mauer eingestürzt war? Ja, aber eben nicht vonseiten der Normalbürger, sondern vonseiten einer politisch-medialen Klasse, die sich auf falschem Fuß erwischt fühlten musste und dies – menschlich verständlich – arrogant zu kaschieren suchte. Das verstand sogar der Autor, den ich hier zitiere; er nannte es auf diplomatischere Weise „psychologisch nachfühlbar, daß Menschen, die einem so ungeheuerlichen Irrtum erlagen, dies nicht verkraften und so tun, als sei ja doch irgendwie das nicht so recht zustande gekommen, was unverschämterweise gegen ihre ausdrückliche Festlegung zustande kam“.

Nichtsdestotrotz war ihm wichtig, auf das hinzuweisen, was jeder sehen konnte, der Augen im Kopf hatte, was aber das einseitig negative Selbstbild torpedierte, welches die Deutschen gefälligst jederzeit von sich selbst vor Augen haben sollten:

Niemals zuvor hat sich ein Volk so dramatisch als selbstlos und hilfsbereit dargestellt wie hier, wo die Menschen spontan das ebenso Anständige wie politisch Richtige taten, obwohl keine politische Partei und keine geistige Führung sie darauf vorbereitet hatte – die Bürger waren es, die die Politiker trieben, nicht umgekehrt.“

Ein ebenso bemerkenswerter wie wichtiger und richtiger Satz. Und doch ist er unvollständig, aber das sei dem Autor, Enno von Loewenstern, posthum verziehen. Denn er und die Zeitung, in der er publizierte, die hatten beide ihre Leser darauf vorbereitet, lange, bevor es mit der Mauer zu Ende ging. Wer zu Zeiten des geteilten Deutschlands die WELT las, der wurde ständig daran erinnert, dass ca. 17 Millionen Deutschen das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung vorenthalten wurde; er wurde regelmäßig darauf aufmerksam gemacht, dass die Teilung unseres Landes mitnichten als Normalität begriffen werden durfte.

Geradezu unerhört scharfsinnig schrieb von Loewenstern am 6. September 1989: „Es lohnt einfach nicht mehr, immer noch ein paar Tage länger die Augen zu schließen, bis der Tag X da ist, und dann fassungslos zu sagen: Wer hätte das gedacht.“ Vorausahnend wie sonst niemand schloss er seinen Leitartikel „Von Leipzig bis Budapest“ mit folgenden Worten: „Der Punkt ist nicht, ob die Wiedervereinigung morgen oder übermorgen kommt, sondern daß sie kommt, und zwar sehr bald. Und daß wir vorausblickend und helfend dazu beitragen müssen, statt zur Stabilisierung einer untergehenden Diktatur.

Herz statt Haltung

Was die bewegenden Bilder aus Deutschland im November 1989 betrifft: Auch mir fällt kein vergleichbares Ereignis in der Geschichte ein, welches von einer so tiefen Menschlichkeit geprägt war und von so echter Freude zeugte, noch dazu einer Freude, welche gegen niemanden gerichtet war. Eine Freude, an der jeder teilnehmen durfte, egal ob er Deutscher war oder nicht. Es sind und bleiben gerade deshalb so ergreifende Bilder, weil sie von niemandem gelenkt oder befohlen wurden. Das Volk zeigte ganz einfach Herz statt „Haltung“; dies bescheinigte uns Deutschen damals nicht nur die WELT, sondern gleich die ganze Welt, buchstäblich von Hamburg bis Hawaii.

Warum wird das so selten betont, geschweige denn lobend erwähnt? Darauf gibt es eigentlich nur eine Antwort: Weil die Mehrheit der politisch-medialen Klasse der alten Bundesrepublik, die auch als „Sonntagsredner“ schon mal lässig mit Händen in den Hosentaschen gegen das Wiedervereinigungsgebot der Präambel des Grundgesetzes wetterte, sich so fundamental geirrt hatte in Sachen Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen. Von diesem Irrtum erfasst wurden Ende der 1980er Jahre selbst Teile der Union; es war Kanzler Kohl, der diesem Ansinnen ein Ende setzte. Aber er versäumte es nach der Wiedervereinigung, in Sachen Deutscher Einheit auch die geistige Führerschaft in Partei und Regierung zu beanspruchen. Das hatte Konsequenzen.

