Sabine Drewes, Gastautorin / 09.11.2020 / 10:00 / Foto: Pixabay / 34 / Seite ausdrucken

Die „Mauer in den Köpfen“? In wessen Köpfen?

Alle Jahre wieder hören wir die beliebte Floskel von der „Mauer in den Köpfen“, gerne vorgetragen von Leuten mit tiefernsten Gesichtern und erhobenen Zeigefingern. Vermutlich wird diese Mauer auch heute wieder beklagt werden, pünktlich zum Jahrestag des „Mauerfalls“ (der eine eher blumige Umschreibung für den totalen Zusammenbruch eines menschenverachtenden Systems ist). Die Bürger aber sollten sich das nicht bieten lassen, weil die geschichtlichen Fakten solcherlei Unterstellung nicht hergeben. Ich frage mich immer, wo eigentlich waren diese Leute 1989/90? In Deutschland konnten sie nicht gewesen sein.

Dafür kann ich mich zu gut daran erinnern, was in den Tagen und Nächten nach dem 9. November 1989 geschah: an der geöffneten Berliner Mauer, an den innerdeutschen Grenzübergängen und in den grenznahen Städten im Westen. Von einer Mauer in den Köpfen war da weit und breit nichts zu spüren, geschweige denn zu sehen. Ganz im Gegenteil. Man hat den Eindruck, genau darüber soll ein Mantel des Vergessens gebreitet werden. Denn dass die Deutschen ganz spontan und ohne jede Verordnung von oben, ungezwungen eben, mehr als nur ein „freundliches Gesicht“ zeigten, dies passt nicht in das Weltbild gewisser Leute. Deshalb hier und heute eine Erinnerung und eine Gegenrede.

Die Mauer in den Köpfen – das gilt nur für gewisse Leute überschrieb ein Journalist zum ersten Jahrestag der Deutschen Einheit seinen Kommentar in einer überregionalen deutschen Tageszeitung. Im Untertitel stand vielsagend: „Von der Vernünftigkeit der Bürger und dem Geschnatter im Wolkenkuckucksheim darüber“. Der Autor meinte, es sei Mode zu sagen: „Wir haben die innere Einheit noch nicht geschafft (wer ganz geschickt sein will, fügt hinzu: Wer weiß, ob wir sie überhaupt jemals schaffen werden!); wir haben noch die Mauer in den Köpfen.

Kein Zweifel“, bemerkte jener Redakteur am 2. Oktober 1991 auf der Meinungsseite, „es gibt eine Mauer in den Köpfen. Sie steht aber nicht in den Köpfen der Normalbürger, sondern in denen ihrer politischen Klasse – in den Köpfen jener Politiker, Publizisten, 'Intellektuellen' und sonstigen Geistesmachthaber, die den Untergang des Sozialismus noch nicht verkraftet haben. Dazu zählen auch bürgerliche Kreise, die den Geßlerhut grüßen lernten und das Ende dieser 'unumschränkten Macht' nicht für möglich hielten.

Er beließ es allerdings nicht bei dieser Feststellung, sondern holte dankenswerterweise weiter aus: „Den Normalbürgern ist solche Geistesverwirrung fremd. Man hatte ihnen ja lange genug nachgesagt, daß sie auch allesamt gegen die Wiedervereinigung seien, daß 'niemand sie wirklich will, auch niemand in der Bundesrepublik', daß sie nur 'Stoff für Sonntagsreden' sei. Aber als die Mauer zusammenbrach, sah man, daß die Deutschen-West ihren endlich befreiten Mitbürgern mit ausgestreckten Händen entgegengingen. Da war keine Arroganz und erst recht kein Neid zu spüren.

Die Bürger trieben die Politik

Stimmt nicht, meinen Sie? Es wurde doch Neid und Missgunst geschürt, kaum dass die Mauer eingestürzt war? Ja, aber eben nicht vonseiten der Normalbürger, sondern vonseiten einer politisch-medialen Klasse, die sich auf falschem Fuß erwischt fühlten musste und dies – menschlich verständlich – arrogant zu kaschieren suchte. Das verstand sogar der Autor, den ich hier zitiere; er nannte es auf diplomatischere Weise „psychologisch nachfühlbar, daß Menschen, die einem so ungeheuerlichen Irrtum erlagen, dies nicht verkraften und so tun, als sei ja doch irgendwie das nicht so recht zustande gekommen, was unverschämterweise gegen ihre ausdrückliche Festlegung zustande kam“.