Gewiß, die Union hat es fertiggebracht“, so von Loewenstern am 2. Oktober 1991, „viel Verbitterung im Osten anzuhäufen, die sachlich kaum gerechtfertigt ist. Aber was ist neu daran? Hat die Union das nicht auch immer wieder im Westen geschafft? Und natürlich denkt die politische Klasse nur an die Täter, redet tagaus, tagein nur von ihnen und so gut wie nie von den Opfern – die sollen sich nicht so haben, verstanden? […] Kurz, unsere politische Klasse […] wird sich noch lange mit der Einheit schwer tun. Die Normalbürger aber, West wie Ost, tun sich nicht schwer.

Dafür, dass die Einheitsgegner lange versucht haben, die Wiedervereinigung in ein schiefes Licht zu rücken und ehemaligen SED-Oberen entgegenzukommen, die wiederum ins gleiche Horn bliesen, können die Normalbürger in der Tat nichts. Sie waren es nicht, die SED-Chef Erich Honecker die Möglichkeit gaben, sich ohne Verurteilung seiner Taten aus dem Staub zu machen. Sie haben es nicht zu verantworten, dass Erich Mielke nicht für die Verbrechen und Morde seines Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), sondern für zwei Polizistenmorde in der Weimarer Republik belangt wurde. Die Normalbürger haben es auch nicht zu verantworten, dass Markus Wolf nicht verurteilt wurde, obwohl der lange Arm der von ihm geleiteten „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA) auch im Westen Leben und Existenzen vernichtet hatte.

Alberne Teilung

Die Normalbürger waren es ebensowenig, welche aus Mauermördern verharmlosend „Mauerschützen“ machten, die in den seltensten Fällen für ihr Tun zur Verantwortung gezogen wurden. Und so weiter. Die Liste dieses Versagens ist schier endlos. Hier wurden in der Tat neue Mauern hochgezogen, aber von jenen, die im Westen lange „gute Beziehungen“ zu den Tätern der SED-Diktatur pflegten und von ihrem Zusammenbruch kalt überrascht wurden.

Es ist deshalb unredlich, die Metapher von den „Mauern in den Köpfen“ jenen anzudichten, die sie nicht errichtet haben: die Normalbürger. Diese sollten sich allerdings auch nicht den Schuh anziehen, den ihnen wiederum jene hinstellen, die in Wahrheit versagt haben und die ihr Versagen dem angeblich so vorurteilsbehafteten Volk in die Schuhe zu schieben versuchen, um es dafür wiederum schelten zu können.

Überdies wirkt es albern, so zu tun, als ließe sich die deutsche Bevölkerung dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung weiterhin fein säuberlich in Ossis und Wessis aufteilen, als gäbe es da nicht inzwischen längst unzählige Kollegen und Vorgesetzte, Bekannt-, und Freundschaften, Ehen und Familien über die einst fast unüberwindbare innerdeutsche Grenze hinweg. Die tiefen landschaftlichen Wunden und Narben, die diese menschenverachtende Grenze zog, sind kaum noch sichtbar, meist nur zu ahnen. Was noch nicht verheilen konnte, sind die seelischen Narben, die den Opfern der SED-Diktatur zugefügt wurden.

Für die Jüngeren, die die Teilung Deutschlands nicht mehr bewusst miterlebt haben, spielt heute die Frage nach der Herkunft aus Deutschland Ost oder West in aller Regel keine Rolle mehr. Eine deutlich jüngere Freundin meinte neulich zu mir, dass sie sich das geteilte Deutschland auch gar nicht richtig vorstellen könne. Sie selbst hat – wie inzwischen nicht wenige ihrer Altersgenossen auch – einen Teil ihres Lebens sowohl im Westen wie im Osten des Landes verbracht. Für sie ist das ungeteilte Deutschland schlicht Normalität. Aber sie sagte mir auch, hätte sie die bewegenden Tage nach der Öffnung der Mauer bewusst miterlebt, hätte dieses Erlebnis sie „ganz bestimmt“ genauso tief berührt wie mich und wie die übergroße Mehrheit der Deutschen.

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Gerhard Rachor / 09.11.2020

Ich habe nach Einführung der DM Mark als Wessi im Juli 1990 erlebt, wie ein Wessi einem Leipziger sein Auto geliehen hat, um in Regensburg Verwandte zu besuchen. Der Leipziger war ein Kunde, den er kaum kannte. Ja der Zusammenhalt war da ohne wenn und aber. Allerdings die Mauer in den Köpfen begann schon 1990 im Einigungsvertrag des Herr Schäuble. Warum wurde die SED/PDS nicht verboten und deren Vermögen beschlagnahmt! Heute leiden wir unter diesem grundlegenden Fehler!