Nichtsdestotrotz war ihm wichtig, auf das hinzuweisen, was jeder sehen konnte, der Augen im Kopf hatte, was aber das einseitig negative Selbstbild torpedierte, welches die Deutschen gefälligst jederzeit von sich selbst vor Augen haben sollten:

Niemals zuvor hat sich ein Volk so dramatisch als selbstlos und hilfsbereit dargestellt wie hier, wo die Menschen spontan das ebenso Anständige wie politisch Richtige taten, obwohl keine politische Partei und keine geistige Führung sie darauf vorbereitet hatte – die Bürger waren es, die die Politiker trieben, nicht umgekehrt.“

Ein ebenso bemerkenswerter wie wichtiger und richtiger Satz. Und doch ist er unvollständig, aber das sei dem Autor, Enno von Loewenstern, posthum verziehen. Denn er und die Zeitung, in der er publizierte, die hatten beide ihre Leser darauf vorbereitet, lange, bevor es mit der Mauer zu Ende ging. Wer zu Zeiten des geteilten Deutschlands die WELT las, der wurde ständig daran erinnert, dass ca. 17 Millionen Deutschen das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung vorenthalten wurde; er wurde regelmäßig darauf aufmerksam gemacht, dass die Teilung unseres Landes mitnichten als Normalität begriffen werden durfte.

Geradezu unerhört scharfsinnig schrieb von Loewenstern am 6. September 1989: „Es lohnt einfach nicht mehr, immer noch ein paar Tage länger die Augen zu schließen, bis der Tag X da ist, und dann fassungslos zu sagen: Wer hätte das gedacht.“ Vorausahnend wie sonst niemand schloss er seinen Leitartikel „Von Leipzig bis Budapest“ mit folgenden Worten: „Der Punkt ist nicht, ob die Wiedervereinigung morgen oder übermorgen kommt, sondern daß sie kommt, und zwar sehr bald. Und daß wir vorausblickend und helfend dazu beitragen müssen, statt zur Stabilisierung einer untergehenden Diktatur.

Herz statt Haltung

Was die bewegenden Bilder aus Deutschland im November 1989 betrifft: Auch mir fällt kein vergleichbares Ereignis in der Geschichte ein, welches von einer so tiefen Menschlichkeit geprägt war und von so echter Freude zeugte, noch dazu einer Freude, welche gegen niemanden gerichtet war. Eine Freude, an der jeder teilnehmen durfte, egal ob er Deutscher war oder nicht. Es sind und bleiben gerade deshalb so ergreifende Bilder, weil sie von niemandem gelenkt oder befohlen wurden. Das Volk zeigte ganz einfach Herz statt „Haltung“; dies bescheinigte uns Deutschen damals nicht nur die WELT, sondern gleich die ganze Welt, buchstäblich von Hamburg bis Hawaii.

Warum wird das so selten betont, geschweige denn lobend erwähnt? Darauf gibt es eigentlich nur eine Antwort: Weil die Mehrheit der politisch-medialen Klasse der alten Bundesrepublik, die auch als „Sonntagsredner“ schon mal lässig mit Händen in den Hosentaschen gegen das Wiedervereinigungsgebot der Präambel des Grundgesetzes wetterte, sich so fundamental geirrt hatte in Sachen Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen. Von diesem Irrtum erfasst wurden Ende der 1980er Jahre selbst Teile der Union; es war Kanzler Kohl, der diesem Ansinnen ein Ende setzte. Aber er versäumte es nach der Wiedervereinigung, in Sachen Deutscher Einheit auch die geistige Führerschaft in Partei und Regierung zu beanspruchen. Das hatte Konsequenzen.

Gewiß, die Union hat es fertiggebracht“, so von Loewenstern am 2. Oktober 1991, „viel Verbitterung im Osten anzuhäufen, die sachlich kaum gerechtfertigt ist. Aber was ist neu daran? Hat die Union das nicht auch immer wieder im Westen geschafft? Und natürlich denkt die politische Klasse nur an die Täter, redet tagaus, tagein nur von ihnen und so gut wie nie von den Opfern – die sollen sich nicht so haben, verstanden? […] Kurz, unsere politische Klasse […] wird sich noch lange mit der Einheit schwer tun. Die Normalbürger aber, West wie Ost, tun sich nicht schwer.

Dafür, dass die Einheitsgegner lange versucht haben, die Wiedervereinigung in ein schiefes Licht zu rücken und ehemaligen SED-Oberen entgegenzukommen, die wiederum ins gleiche Horn bliesen, können die Normalbürger in der Tat nichts. Sie waren es nicht, die SED-Chef Erich Honecker die Möglichkeit gaben, sich ohne Verurteilung seiner Taten aus dem Staub zu machen. Sie haben es nicht zu verantworten, dass Erich Mielke nicht für die Verbrechen und Morde seines Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), sondern für zwei Polizistenmorde in der Weimarer Republik belangt wurde. Die Normalbürger haben es auch nicht zu verantworten, dass Markus Wolf nicht verurteilt wurde, obwohl der lange Arm der von ihm geleiteten „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA) auch im Westen Leben und Existenzen vernichtet hatte.

Alberne Teilung

Die Normalbürger waren es ebensowenig, welche aus Mauermördern verharmlosend „Mauerschützen“ machten, die in den seltensten Fällen für ihr Tun zur Verantwortung gezogen wurden. Und so weiter. Die Liste dieses Versagens ist schier endlos. Hier wurden in der Tat neue Mauern hochgezogen, aber von jenen, die im Westen lange „gute Beziehungen“ zu den Tätern der SED-Diktatur pflegten und von ihrem Zusammenbruch kalt überrascht wurden.

Es ist deshalb unredlich, die Metapher von den „Mauern in den Köpfen“ jenen anzudichten, die sie nicht errichtet haben: die Normalbürger. Diese sollten sich allerdings auch nicht den Schuh anziehen, den ihnen wiederum jene hinstellen, die in Wahrheit versagt haben und die ihr Versagen dem angeblich so vorurteilsbehafteten Volk in die Schuhe zu schieben versuchen, um es dafür wiederum schelten zu können.

Überdies wirkt es albern, so zu tun, als ließe sich die deutsche Bevölkerung dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung weiterhin fein säuberlich in Ossis und Wessis aufteilen, als gäbe es da nicht inzwischen längst unzählige Kollegen und Vorgesetzte, Bekannt-, und Freundschaften, Ehen und Familien über die einst fast unüberwindbare innerdeutsche Grenze hinweg. Die tiefen landschaftlichen Wunden und Narben, die diese menschenverachtende Grenze zog, sind kaum noch sichtbar, meist nur zu ahnen. Was noch nicht verheilen konnte, sind die seelischen Narben, die den Opfern der SED-Diktatur zugefügt wurden.

Für die Jüngeren, die die Teilung Deutschlands nicht mehr bewusst miterlebt haben, spielt heute die Frage nach der Herkunft aus Deutschland Ost oder West in aller Regel keine Rolle mehr. Eine deutlich jüngere Freundin meinte neulich zu mir, dass sie sich das geteilte Deutschland auch gar nicht richtig vorstellen könne. Sie selbst hat – wie inzwischen nicht wenige ihrer Altersgenossen auch – einen Teil ihres Lebens sowohl im Westen wie im Osten des Landes verbracht. Für sie ist das ungeteilte Deutschland schlicht Normalität. Aber sie sagte mir auch, hätte sie die bewegenden Tage nach der Öffnung der Mauer bewusst miterlebt, hätte dieses Erlebnis sie „ganz bestimmt“ genauso tief berührt wie mich und wie die übergroße Mehrheit der Deutschen.

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Ilona Grimm / 09.11.2020

@Volker Kleinophorst: Wie wir die Wiedervereinigung geschafft haben, war die Frage. Sorry, ich hab mich blöd ausgedrückt. Ich weiß aber nicht, warum den Mann gerade die Wiedervereinigung so interessiert hat. Vielleicht wollte er im Auftrag aller Uiguren die Möglichkeit einer Vereinigung mit der Türkei sondieren.—- 1990 war außer meinem Mann und mir in Turfan kein einziger Europäer (“Kaukasier”) zu sehen, in Urumqi auch nicht. Deshalb fand ich es schon extrem beeindruckend, dass der Mann auf dem Markt über die deutsche Wiedervereinigung Bescheid wusste.