Klaus Klinner / 09.11.2020

Danke für den Beitrag. Ich gehöre zu den Ost-Bürgern, die im Spätsommer und Herbst 1989 bis zum 9. Oktober in Leipzig an der Nikolai-Kirche und auf den Leipziger Straßen waren, zu der Zeit, als niemand wusste ob geschossen wird und wie das Ganze für uns unter Lebensgefahr ausgehen wird. Der 9. Oktober war der Tag der Entscheidung. Was danach kam, war das übliche Pillepalle derer, die sich an gesellschaftlichen Umwälzungen gefahrlos als Leichenfledderer betätigen.  Von den - ich nenne es bewußt - Aktivisten, die damals mit in den ersten Reihen standen und zu denen ich teils noch Kontakt halte, ist später fast NIEMAND “etwas geworden”. In der schönen neuen Welt haben sich fast ausschließlich die Opportunisten durchgesetzt, die zu Hause saßen und tapfer im Fernsehen verfolgten, wie wir für alle Anderen, immerhin rund 16 Millionen, im wahrsten Sinne des Wortes unsere Köpfe hinhielten. Es war erstaunlich, wie schnell dann die “Aufbauhelfer” aus den gebrauchten Bundesländern vor Ort waren und uns Unbequeme aus den Schlüsselpositionen, die wir mit Zusammenbruch der “Staatsmacht” mangels anderer Strukturen provisorisch besetzt hatten, heraus drängten. Menschen, die nicht im Joch liefen, die eigene Gedanken entwickelten, die widersetzlich waren, wollte man auch und gerade in der “neuen Zeit” nicht haben. Liebe Frau Drewes, ich vermute, Sie waren damals zu jung, so überhaupt schon geboren(?), um sich aktiv einbringen zu können, um so mehr danke ich Ihnen, dass Sie versuchen die Erinnerung wach zu halten. Wir Aktiven von damals sind heute meist zu alt, um noch zu kämpfen, zumindest sind wir Grauhaarigen müde geworden. Und wenn wir sehen, was aus unseren Idealen geworden ist, nun ja ... Viele von uns, ich gehöre nicht dazu, sonst würde ich hier nicht kommentieren, sorgen sich heute mehr um Corona, die eigene Gesundheit und den Stuhlgang, als um gesellschaftliche Prozesse. Die Verantwortung für das, was kommen wird, liegt jetzt bei ihren Generationen.

K Bucher / 09.11.2020

Die Bürger aber sollten sich das nicht bieten lassen+++Pardon aber die lassen sich das sehr wohl bieten zumindest eine Große Mehrheit wenn man die Letzten Wahlergebnisse betrachtet .Und auch betrachtet das es mühelos akzeptiert wurde das in einer Angeblichen Demokratie vom Ausland heraus durch ein Telefon Gespräch eine Wahl rückgängig gemacht , beziehungsweise berichtigt wurde . Und auch in der Zukunft sehe ich schwarz und zwar tiefstes Antifa und Islam schwarz .Erst kürzlich bei dem Angeblichen Wahlsieger in den USA war in Großen Teilen der Bevölkerung Volksfeststimmung ausgebrochen .ich habe schon lange nicht mehr eine dermaßen Große Anzahl von schon fast Schizophrenen Freuden Gesichter gesehen . Aber Das der Typ wenn überhaupt erst in 72 Tagen sein Amt OFFIZIELL antreten kann und bis dahin D.Trump immer noch amtierender Präsident ist haben diese pseudo Freuden Gesichter genauso ausgeblendet wie das es seit 2015 inzwischen schon wieder 52 ISLAM Attentate in Europa gab . (quelle: Jou watch Titel: Traurige Liste: Alle 52 islamistischen Terroranschläge in Europa seit 2015= Da helfen auch die Üblich Verordneten Medienwirksamen Krokodilstränen Vieler nichts weil man ja wie zuvor geschehen, sowieso im alten Trott weitermacht .

Claudius Pappe / 09.11.2020

Aber die Menschen sind, es die die SED und andere Kommunisten wählen.

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