Mathias Rudek / 09.11.2020

Danke Frau Dewes für diesen klaren, unprätentiösen und wichtigen Artikel. Ich kann mich noch so klar an den 9. November 1989 erinnern, die Frage stellt sich für mich kaum. Ich war mittendrin in Westberlin als Student und ich wohnte auch in Tuchfühlung zur Berliner Mauer in der Ecke Maibachufer/Sonnenallee. Für mich war das ein grandioses Ereignis, ich fand es großartig wieder in einem vereinten Deutschland zu leben. Sie haben das sehr richtig beschrieben, daß die sogenannte “Mauer in den Köpfen” in erster Linie bei den zu verorten war und ist, die in ihrer politischen Blase realitätsfern den Alltag der Menschen zu beschreiben suchten. Linke Politiker, Publizisten und Linksintellektuelle sollten nun endlich begreifen, daß ihr marodes Gesellschaftsmodell als große kapitalistische Alternative nicht mehr zu gebrauchen war. Die große Antithese kam nun auf’s Abstellgleis. Aus heutiger Sicht sehe ich es so wie sie, die geistige Führerschaft hätte unter dem damaligen Bundeskanzler Kohl nicht abgegeben werden dürfen. Die Zugeständnisse an die politischen Führer und alten SED-Kader waren damals ein elementarer Fehler. So schafften sie es u. a. auch über die Treuhand (Detlev Rohwedder roch damals den Braten und wurde deshalb liquidiert.) als Instrument Millionen für die noch hochaktiven Stasi-SED-Seilschaften zu bunkern und wichtige Positionen in Landes- und Bundesbehörden zu besetzen, von dubiosen Nichtregierungsorganisationen wie der Amadeo-Antonio-Stiftung der ideologisch bornierten Anetta Kahane mal ganz abgesehen. Die Mauer im Kopf ist genau in diesen Figuren zu verorten und sie kumuliert im Cerebrum bei einem unserer West-Polit-Protagonisten und das ist unser Bundespräsident, nur gemerkt hat er es noch nicht.

Thomas Taterka / 09.11.2020

Wie viele Menschen, die im Westen geboren und relativ sorglos und unbehelligt leben konnten ( ich komme aus einer armen Familie, sowas gab’s im Westen auch : New York war so weit weg wie der Mond ) , war ich vor 30 Jahren auch erleichtert und voller Begeisterung und Hoffnung, daß sich die Wiedervereinigung schon irgendwie einrenken würde, durch geteilten Wohlstand und gemeinsam revidiertes Pathos und geübtes kritisches Denken. - Heute allerdings bin ich zu dem Schluß gekommen, daß es der zweite Kardinalfehler der Bundesrepublik war, erneut die zahlreichen Mitwirkenden einer üblen Diktatur ungestraft davonkommen zu lassen für den faulen Burgfrieden , dessen Folgen man heute von der Spitze des Landes bis in die Redaktion jedes Käseblattes wahrnehmen kann. Je mehr ich über die Schikanen, Menschenrechtsverletzungen und Morde in der DDR weiß und die Aktivitäten der Propaganda, Bespitzelung und Beeinflussung durch Agenten im alten Westen, desto deutlicher wird mir bewußt, wie naiv die Hoffnung auf eine friedliche Wiedervereinigung doch war und letztendlich doch ein Gemeinschaftsprodukt einer rätselhaften Zusammenarbeit von DDR und BRD. Eine echte ” Finte “. Das macht mir das Land zunehmend UNHEIMLICH. Genau genommen wäre ich am liebsten schon lange nicht mehr hier, weil es entsetzlich wäre, würde ich mit meinem Verdacht recht behalten nach genauester Prüfung. Man lebte in diesem Land mit der stärker werdenden Gewissheit, daß hier die Bevölkerung in ihrem Bemühen jahrzehntelang in die Irre geführt worden wäre : ein unglaublicher Vertrauensbruch einer demokratischen Gesellschaft gegenüber ihren Bürgern. Den Tip ,der Sache in dieser Weise auf den Grund zu gehen, habe ich übrigens auf einer Amerikareise bekommen zusammen mit einer Einladung zur Einwanderung, die ich nicht beherzigt habe, weil ich gezweifelt habe an der Seriösität der Diagnose, nicht an der Person. Zum Dank habe ich eine Flagge als Geschenk erhalten, ” die ich ja zu Hause verbrennen könne “.

Jochen Brühl / 09.11.2020

Von den Haltungsjournalisten, Stiftungen, NGOs und der Politkaste, die mit den Architekten der Mauer in Deutschland zusammenarbeiten, sie in Regierungsämter und auf Verfassungsgerichtsrichterstellen hieven, brauchen wir uns keine Mauer in den Köpfen einreden lassen. Ich lebe als Wessi gut und gerne in Dunkeldeutschland. Ich erkenne auch, dass es sich bei den “Ossis” um die scheinbar aufgeweckteren Demokraten handelt. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie sich das selbst erkämpft hatten, was dann naturgemäß einen größeren Wert für sie hat.

Hjalmar Kreutzer / 09.11.2020

Auf der Rückfahrt von einer Tagung in Niedersachsen durch Sachsen-Anhalt kam mir die Idee, die ehemaligen Grenzorte der DDR, die ich während meiner Armeezeit 1976 bis 19179 kennenlernen „durfte“ und die gegenüber liegenden in Niedersachsen zu besuchen, die ich in der Zeit nur durchs Fernglas sehen durfte. Als Gedenkstätte stand noch ein einzelner Beobachtungsturm, auf dem ich als junger Mensch mit 20 Jahren selbst gesessen hatte. So lange das nicht in Ostalgie ausartet, ist auch alles in Ordnung. Ansonsten links, rechts überall Straßen , Alleen und Rübenacker; die ganzen Anlagen, Signalzaun, Postenwege, Hundeanlagen, Sperrelemente, Zäune mit Splitterminen, den sog. „Selbstschussanlagen“, der ganze Sch…dr… zum Glück spurlos verschwunden. Es ist immer noch keine Selbstverständlichkeit, mal eben durch Berlin oder nach Schleswig-Holstein, Bayern oder Dänemark zu fahren. Dazu musste ein ganzer Staat untergehen, der seine Bürger als Eigentum und Verfügungsmasse betrachtete. Derzeit muss man es wieder als Gnade ansehen, überhaupt und nur mit triftigem Grund die Wohnung verlassen zu dürfen. Müssen wir uns das mit unserer Vorgeschichte bieten lassen?

Petra Wilhelmi / 09.11.2020

Frau Dewes, nicht nur von den Politikern wurde Neid und Missgunst geschürt. Als die Ossis dann Arbeitsplatzkonkurrenten wurden, war die Freude schnell vorbei. Je weiter man nach Süden kam, um so weniger wurde sich wahrscheinlich gefreut. Als wir nach RLP zogen, wurde unserem Wohnungsvermieter, kleines Zweifamilienhaus, kleine Straße, von den Bewohnern die Straße, die sich alle kannten ans Herz gelegt, nicht an Ostdeutsche zu vermieten, obwohl die uns überhaupt nicht kannten. Der Vermieter hat sich Gottseidank nicht davon beirren lassen. Nach einer Weile wurden wir dann von den anderen Bewohnern der Straße als Menschen anerkannt. Bei Bewerbungen habe ich angefangen beim Lebenslauf zu schummeln, weil er mir immer auf die Beine gefallen ist. Viele sagten auch, dass sie Ostdeutsche ihren Kunden nicht zumuten können und das einen ins Gesicht, obwohl ich in meinem Job auch nicht schlechter war als Westdeutsche und im Gegenteil mehr Allgemeinwissen hatte, was ich anwenden konnte, sogar komischer Weise mehr PC-Kenntnisse mit nur 1 Computerkurs. Eine Kollegin von mir in Mannheim, die war aus Halle, hat ihre Sprache extra geändert, dass niemand mehr hören konnte, woher sie kam. In dieser Bank arbeiteten mehrere Ostdeutsche, die aber niemals wirklich anerkannt worden sind. Zur Kur in Bayern habe ich Ähnliches gehört, da erzählte mir eine Physiotherapeutin aus dem Osten, dass manche Wessis die Behandlung durch einen Ossi ablehnten. Mein Mann als Ingenieur konnte das gleiche erzählen, obwohl er in der DDR Patente mit einer Ingenieursgruppe anmelden konnte und er Nationalpreisträger in Wissenschaft und Technik wurde. Ich habe nach unserem Zurückzug in die Heimat als Rentner von vielen Ehemaligen das gleiche gehört. Und als dazu noch der Soli kam. Naja, mehr muss ich wohl nicht erzählen. Ich musste (und nicht nur ich) jeden immer klar machen, dass die Ossis den Soli auch bezahlen müssen. Die meisten wussten das nicht. Aber es gab auch sehr nette Kollegen!

RMPetersen / 09.11.2020

Als Westdeutscher war ich sehr, sehr glücklich, dass die DDR-Bürger es geschafft hatten, die Mauer einzureissen und dann zur Einheit drängten. (Und ich war froh, dass es ein historisches “Fenster” für die Wiedervereinigung gab.) Ich hatte Johnson u.a. gelesen und sah, wie Brandt, “dass zusammenwächst, was zusammen gehört”. In den Jahren seither entdeckte ich, dass viele Kollegen meine Begeisterung für die Wiedervereinigung nicht teilten, es waren durchweg Wähler der Grünen und SPD (- später auch der SED/PDS/Linken). In diesem Milieu wurden TAZ, SZ (- vorher FR) und ZEIT gelesen; mir selbst war das 1988 in der ZEIT erschienene Loblied auf die DDR und Honecker zwar merkwürdig vorgekommen, aber damals gab es dort noch ein breiteres Meinungsspektrum. Die damaligen Wähler von Grünen und SPD - allesamt mit Uni-Abschluss und Tätigkeiten im oder nahe dem Öff. Dienst - hatten sich nicht nur mit der Doppel-Staatlichkeit arrangiert, sondern hielten die DDR für den besseren Deutschen Staat, ohne Nazi-Nachfolge, ohne Bindung an eine vom US-Imperialismus gelenkte NATO, ohne Arbeitslose etc. Niemand von diesen “Intellektuellen” hätte in der DDR leben wollen, man schätzt(e) zu sehr die weltweiten Reisen, das Ferienhaus in Schweden oder Südfrankreich, den Wohlstand. Den DDR-Bürgern vom Herbst 1989 nahmen meine Freunde und Kollegen, die westlichen Salon-GrünLinken, jedoch übel, dass sie ihrem sozialistischen Ideal eine Abfuhr erteilten. Das hat sich bis heute nicht geändert. Aus den DDR-Oppositionellen, die von den Sozialismus-Versprechungen genug hatten, wurden in den Augen meiner linksutopistischen Wessis zunächst undankbare Jammer-Ossis; nach dem Erstarken des Widerstandes gegen die zur DDR-Nostalgikerin, Weltverbesserin und Islamophilen Angela Merkel wurde aus den eingemeindeten “Neuen Länder” das Rechte Dunkeldeutschland. “Meine” Wessis haben sich vor 1989 für die DDR und ihre Menschen nicht interessiert und blieben bis heute geistig in Bonn.

Rolf Lindner / 09.11.2020

Mauern in den Köpfen und in der Realität hat es schon immer gegeben und wird es geben, so lange es Machtstrukturen gibt. Der Rausch von 1989/1990, der die Wende so wie von der Autorin beschrieben aussehen ließ, war schnell verflogen, und es waren nicht nur Politiker, die die neuen Mauer, die in den Köpfen errichteten. Dazu gehörten auch die in Wirtschaft und Wissenschaft, die sich das Brauchbare aus dem Schutthaufen DDR herausangelten und in arroganter Weise die belehrten, die nicht das notwendige Kapital und die dafür notwendigen guten Beziehungen haben konnten. Man braucht sich nur den Bundestag anschauen, wenn z.B. ein Abgeordneter der AfD der Regierung und den meisten Mitgliedern des Bundestages ihnen ihr Versagen, ihre Unfähigkeit und Verlogenheit um die Ohren haut, dann weiß man, wo die Mauer in den Köpfen verläuft. Ich habe einige Ossi- und Wessihasser erlebt. Mit fällt dabei auf, dass die alle irgendwie dem rotgrünen Bereich des politischen Farbspektrums angehören.

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